Mehrfacher Betrug, Bestechlichkeit sowie Untreue lauten die Vorwürfe, weswegen Benjamin Netanyahu in Israel vor Gericht steht. Dem ehemaligen Ministerpräsidenten winken Gefängnis und eine empfindliche Geldstrafe. Doch nun wird über einen Deal verhandelt, wie er der Haft entgehen könnte. Und das hat einen Preis.
Von Ralf Balke
Die Rhetorik war auch schon mal selbstbewusster. „Angehörige der Polizei und der Staatsanwaltschaft haben sich mit linken Journalisten zusammengerottet, um völlig haltlose Anschuldigungen gegen mich zu erfinden“, hatte Benjamin Netanyahu noch im Mai 2020 gepoltert. „Ihr Ziel ist es, einen starken rechten Premierminister zu Fall zu bringen und das rechte Lager für viele Jahre aus der Führung des Landes zu verbannen. Das kommt einem Staatsstreich gleich, und zwar gegen den Willen des Volkes“, so der damals noch regierende Ministerpräsident in einem seiner zahlreichen verbalen Attacken gegen Justiz und Medien. Doch mittlerweile ist „Bibi“ aus dem Amt gewählt worden und sein Nachfolger heißt Naftali Bennett. Was aber weiterhin aktuell bleibt, sind die zahlreichen Vorwürfe gegen ihn. Mehrfacher Betrug, Bestechlichkeit sowie Untreue lauten sie, angeklagt wurde Netanyahu bereits 2019. Aber aufgrund seines politischen Amtes konnte er Immunität einfordern, was er Anfang Januar 2020 auch unternahm. Wenige Wochen später zog Netanyahu diesen Antrag aber wieder zurück, weshalb Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit sofort beim Bezirksgericht in Jerusalem Anklage einreichen konnte und das Strafverfahren am 20. Mai 2020 eröffnet wurde. Seither gab es mehrere Anhörungen zu den Vorwürfen.
Konkret handelt es sich um drei Verfahren und zwar den sogenannten „Fall 1000“, also den großzügigen „Geschenken“ des Milliardärs Arnon Milchan und dessem gleichermaßen schwerreichen Kumpel James Parker in Form von teuren Zigarren und Rosé-Champagner im Wert von 195.000 Dollar sowie Schmuck an Netanyahus Gattin Sara, den „Fall 2000“, der das unsaubere Angebot zum Gegenstand hat, sich eine vorteilhafte Berichterstattung in der Tageszeitung „Yedioth Achronot“ durch die Senkung der Auflage der Gratiszeitung „Israel HaYom“ zu verschaffen, und last but not least der „Fall 4000“, wobei es ebenfalls um eine positive Presse als Dankeschön für Reformen ging, die dem Eigentümer des Telekommunikationsgiganten Bezeq noch mehr Macht auf dem israelischen Medienmarkt verschafft hatten. Selbstverständlich existiert auch noch ein „Fall 3000“, dessen Hauptverdächtigter aber nicht Netanyahu ist, sondern sein persönlicher Anwalt und Cousin David Shimron. Hier dreht sich alles um Bestechungsgelder, die beim Kauf von drei U-Booten sowie vier Korvetten bei ThyssenKrupp geflossen sein sollen. Ferner gibt es den „Fall 1270“, und zwar wegen der versuchten Einflussnahme auf die Neubesetzung des Postens an der Spitze der Generalstaatsanwaltschaft. Das Verfahren wurde aber bereits im Januar 2019 aus Mangel an Beweisen eingestellt.
Sowohl zu Amtszeiten als auch in seiner neuen Rolle als Oppositionsführer, stets bestand Netanyahu darauf, unschuldig zu sein. Zugleich inszenierte er sich dabei immer wieder als Opfer einer Verschwörung der Linken, wobei es manchmal schon recht unterhaltsam wurde, wer plötzlich alles als „links“ galt. Angefangen von Naftali Bennett bis hin zu Rivalen in der eigenen Partei, dem Likud, konnte in seiner Diktion das bald jeder werden. Dann vor zwei Wochen ein kleine Sensation: Man könnte sich doch mit der Generalstaatsanwaltschaft vielleicht auf einen Kompromiss verständigen, hieß es plötzlich. Wenn einige Aspekte in der Anklage fallengelassen werden, vor allem die Vorwürfe, die ihm eine fette Gefängnisstrafe bescheren könnten, würde der Ex-Ministerpräsident in anderen Punkten vielleicht eine Art Schuldgeständnis formulieren. Im Prinzip geht es darum, den „Fall 2000“ einfach zu schließen und in den beiden anderen Verfahren das Thema Bestechlichkeit abzuschwächen. Und aus der Gefängnisstrafe könnten sieben bis neun Monate gemeinnützige Arbeit werden.
Natürlich hätte ein solcher Deal auch einen Preis. Im Gegenzug müsste Netanyahu sich aus der Politik zurückziehen, und zwar für satte sieben Jahre. Das wäre der Fall, wenn wie gefordert, die „moralische Verwerflichkeit“ seines Handelns von ihm eingestanden wird. Für den 72-Jährigen ist das genau der saure Apfel, in den er beißen müsste, um einer härteren Strafe zu entgehen. Und er wäre auch nicht der erste, der sich auf einen solchen Kompromiss einlassen würde. Aryeh Deri, der wegen Bestechlichkeit und anderer Delikte bereits vorbestrafte Chef der sephardisch-orthodoxen Shass-Partei, hat gerade einem ähnlichen Arrangement zugestimmt und sich aus der Knesset als Parlamentarier verabschiedet, um so dem Knast zu entgehen. Den Parteivorsitz aber behält er trotzdem.
Das Überraschende an der Nachricht über den geplanten Deal zwischen Generalstaatsanwaltschaft und Netanyahu: Ganz offensichtlich hatte man hinter den Kulissen wohl schon seit Monaten über eine mögliche Exit-Strategie aus dem Verfahren verhandelt. Publik wurden die Gespräche nur deshalb jetzt, weil es in der Frage der Konditionen zum Zoff kam. Ursprünglich, so kam wenige Tage später ans Tageslicht, hatte Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit von dem ehemaligen Ministerpräsidenten nämlich nur zwei Jahre politische Enthaltsamkeit gefordert, wenn er seine Schuld in einigen Punkten der Anklage irgendwie eingestehen würde. Daraufhin hätten andere Vertreter in der Justiz diese Lösung als zu milde kritisiert und Druck auf Mandelblit ausgeübt, einen längeren Zeitraum zu verlangen. Außerdem müsste jede Einigung mit Netanyahu eben jene besagte Klausel von der „moralischen Verwerflichkeit“ beinhalten, was automatisch einen Ausschluss von sieben Jahren für alle öffentlichen Ämter mit sich bringt. Unterstrichen wurde diese Forderung noch einmal vom stellvertretenden Generalstaatsanwalt Shlomo Lamberger, der sich zum ersten Mal öffentlich dazu auf einer Konferenz der israelischen Anwaltskammer geäußert hatte. Es sei „undenkbar“, dass eine Einigung ohne diese Klausel zustande käme. Die nunmehr im Raum stehenden sieben Jahre Zwangspause gefielen Netanyahu aber überhaupt nicht. Denn erst im Alter von 79 Jahren dürfte er wieder zurück in die Politik, was einem Ende seiner Karriere gleichkommen würde. Entsprechende Berichte in den Medien über den Deal zwischen ihm und der Generalstaatsanwaltschaft ließ Netanyahu jedoch unkommentiert, was als Indiz dafür gewertet wird, dass das letzte Wort in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen ist. Für diese These steht auch der stundenlangen Besuch der gesamten Familie Netanyahu bei seinem Rechtsanwalt in dessen Privatwohnung in Ramat Gan.
Interessant an den Vorgängen ist die Tatsache, dass jede Form eines Vergleichs Netanyahus Mantra, alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe seien unbegründet und haltlos, Lüge strafen würde – schließlich müsste er seine Schuld in einigen Punkten der Anklage eingestehen. Das ganze von ihm sorgsam aufgebaute Narrativ, dass man ihn nicht an der Wahlurne schlagen konnte, weswegen er vor Gericht gezerrt wurde, würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen. Auch ist es ist nicht der erste Versuch des Likud-Chefs, einen Kompromiss zu erzielen, der ihm das Gefängnis erspart. So soll Netanyahu 2019 dem damaligen Staatspräsidenten Reuven Rivlin den Vorschlag unterbreitet haben, dass er vom Amt des Regierungschefs zurücktreten würde, wenn ihn sein Nachfolger von allen Anschuldigen freispricht und begnadigt. Meldungen dieser Art hatte Netanyahu jedoch stets dementiert.
Netanyahus Zwangspause aus der Politik könnte aber noch viel weitreichendere Folgen haben als nur sein ganz persönliches Karriereaus. Zum einen würde im Likud das Hauen und Stechen darüber wieder losgehen, wer Netanyahu an der Parteispitze beerben soll. Israel Katz, der ehemalige Verkehrs-, Finanz- und Außenminister hat seinen Hut ebenso bereits in den Ring geworfen wie Jerusalems früherer Bürgermeister Nir Barkat und Amir Ohana, einstmals Minister für öffentliche Sicherheit. Andere wie Miri Regev halten zwar offiziell noch zu Netanyahu und erklären, dass der nun bekannt gewordene Deal ein Anzeichen für das baldige Prozessende sei, weil die Anklage substanzlos wäre – jedoch auch ihr werden insgeheime Ambitionen auf die Vorsitz im Likud nachgesagt. Aber nicht nur im Likud könnten die Karten neu gemischt werden. So würde den politischen Gegnern Netanyahus einfach ihr Schreckgespenst fehlen – schließlich war die Aversion gegen „Bibi“ der einzige gemeinsame Nenner, der die ideologisch doch sehr konträren Partner zu der aktuellen Acht-Parteien-Koalition zusammengeschweißt hat. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein inhaltlicher Streit dieses Bündnis aus Linkszionisten, rechten Nationalisten und einer kleinen islamistischen Partei nun zum Platzen bringt, würde mit dem Abgang Netanyahus aus der Politik deutlich höher. Denn ein Likud ohne „Bibi“ als Chef wäre dann wieder für Naftali Bennett oder Avigdor Lieberman ein potenzieller Partner.
Aber vielleicht haben sie ja alle Glück oder – je nach Sichtweise – Pech. Denn Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit wird Ende Januar sein Amt niederlegen. Netanyahus Anwälte würde gerne vorher noch einen möglichen Deal unter Dach und Fach gebracht wissen. Denn offensichtlich hat der ehemalige Ministerpräsident von ihm am wenigsten zu befürchten, wie die von Mandelblit vorgeschlagene politische Auszeit von nur zwei Jahren zeigt. Sein Nachfolger wird nämlich vom aktuellen Justizminister Gideon Sa’ar berufen, und der ist wiederum ein Intimfeind Netanyahus, weshalb in einer möglichen Einigung die Formulierung „moralische Verwerflichkeit“ garantiert nicht gestrichen werden dürfte. Dann jedenfalls bleibt „Bibi“ nur eine Wahl: Zwangspause mit dem wohl endgültigen Rückzug aus der Politik – schließlich möchte er nicht wie sein Amtsvorgänger Ehud Olmert im Knast landen.
Bild oben: Premier Netanyhu, 2015, (c) Foreign and Commonwealth Office