Rückblick auf Wahl in Frankreich: Muslime und Juden, Melenchon und Macron

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Emmanuel Macron verdankt seinen klaren Sieg in der Stichwahl gegen Marine Le Pen auch dem massiven Zustrom von muslimischen Wählern. Im ersten Wahlgang hatten die meisten Muslime für den Linkstribun Jean-Luc Melenchon gestimmt. Dieser verlor kein Wort über die Gefahr des radikalen Islamismus und erging sich in hirnrissigen Verschwörungstheorien bezüglich der dschihadistischen Anschläge. Den rechtsradikalen Kandidaten Eric Zemmour ortete er als Träger „vieler Traditionen des Judentums“ – obwohl alle jüdischen Gemeindesprecher Zemmour schärfstens verurteilt hatten.   

Von Danny Leder, Paris

Emmanuel Macron hat es also noch einmal geschafft. Seinen klaren Sieg in der Stichwahl mit 58,6 Prozent der abgegebenen Stimmen über die Nationalpopulistin Marine Le Pen verdankt der Zentrumspolitiker allerdings keiner spürbaren Welle der Begeisterung für seine Bilanz oder seine künftigen Vorhaben. Im Gegenteil: die meisten seiner erst im zweiten Durchgang ergatterten zusätzlichen Wähler entschieden sich für Macron eher widerwillig. Und zwar nur, weil er auch aus ihrer Sicht schlussendlich das geringere Übel darstellte angesichts der Gefahr eines Machtantritts von Marine Le Pen. Noch im ersten Wahlgang zwei Wochen zuvor hatten diese Zusatzwähler Macrons für andere Kandidaten und vornehmlich für den Linkstribun Jean-Luc Melenchon gestimmt. 

In diesem zusätzlichen und rettenden Wählerstrom für Macron fielen AUCH die Stimmen der Französinnen und Franzosen aus muslimischen Familien ins Gewicht. Laut einer Erhebung des Meinungsforschungs-Instituts IFOP (für die liberale katholische Tageszeitung „La Croix“) gaben 85 Prozent der Wähler, die sich als Muslime definierten, ihre Stimme für Macron ab (zum Vergleich: bei den Wählern, die sich als Katholiken bezeichneten, stimmten 55 Prozent für Macron).

Der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung Frankreichs wird auf acht Prozent geschätzt. In urbanen Gebieten und unter den jüngeren Generationen ist dieser Prozentsatz aber um einiges höher (eine amtliche Konfessionserhebung ist in Frankreich untersagt). 

Als primäres Wahl-Motiv der Muslime firmierte ebenfalls die Verhinderung eines Siegs von Marine Le Pen. Die Nationalistin hatte mit der Ankündigung eines Verbots des Hidschabs im gesamten öffentlichen Raum das Abwehrvotum der Muslime zweifellos angeheizt.

Macron hatte seinerseits eine heikle aber grundsätzlich richtige Gratwanderung vollzogen zwischen den nötigen Maßnahmen gegen den radikalen Islamismus und der Parteinahme gegen die anti-muslimischen Vorstöße der rechtsrechten Kräfte.

Mit dem – zumindest vorläufigen – Erfolg dieses Kurses der Vernunft von Macron ist das Thema des Umgangs mit dem radikalen Islamismus aber bei weitem nicht vom Tisch. In Wirklichkeit schwelen diesbezüglich Missverständnisse, Ressentiments und Verdrängung mehr denn je unter vielen Muslimen aber auch Linkswählern, die nicht aus muslimischen Familien stammen.

Ein 2021 beschlossenes, so genanntes „Gesetz gegen den Separatismus“ (worunter radikale, religiös-politische Absetzbewegungen gegenüber der säkularen Republik verstanden werden) zielte darauf ab, bis dahin bestehende gesetzliche Lücken bei der Handhabe der Behörden gegenüber verfassungsfeindlicher Indoktrination in Gebetsstätten und konfessionellen Privatschulen zu füllen. Einige betont liberale muslimische Persönlichkeiten begrüßten dieses Gesetz. Während Menschenrechts-Organisationen und einige linke Politiker aber auch die katholische Kirchenführung mehr oder weniger deutliche Kritik an gewissen Passagen des neuen Gesetzes übten.

In breiteren muslimischen Kreisen wurde dieser gesetzliche Vorstoß als eine weitere pauschalierende Stigmatisierung empfunden und Macron übelgenommen – obwohl quasi zeitgleich der Geschichtsprofessor Samuel Paty in einer Kleinstadt westlich von Paris von einem tschetschenisch-stämmigen Dschihadisten geköpft worden war. Paty hatte in seiner Klasse an einem Unterstufengymnasium die ominösen Karikaturen über den islamischen Religionsgründer Mohammed gezeigt und zur Diskussion gestellt.

Muslimisches Massenvotum für Jean-Luc Melenchon

Im ersten Durchgang der jüngsten Präsidentenwahlen hatten laut Umfrage 69 Prozent der Wähler, die sich als Muslime bezeichneten, für den Linkstribun Jean-Luc Melenchon gestimmt (zum Vergleich: Generell kam Melenchon auf 22 Prozent aller abgegebenen Stimmen).

Selbstverständlich fielen bei dem Mehrheitsvotum der Menschen aus muslimischen Familien für Melenchon sozialpolitische Motive ins Gewicht: die Vororte und Sozialbau-Siedlungen, in denen stellenweise die Mehrheit der Bewohner Muslime sind, verzeichnen oft eine überdurchschnittliche Armuts- und Arbeitslosenrate. Wobei auch überdurchschnittlich viele Bewohner Niedrigverdiener sind, die sich häufig mit unregelmäßigen und prekären Anstellungsverhältnissen begnügen müssen. Die Versprechen von Melenchon, den Mindestlohn sowie diverse Stützen kräftig anzuheben und durch eine stärkere Besteuerung der Großverdiener und Konzerne zu finanzieren, haben ihre Wirkung auf die meisten muslimischen Familien in den Sozialbau-Siedlungen nicht verfehlt.

Melenchon konnte diesmal auch einen relevanten Teil der Niedrigverdiener und prekär Beschäftigten, die nicht aus muslimischen Familien stammen, im ersten Wahlgang für sich gewinnen. Allerdings verbuchte Marine Le Pen abermals den höchsten Anteil an Wählern aus den Reihen der Arbeiter und einkommensschwächeren Angestellten-Kategorien. Wobei die Wahlenthaltung und ungültige Stimmabgabe (insgesamt 28 Prozent im ersten und 34 Prozent im zweiten Wahlgang) unter Jungwählern, Niedrigverdienern und Arbeitslosen besonders hoch ausfiel.   

Für Melenchon stimmten vor allem die aktivsten und politisch gebildetesten Kerne der Gewerkschaften. Dieser Trend verstärkte sich erst recht, als sich gegen Schluss des Wahlkampfs in den Umfragen abzeichnete, dass Melenchon als einziger Linkskandidat Chancen hatte, in die Stichwahl zu gelangen (Mit seinen 22 Prozent verfehlte er dieses Ziel schließlich nur knapp, wenn man bedenkt, dass Marine Le Pen sich mit 23 Prozent, also einem einzigen Prozentpunkt mehr, für das Abschlussduell mit Macron qualifizierte).

Melenchon, der auch für einen konsequenten ökologischen Umbau sowie Tier-rechte eintrat, und als einziger relevanter Kandidat die AKW-Gläubigkeit in Frage stellte, konnte dank seiner besonders dynamischen Wahlkampagne auch eine Mehrheit der öko-sozial ausgerichteten Wähler aus den Bildungsschichten in fast allen urbanen Zentren für sich gewinnen – das waren oft die selben Wähler, die bei den landesweiten Kommunalwahlen 2020 in den meisten größeren Städten Frankreichs einen Erdrutschsieg der Grünen herbeigeführt hatten.

Vorläufige Schlüsselpersönlichkeit der französischen Linken

Dank dieser Erfolge ist Melenchon einstweilen zur Schlüsselpersönlichkeit der gesamten französischen Linken geworden. Fast alle übrigen Linksparteien, allen voran die Sozialisten (deren Kandidatin, die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo, nur auf 1,75 Prozent kam) und auch die Grünen (ihr Kandidat Yannick Jadot hielt bei 4,6 Prozent), verhandeln mit der Partei von Melenchon, um bei den bevorstehenden Parlamentswahlen im Juni eine Allianz zu bilden.

Es gibt zwar sowohl in der SPF als auch bei den Grünen Strömungen, die sich Melenchon wegen dessen skeptischen Kurs gegenüber der EU und seiner Ablehnung der Nato nicht anschließen, den geschweige unterordnen wollen. Aber das französische Wahlsystem zwingt förmlich zu Bündnissen, wenn eine Partei im Parlament vertreten sein möchte. Dabei erhebt Melenchon jetzt klarerweise den Führungsanspruch. In Interviews sieht er sich bereits als künftiger Premierminister, der nachträglich Staatspräsident Macron die Führung des Landes defacto entreißen könnte.

Um auf das Votum der meisten Muslime im ersten Wahlgang zurückzukommen, so zeigte sich bei allen Medien-Reportagen, dass die Wähler von Melenchon fast immer hervorhoben, dass er sich den Angriffen auf ihre Religion widersetzt habe. In manchen muslimischen Gebetsstätten hatten Imame, mehr oder weniger explizit, dazu aufgerufen, für Melenchon zu stimmen (und im zweiten Wahlgang für Macron), wie etwa die Zeitung „Le Monde“ konstatierte.      

Die Parteinahme für Melenchon von muslimischer Seite und mit Bezug auf die Stellung ihrer Religion reichte von begeistertem Zuspruch („Der einzige der unsere Würde verteidigt und sich gegen die Islamophobie wendet“) bis zu einer höchst ambivalenten Erklärung anonymer „muslimischer Bürger und Imame“, die im Internet zirkulierte, und die Melenchon mit der zweideutigen Formulierung unterstützte: „Er ist der am wenigsten schlimmste Kandidat“ – eine Einschränkung, die vermutlich auf die säkulare und linke Prägung der Bewegung von Melenchon anspielen sollte. Jedenfalls gab es im ersten Wahlgang in Sozialbau-Siedlungen, in denen seit Jahrzehnten eine Rekordenthaltung verzeichnet worden war, diesmal unglaublich lange Warteschlangen von Jung und Alt vor den Wahllokalen, die sich in hervorragenden Ergebnissen für Melenchon niederschlugen.

Zemmour und Le Pen trieben die Muslime zu den Urnen

Der sichtbarste Erreger dieser Gegenreaktion der Mehrheit der Muslime in den Wahlurnen war der rechtsradikale Quereinsteiger Eric Zemmour gewesen. Mehrere Jahre hindurch und vor allem 2021 hatte Zemmour mit andauernden, immer provokanteren Attacken auf den Islam und die Einwanderer aus Nord- und Schwarzafrika in der öffentlichen Diskussion in Frankreich den Ton angegeben.

Ursprünglich war Zemmour Journalist beim konservativen Blatt „Figaro“. Zusätzliche Prominenz erlangte er als Autor von nostalgisch-nationalistisch ausgerichteten Essay-Bänden, die zu Bestsellern wurden. Regelrechten Masseneinfluss errang er als Stargast einer Diskussionsrunde des TV-Senders „C-News“, die eine Zeit lang an vier Abenden pro Woche ausgestrahlt wurde. Der Besitzer dieses Senders, der bretonische Industrie-Magnat und

Medien-Tycoon Vincent Bolloré, der dem rechtskatholischen Lager nahesteht, wollte namentlich mit Zemmour dem berüchtigten US-Sender „Fox-News“ nacheifern.

Zemmour stilisierte den Islam als Ganzes, also ohne Unterscheidung zwischen traditioneller Religionsausübung und politisch-radikalen Islamismus, zur existenziellen Bedrohung für Frankreich. Darüber hinaus griff er tief in das fast schon vergessene Schließfach des historischen französischen Rechtsradikalismus und katholischen Nationalklerikalismus, um mit Behauptungen, die nicht einmal mehr im Umkreis von Marine Le Pen öffentlich akzeptiert werden, Aufsehen zu erregen: Frauen wären grundsätzlich für Führungsposten ungeeignet und würden die Nation „schwächen“. Man solle nur mehr Vornamen zulassen, die aus dem „christlichen Heiligenkalender“ stammen. Der Chef des französischen Kollaborationsregimes unter der deutschen Nazi-Besatzung, Phillipe Pétain, habe die Juden, die die französische Staatsbürgerschaft besaßen, „gerettet“ (Was alle seriösen Historiker längst widerlegt haben). Die Unschuld des jüdischen Artillerie-Hauptmanns Alfred Dreyfus (der auf Grund eines Komplotts antisemitischer Offiziere 1894 zu Unrecht wegen Spionage für Deutschland degradiert und verbannt wurde) sei „nicht erwiesen“. 

Durch diese Tabubrüche verlagerte Zemmour nicht nur den thematischen Schwerpunkt des Wahlkampfs bis Anfang 2022 weit nach rechts. Sondern er erlaubte es auch Marine Le Pen, die Zemmour auf seinem Wahnsinnstripp nicht folgte, in einem milderen, fast schon moderaten Licht zu erscheinen.

Marine Le Pen markierte auch eine gewisse Distanz gegenüber der monomanischen Fixierung von Zemmour auf den Islam. Sie präsentiert sich schon seit längerem als Verteidigerin der säkularen Republik, in der auch der islamische Glaube akzeptiert werde. Allerdings trat sie in diesem Wahlkampf für ein Verbot des islamischen Kopftuchs im gesamten öffentlichen Raum ein (Bisher ist das Tragen „auffälliger religiöser Symbole“, darunter des Hidschabs, in Frankreich an Schulen und im öffentlichen Dienst untersagt. Private Arbeitgeber können Arbeitnehmer, die im Kundenverkehr tätig sind, auffällige religiöse Kennzeichen verbieten).

Ursprünglich war Marine Le Pen für ein paralleles Verbot des Hidschabs und der Kippa im Straßenraum eingetreten. Wobei sie sich spezifisch an die jüdische Bevölkerung gewendet hatte, um ihr „dieses Opfer“ abzuverlangen, damit sie auch gegen die Verbreitung islamischer Symbole vorgehen könne. Zuletzt aber forderte sie nur mehr das Verbot des Hidschabs mit der Begründung, dieser sei kein religiöses Merkmal, sondern „eine Uniform des politischen Islamismus“.  

Zemmour, ein „jüdisches“ Feindbild?

Trotz seiner Bekenntnisse zu einer rechtskatholischen Staatsdoktrin und zu geschichtsrevisionistischen Verdrehungen, verbarg Zemmour nicht, dass er aus einer jüdischen Familie aus Algerien stammt, eine jüdische Schule absolviert hatte und weiterhin, zu den wichtigsten Feiertagen, den Gottesdiensten in einer Pariser Synagoge beiwohnt. Ultra-rechte Kreise, die sich um Zemmour sammelten, erfreuten sich daran, dass ein praktizierender Jude ihre Lügen verbreitete.   

Hingegen nahmen die Führungspersönlichkeiten aller relevanten jüdischen Einrichtungen schärfstens gegen Zemmour Stellung. Frankreichs Oberrabbiner Haim Korsia bezeichnete Zemmour als „Antisemiten und Rassisten“. Der Präsident des Dachverbands der jüdischen Institutionen Frankreichs (CRIF), Francis Kalifat, gab die Losung aus: „Keine jüdische Stimme für Zemmour.“

Die Aufstiegsträume von Zemmour platzten definitiv mit Beginn des Kriegs in der Ukraine. Bis dahin hatte er in Umfragen für den ersten Durchgang der Präsidentenwahlen mit Marine Le Pen bei rund 16 Prozent gleichgezogen und sie gelegentlich sogar überholt. Die Möglichkeit, dass er in die Stichwahl gegen Macron gelangen könnte, galt nicht als völlig ausgeschlossen, auch wenn sein Radikalismus weitere Erfolgsaussichten schmälerte.

Von Putins Angriff auf die Ukraine wurden sowohl Marine Le Pen als auch Zemmour belastet, weil beide bis dahin ihre Bewunderung für den Kremlherren nicht verborgen hatten. Nach dem Überfall machten zwar beide plötzlich gewissermaßen kehrt, aber Zemmour, der sich zuvor als „französischer Putin“ angeboten hatte, litt am meisten. Erstens weil er, im Gegensatz zu Le Pen, anfänglich die Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen in Frankreich abgelehnt hatte. Und zweitens weil seine Anhängerschaft oft aus Kreisen mit höherer Schulbildung stammte, die sich auch mehr mit internationaler Politik beschäftigte.  Zemmour hatte bei diesen Leuten mit seiner vorgeblichen „Grande Culture“ gepunktet, weil er immerzu mit historischen Vergleichen um sich warf, bis er, auch für dieses Publikum sichtbar, auf die Nase fiel: noch eine Woche vor Kriegsausbruch hatte er einen Angriff Putins auf die Ukraine im besserwisserischen Tonfall völlig ausgeschlossen.

Dazu kam, dass Marine Le Pen ungeniert Sozialforderungen der Linken abkupferte und mit Maßnahmen gegen Preissteigerungen warb, während Zemmour derartige soziale Anliegen sträflich vernachlässigte, wenn er sie nicht gar als unerhörte „Linkswende“ von Marine Le Pen geißelte.  

Resultat: Marine Le Pen qualifizierte sich im ersten Durchgang mit 23 Prozent für die Stichwahl gegen Macron, während Zemmour auf sieben Prozent abstürzte.

Wahltrends in jüdischen Milieus

Allerdings hatte Zemmour einen wunden Punkt getroffen, der nicht zuletzt bei vielen Juden schwelt. Frankreich ist das europäische Land, das die allermeisten dschihadistischen Anschläge erlitten hat, wo die größten Massaker und, bis zuletzt, die meisten dschihadistischen Einzelangriffe mit tödlichem Ausgang verzeichnet wurden.

Eine Reihe städtischer Viertel leidet unter Banden junger Männer, die sich in einer Grauzone zwischen aggressiver Frauenanmache, Vandalismus, Straßenkriminalität und radikalen Islamismus bewegen.

Was die, im Landesschnitt, sehr kleine jüdische Minderheit betrifft, schauen die Verhältnisse noch bedrohlicher aus. Im Europa-Vergleich ist Frankreich zwar das Land, im dem die meisten Juden leben. Noch in den 1990er Jahren beliefen sich die Schätzungen auf über eine halben Million Juden. Zuletzt sank diese Zahl auf rund 450.000. Das wären etwa 0,7 Prozent der Gesamteinwohnerzahl. Dieses winzige Bevölkerungssegment erleidet seit Jahren über die Hälfte der als rassistisch eingestuften Anfeindungen und die meisten tätlichen Übergriffe laut Behördenbericht. Die Täter sind fast ausnahmslos junge Muslime.

Seit 2003 kamen bei islamistisch inspirierten Angriffen auf Juden, also organisierten Anschlägen aber auch Nachbarschaftsmorden, 13 Menschen ums Leben. Tausende jüdische Familien sind in den vergangenen Jahren aus Gegenden ausgezogen, wo sie von muslimischen Nachbarn gemobbt und bedroht wurden.

Zemmour erklärte diesbezüglich zurecht: „Wenn man heute einen Juden angreift, schreit man nicht mehr Heil Hitler. Der ist tot. Jetzt ruft man Allahu Akbar“. Das fand logischerweise Resonanz unter Juden. Für einen Teil der jüdischen Bevölkerung sind die historischen Kontroversen und Tabu-Brüche von Zemmour nicht maßgeblich, vor allem weil in den vergangenen drei Jahrzehnten keine spürbare Bedrohung von rechtsradikalen Gruppen gegenüber Juden in Frankreich ausging.

Deswegen verbuchte Zemmour stellenweise einen geringen aber trotzdem erkennbaren Zustrom jüdischer Wähler. Das jüdische Wochenmagazin „Actualité Juive“ konstatierte solche Fälle. Als erstes Beispiel sei auf Trabantenstadt Sarcelles verwiesen, wo noch die meisten Juden des nördlichen Pariser Vorortegürtels leben, und der sozialistische Bürgermeister aus einer jüdischen Familie stammt. Dort belegte im Wahlsprengel in der Nähe der größten Synagoge und der meisten koscheren Lebensmittelläden Zemmour im ersten Wahlgang den Spitzenplatz mit 35 Prozent, gefolgt von Macron (25 Prozent). Der Linkstribun Jean-Luc Melenchon kam in diesem Wahlkreis nur auf 23 Prozent, obwohl er im gesamten Gemeindegebiet von Sarcelles mit fast 48 Prozent der Stimmen Platz eins belegte.

Zweites Beispiel: im Gegensatz zur geläufigen Annahme von Touristen ist nicht das zentral gelegene Marais-Viertel rund um die Rue des Rosiers die Pariser Gegend mit der bedeutendsten jüdischen Präsenz. Das rührigste und auffälligste jüdische Gemeindeleben, unter anderem mit der größten jüdischen Schule (unter Lubawitscher Führung), ist in einem traditionellen Migrantenbezirk, dem 19. Arrondissement, angesiedelt. Und da erreichte Zemmour in einigen Wahlsprengeln bis zu elf Prozent. Während auf der Gesamt-Ebene dieses Bezirks Zemmour nicht über sein landesweites Ergebnis von sieben Prozent hinauskam, und der Linkskandidat Melenchon mit 46,51 in Führung ging.

Drittels Beispiel: unter den Auslands-Franzosen, die sich an den Präsidentenwahlen beteiligten, konnte Zemmour nur in Israel den ersten Platz mit 53,59 Prozent erringen, noch vor Macron der auf 31,72 Prozent gelangte. Allerdings beteiligten sich nur 10,88 Prozent der in Israel registrierten französischen Staatsbürger an der Wahl, was diesem scheinbaren Triumph von Zemmour weitgehend relativiert. Tatsächlich sind die meisten in Israel gemeldeten Franzosen eingewanderte Juden, die sich also auf ihre „Aliya“ begeben und daher vom politischen Geschehen in Frankreich tendenziell abgekoppelt haben.

Die Auffälligkeit dieser Beispiele kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Französinnen und Franzosen, die aus jüdischen Familien stammen, in so ziemlich allen politischen Lagern wiederfanden. Wobei es unter Wählern mit jüdischem Background bereits im ersten Wahlgang einen überdurchschnittlichen Trend zu Präsident Macron gab, der als Bannerträger der kulturell liberalen und wirtschaftspolitisch pragmatischen Mitte auf grundsätzliches Wohlwollen stieß.

Damit ist auch klar, dass der Anteil der Juden, die Zemmour wählten, vergleichsweise sehr gering blieb. Die allermeisten seiner Stimmen kamen aus dem rechtskatholischen und rabiat nationalistischen Milieu.

Bleibt die Frage, inwieweit Zemmour für viele Muslime und ihre Fürsprecher ein „jüdisches“ Feindbild verkörpert. Und dies, trotz seiner Anbiederung an die antisemitisch geprägte Tradition des rechtskatholischen Nationalklerikalismus und trotz der klaren Abweisung, die er seitens der jüdischen Gemeindevertreter erfuhr – im Gegensatz zur katholischen Hierarchie, die sich zu keiner derartigen Verurteilung Zemmours, wohl aus Rücksichtnahme auf die ultra-konservativen katholischen Kreise, durchringen konnte.   

Antijüdisches und Verschwörungstheorien des Linkstribuns Melenchon

Das einzige Beispiel einer öffentlichen Gleichsetzung zwischen Zemmour und genereller jüdischer Identität kam vom Linkstribun Jean-Luc Melenchon bei einem TV-Auftritt im Oktober 2021. Auf die Frage, ob Zemmour ein „Antisemit“ sei, erwiderte Melenchon, dies sei wohl nicht der Fall, weil Zemmour „viele Traditionen, die stark mit dem Judentum verbunden sind, reproduziert“. Diese Behauptung von Melenchon löste Entrüstung aus, die auch in Kreise reichte, die dem Linkstribun ansonsten eher wohl gesonnen sind. So sprach Edwy Plenel, Chefredakteur des einflussreichen linken Online-Magazins „Mediapart“, von einem „politischen und moralischen Fehler“. In der üblichen Manier der Demagogen, die sich antijüdischer Untergriffe bedienen, schob Melenchon eine vage Entschuldigung nach: Er habe sich „schlecht ausgedrückt“, behauptete er anschließend.    

Aber daran darf gezweifelt werden. Bereits sechs Monate zuvor, im Juni 2021, hatte Melenchon in einem Radio-Interview orakelt, es werde „einen schlimmen Vorfall oder einen Mord in der letzten Wahlkampfwoche geben. Das war mit Merah 2012 der Fall gewesen… Das alles ist im Voraus geschrieben. Wir werden ein arges Ereignis haben, das es einmal mehr erlauben wird, die Muslime anzuprangern.“

Zur Erinnerung: der aus einem Lager der „Al Kaida“ in Pakistan zurückgekehrte franko-algerische Dschihadist Mohammed Merah hatte im März 2012 zuerst in der Toulouse und Umgebung drei französische Soldaten (aus muslimischen Familien) jeweils in Fallen gelockt und durch Pistolenschüsse zwei getötet und einen schwer verletzt. Später war er in eine jüdische Schule in Toulouse eingedrungen und hatte aus nächster Nähe drei Kinder im Alter von drei, fünf und acht Jahren und einen herbeigeilten Lehrer erschossen. Alle relevanten Parteien beschlossen eine Unterbrechung der damaligen Kampagne für die Präsidentenwahlen und organisierten gemeinsame Trauerkundgebungen, an denen sich Melenchon aber nicht beteiligte.

Auch auf die Verschwörungsschwangeren Andeutungen von Melenchon zu den Anschlägen folgte Entrüstung, aber sie hielt sich in Grenzen. Der Sprecher des französischen Verbands der Terroropfer brachte die Sache auf den Punkt: „Wenn man Melenchon zuhört, muss man annehmen, dass das keine echten Attentate waren, oder dass sie von Präsidentschafts-Kandidaten organisiert wurden. Das ist eine Verhöhnung der Opfer, ein Delirium und ein Leugnen der Realität.“

Tatsächlich verlor Melenchon in seiner soeben abgelaufenen Wahlkampagne kein Wort über den radikalen Islamismus, so als wäre diese Gefahr bloß eine Erfindung der Rassisten und rechten Politiker.  

Genau damit entsprach er auch dem Bedürfnis nach Verdrängung dieser unliebsamen Realität. Einem Bedürfnis, das in muslimischen Milieus und auch bei einem Teil der Anhänger der Linken ziemlich verbreitet ist. Melenchon hatte auch an einer Demonstration „gegen Islamophobie“ im November 2019 teilgenommen, die immerhin im Ruf gipfelte, den auch die Dschihadisten bei ihren Attacken benützten: „Allahu akbar“. Woran der Linkstribun nichts auszusetzen hatte.   

Es gibt nachvollziehbare Motive für die verkrampfte Abwehrhaltung vieler Muslime: der anti-arabische Rassismus und die Verachtung gegenüber dem Islam ist nicht erst mit dem Aufschwung des radikalen Islamismus und des dschihadistischen Terrors entstanden.  Diskriminierung, etwa bei der Jobvergabe, bei den innerbetrieblichen Aufstiegschancen oder der Wohnungsvermietung gegenüber Personen, die als Muslime eingestuft werden, ist eine immer wieder kehrende schmerzliche Realität, vor allem im privatwirtschaftlichen Raum.

Aber in der französischen Gesellschaft wirken zahllose Einrichtungen und Funktionsträger, die (selbstverständlich und in Einklang mit der Gesetzeslage, müsste man sagen) nicht die geringste Benachteiligung ausüben und Muslimen mit einem Höchstmaß an Respekt und oftmals Sympathie begegnen. Darüber hinaus sind in etlichen Kommunen und Bildungseinrichtungen die zahlen-mäßigen Verhältnisse dermaßen, dass sich Kommunalpolitiker und Lehrkräfte auch immer wieder dem Druck eifernder muslimischer Fundamentalisten beugen.

Realitätsverweigerung unter Muslimen

Daher müssen sich die bekennenden Muslime die Frage gefallen lassen, wie sie es mit dem radikalen Islamismus halten. Die dschihadistischen Morde sind keine Hirngespinste, die anti-demokratische, anti-aufklärerische, anti-feministische, anti-jüdische und anti-homosexuelle Hetze in einer Reihe von muslimischen Gebetsstätten sind ebenfalls Realität. Nur allzu oft stößt man auf empörte Zurückweisung solcher Fakten durch Muslime.

Da ist eine Realitätsverweigerung und Schuldumkehr am Werk, wie man sie auch aus anderen Kreisen kennt. Intern, in Familien und unter Freunden, sind Hassergüsse gegen Atheisten, Christen und besonders Juden nicht so selten, werden aber nach außen hin verharmlost. Bei jeder Verschärfung des israelisch-palästinensischen Konflikts bröckelt die Fassade.

Es gibt in der Welt des Islams, vereinfacht ausgedrückt, zwei Ebenen, die gelegentlich in einem Wechselverhältnis miteinander stehen, das aber viele Gläubige nicht erkennen wollen oder können. Die meisten Muslime assoziieren mit ihrer Religionsausübung, wie die Gläubigen sonstiger Konfessionen, moralische Rechtschaffenheit, humanen Zusammenhalt und Friedfertigkeit. Während die radikalen Islamisten in gewissen Passagen der heiligen Texten der selben Religion, die sie (manchmal auch dank eines besseren Verständnisses des klassischen Arabisch) wortwörtlich nehmen, eine Anleitung zur Erniedrigung der Andersgläubigen und zum Dschihad lesen.

Französischen Zeitungen zitierten in Reportagen zu den abgelaufenen Wahlen immer wieder ähnliche Reaktionen aus den Reihen der muslimischen Gläubigen. Das Tagesblatt „Parisien/ Aujourd’hui la France“ titelte: „Frankreichs Muslime wollen, dass man sie vergisst“. Die vor Moscheen zum Wahlkampf befragten Gläubigen klagten über „Amalgame“ (also sinngemäß die Vermengung der Muslime mit den islamistischen Attentätern). Der Rektor einer Moschee meinte: „Alle fünf Jahre wird über uns gesprochen, um ein paar Stimmen zu gewinnen, dann vergisst man uns wieder“.

Aber stimmt das? Die dschihadistischen Attentate und der im Hintergrund feststellbare Trend eines Teils der muslimischen Jugend zum Fundamentalismus, sind ja, leider, nicht bloß „alle fünf Jahre“ ein Thema, sondern eine Plage, die sich der französischen Gesellschaft kontinuierlich aufdrängt. Es ist schon erstaunlich, wie sehr in all den oben erwähnten spontanen Reaktionen von Muslimen zur Wahldebatte nie diese Gefahren auch nur Erwähnung fanden, den geschweige Worte der Distanzierung fielen. So als würde diese gefährliche Bewegung, die sich zumindest an den Rändern der islamischen Glaubensgemeinschaft und unter Berufung auf ihre Lehre entfaltet, gar nicht existieren.  

Bild oben: Von links Emmanuel Macron, (c) European Parliament – https://www.flickr.com/, CC BY 2.0 – Jean-Luc Mélenchon (2016) © European Communities, 2016, CC-BY 4.0 – Marine le Pen, (c) Foto-AG Gymnasium Melle, CC BY-SA 3.0 – Éric Zemmour (2021), (c) Cheep, CC BY-SA 4.0