In einschlägigen Kreisen ist sie inzwischen ein wenig bekannt: Denn das Würzburger Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur trägt seit elf Jahren ihren Namen. Ob Dr. Johanna Stahl (1895 – 1943) allerdings die Facetten ihres Lebens in dieser neuen Biographie adäquat gewürdigt gesehen hätte? Wir können sie schon lange nicht mehr fragen, denn sie wurde 1943 in Auschwitz ermordet.
Von Rotraud Ries
Anders als im Vorwort der Publikation in der Reihe „Jüdische Miniaturen“ angegeben, war auch zum Zeitpunkt der Umbenennung des Zentrums 2011 der Lebenslauf Stahls bereits bekannt. Denn die Stadt verfügte bereits seit 1989 über ein umfassendes Biographisches Handbuch ihrer jüdischen Bevölkerung, bearb. von Rainer Strätz. Zudem wurde der Werdegang der Protagonistin 1996 und 2000 im Rahmen von bemerkenswerten Beiträgen zur lokalen Frauen- und Frauenbildungsgeschichte vorgestellt. Neuere Forschungsergebnisse sind seit der Umbenennung auf der Website des Zentrums zu lesen, weitere wurden 2015 von Roland Flade in einem biographischen Sammelband publiziert.
Johanna Stahl war 1895 als sechstes und jüngstes Kind der bildungsbeflissenen Familie Stahl in Würzburg geboren worden. Ihr Vater engagierte sich u.a. im Vorstand der Israelitischen Lehrebildungsanstalt, drei Kinder promovierten. Doch für Johanna war der Weg dahin besonders steinig. Als Mädchen konnte sie kein Gymnasium besuchen, sondern musste ihr Abitur als Externe ablegen und sich eigenständig darauf vorbereiten. Sie studierte in Würzburg und in Frankfurt a.M., arbeitete daneben in der kommunalen Wohlfahrt und wurde schließlich in Volkswirtschaftslehre promoviert. Zurück in Würzburg lebte sie wieder bei der Familie, engagierte sich in der liberalen DDP, setzte sich für die Sache der Frauen ein, wurde publizistisch tätig und arbeitete ab 1929 als Redakteurin der Bayerischen Frauenzeitung. Bis 1933. Nach ihrer Entlassung als Redakteurin wechselte sie in das „Büro für Beratung und Wirtschaftshilfe“ der Jüdischen Gemeinde und leistete engagierteste Sozialarbeit und Emigrationsberatung. Sie gehörte – wenn auch sicher nicht als deren „letzte Repräsentantin“ (Klappentext) – zu den letzten Funktionsträger:innen der Jüdischen Gemeinde und wurde mit diesen mit dem letzten größeren Transport im Sommer 1943 nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Für die Umbenennung des unscheinbaren Dokumentationszentrums in Würzburg 2011 bot Dr. Johanna Stahl also viele Anknüpfungspunkte. Nur eine umfassendere Biographie über die Namensgeberin ließ und lässt sich so einfach nicht schreiben. Denn neben den dürren amtlichen Quellen wie z.B. ihrer Gestapo-Akte fehlt es (fast) komplett an Persönlichem, an Fotos, Dokumenten oder Erinnerungen. Keines der Stahl-Geschwister hatte Kinder, der Würzburger Zweig der Familie wurde ausgelöscht. Nur ein Bruder überlebte mit Mühe in Paris – aber auch in seiner Wohnung blieb nach seiner Flucht 1941 nichts erhalten.
Diesem Dilemma entgeht auch der Autor nicht in seinem Versuch, die ausstehende Biographie vorzulegen. Er stellt die bekannten Quellen detaillierter vor, schreibt einiges zur Familie, zu den Geschwistern. Neu sind die Befunde aus dem Frankfurter Universitäts-Archiv. Die Existenz der Doktorarbeit dort war bekannt, doch auch diverse Zeugnisse und Belegungslisten aus dem Studium sind vorhanden und werfen ein differenzierteres Licht auf die Ausbildung Johanna Stahls in Würzburg wie in Frankfurt. Ob allerdings die Auflistung von Zensuren, Vorlesungen, Professoren und ihrer politischen Einordnung nach dem Muster männlicher Akademiker- und Politiker-Biographien für eine junge jüdische Frau von großer Aussagekraft ist, möchte ich bezweifeln. Sie begründen ja eher klassische Männer-Netzwerke. Definitiv ein Gewinn sind neue Funde des publizistischen Schaffens von Johanna Stahl, in dem es ihr primär um die Sache der Frauen geht.
Zugleich ist es jedoch genau dieses Thema, auf das der Autor systematisch überhaupt nicht eingeht. Er trivialisiert das Engagement Stahls in Frauenfragen, subsumiert es einfach unter „Politik“. Dabei bleiben wichtige Fragen auf der Strecke: die nach der besonderen Bildungsgeschichte einer jungen Jüdin, die einzuordnen wäre v.a. in die Geschichte weiblicher Bildungschancen und spezifischer jüdischer Bildungswege. Sowie die Frage nach dem Charakter des Engagements von Johanna Stahl für die Sache der Frauen. Wie konnte sich eine Frau in einer mehrheitlich orthodoxen Gemeinde mit einem traditionellen Frauenverein und ohne eine Gruppe des Jüdischen Frauenbunds vor Ort überhaupt positionieren? Wie ist sie im Spektrum der verschiedenen Frauen-Verbände einzuordnen? Hat sie sich nicht vielleicht mehr dem allgemeinen Frauenbund zugehörig gefühlt, dessen Zeitung sie redigierte? Ohne diese Fragen zu klären, ohne Quellen dafür zu suchen und zu finden und ohne die Berücksichtigung der Literatur zum frauenpolitischen Engagement von Jüdinnen bleibt die Biographie von Johanna Stahl unvollständig. Auch die Sammlungsbestände des nach ihr benannten Zentrums und die Überlieferung der Jüdischen Gemeinde, die bis Ende 1938 erhalten ist, wurden zum Wirken von Johanna Stahl nicht ausreichend herangezogen.
Die vielen Facetten der Biographie dieser interessanten, modernen jüdischen Frau zwischen traditioneller weiblicher Ethik, ihrer akademischen Übersetzung im Fach Volkswirtschaftslehre, des Engagements für liberale Werte und besonders für Frauenfragen und schließlich für das Recht aller Jüdinnen und Juden, sich vor den NS-Verfolgungen in Sicherheit zu bringen, lassen sich auch weiterhin nicht angemessen würdigen.
Riccardo Altieri, Johanna Stahl. Wirtschaftswissenschaftlerin – Politikerin – Frauenrechtlerin, Leipzig: Hentrich & Hentrich 2022, 72 S. (Jüdische Miniaturen 298), 8,90 €, Bestellen?