Finanzamt und Reichsbahn als NS-Profiteure

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Das Ehepaar Hedwig und Julius Wertheimer

Am 29. November 1941 fand die erste Deportation von Nürnberger Juden statt

Von Jim G. Tobias

In den letzten Novembertagen des Jahres 1941 zerrte die Gestapo 517 namentlich bekannte Nürnberger Juden aus ihren Wohnungen und brachten sie mit Lastwagen zu einer Deportations-Sammelstelle. Die damals 45-jährige Rosa Kaufmann gab ihre Erinnerung an diese schrecklichen Tage 1958 in einem Gerichtsverfahren zu Protokoll: „An einem Donnerstag gegen Ende November 1941 bin ich als Jüdin von SS-Leuten in meiner damaligen Wohnung abgeholt worden. Ich wurde mit einer Reihe von Glaubensgenossen in einem geschlossenen Auto – ich denke, es wird ein Polizeitransportauto gewesen sein – in ein Lager verbracht.“ Abgeholt wurden auch Julius Wertheimer, seine Frau Hedwig und ihr 15-jähriger Sohn Hans. Der Kaufmannsfamilie gehörte ein Mietshaus in der Innenstadt, in dem sie eine Etage bewohnten. Bereits im Sommer 1940 mussten die Wertheimers die Immobilie verkaufen. Ein Nürnberger Zahnarzt erwarb das Anwesen für 38.000 Reichsmark. Das Geld ist freilich nie bei der jüdischen Familie angekommen, sie durfte aber weiterhin in ihrer Wohnung bleiben, wobei sie jedoch gezwungen war, fortan Miete dafür zu bezahlen.

Mit dem „Evakuierungsbescheid“, in dem genau aufgelistet war, welche Gegenstände mitgenommen werden dürfen, erhielt Haushaltsvorstand Julius Wertheimer auch Post vom Finanzamt. Beamte der Steuerbehörde avisierten sich, um peinlich genau die zurückzulassende Kleidung, die Möbel und den sonstigen Hausrat zu registrieren und zu taxieren. Was die Reichsfinanzverwaltung nicht gebrauchen konnte, wurde meistbietend versteigert. Ein Schnäppchenmarkt für so manchen Volksgenossen: Vom Kaffeelöffel bis zum Wohnzimmerschrank, von der Unterwäsche bis zum Bügeleisen, alles kam unter den Hammer.

Obwohl jede für die „Umsiedlung“ vorgesehene Person einen Rucksack sowie einen Koffer mitnehmen durfte, wurden bei der Ankunft auf dem sogenannten Märzfeld, eine Barackensiedlung auf dem Reichsparteitagsgelände, nochmals viele Gegenstände konfisziert, einschließlich dem gesamten Bargeld. Zudem mussten sich die Menschen einer entwürdigenden Leibesvisitation unterziehen. Der Aufenthalt in den zugigen Baracken dauerte bis zu 72 Stunden. In dieser Zeit wurden noch weitere rund 500 Juden aus Fürth, Bamberg, Bayreuth und Würzburg in das Nürnberger Sammellager verschleppt. Die Gestapo filmte und fotografierte die Ankunft der Transporte, die Aufnahmeprozedur sowie das gesamte Lagerleben. Am Mittag des 29. November mussten die Menschen sich in Zehnerreihen aufstellen und zum etwa einen Kilometer entfernten Bahnhof Märzfeld marschieren. Kranke und Alte wurden mit Wagen zum bereitstehenden Zug transportiert. Unter Hohngelächter hielten die SS-Männer auch den „Auszug der Juden“ für die Nachwelt mit der Kamera fest.

Bernhard Kolb, ein Überlebender, hat diese Tragödie nach dem Krieg wie folgt beschrieben: „Die Gesichter schon gezeichnet von dem unerbittlichen Schicksal und doch wieder eine Haltung und eine Würde, die von den spalierstehenden rohen Henkersknechten natürlich als jüdische Frechheit bezeichnet wurde. Abgezählt vor jedem Abteil, genau nach Nummer geordnet, stehen sie vor den Wagentüren. Das Einsteigesignal wird gegeben, da wird schon mit den KZ-Methoden angefangen. Wer nun nicht schnell genug in einem Abteil verschwindet, wird misshandelt.“ Obwohl es sich um einen normalen Personenzug handelte, jeder hatte einen Sitzplatz, war die dreitägige Reise ins Ungewisse sehr beschwerlich.

Bereitwillig übernahm die Deutsche Reichsbahn den Transport in den Tod. Ohne moralische Probleme stellte das Unternehmen auf Anforderung des Reichssicherheitshauptamtes die benötigten Personen- und Güterwagen zur Verfügung. Abgerechnet wurde pro Person und gefahrenen Kilometer. Erwachsene kosteten vier Pfennige, Kinder unter vier Jahren zwei Pfennige; Kleinkinder fuhren kostenlos. Etwa drei Millionen Opfer beförderte das Unternehmen – ein lukratives Geschäft. 

Am 2. Dezember erreichte der Zug seinen Bestimmungsort: Ein Bahnhof bei der lettischen Hauptstadt Riga. Nachdem die Menschen aus den Abteilen geprügelt wurden, mussten die Unglücklichen zu dem etwa zwei Kilometer entfernten Lager marschierten. Der Jungerfernhof war ein landwirtschaftliches Gut und diente ab November 1941 für etwa ein Jahr als Durchgangslager. In den desolaten und unbeheizten Häusern, Ställen und Scheunen wurden mehrere tausend Menschen zusammengepfercht. „Laufend kamen neue Judentransporte aus allen möglichen Richtungen, wie Hamburg, Stuttgart, Rheinland, Wien usw. an. Das Lager zählte bald ca. 5.000 Juden. Aber täglich wurden es weniger“, erinnert sich Julius Ceslanski, einer der wenigen Überlebenden des Nürnberger Transports. Viele erfroren bei der klirrenden Kälte, denn die Temperaturen gingen während der Nächte auf 30 bis 35 Grad minus herunter.

Ilse und Hans Wertheimer. Das Mädchen konnte noch kurz vor Kriegsbeginn nach England ausreisen. Ihr Bruder wurde 1941 deportiert und ermordet. Repro: nurinst-archiv

Im März 1942 wurden etwa 1.700 bis 1.800 Menschen in einem Wald erschossen, der Rest später ins Ghetto von Riga verschleppt. Von rund 4.000 in vier Transporten aus Nürnberg, Stuttgart, Wien und Hamburg Deportierten überlebten nur etwa 150 namentlich bekannte Personen. Julius, Hedwig und Hans Wertheimer waren nicht darunter. Wann und wo sie gestorben sind, ist nicht bekannt. Allerdings erhielt der Nürnberger Zahnarzt, der ihr Haus in Nürnberg gekauft hatte, noch über ein halbes Jahr nach dem „Auszug“ seiner Mieter die monatlichen Zahlungen. Das Finanzamt überwies für die Zeit von Januar bis Juli 1942 insgesamt 475 Reichsmark Mietzins an den Hausherrn. Auch die Städtischen Werke gingen nicht leer aus. Am 13. Mai 1942 beglich der Fiskus eine Stromrechnung in Höhe von 42,54 Reichsmark aus dem erzielten „Arisierungsgewinn“ für das versteigerte Mobiliar. Zu einem Zeitpunkt, da die Wertheimers wahrscheinlich schon tot waren. Insgesamt haben von den 517 aus Nürnberg verschleppten Juden nur 18 überlebt.

Bild oben: Das Ehepaar Hedwig und Julius Wertheimer, Repro: nurinst-archiv

Zum 80. Jahrestag der Deportation erinnert das Stadtarchiv Nürnberg mit einem Blog-Beitrag (https://tinyurl.com/bhh44y8d) und einer Slideshow bei YouTube (https://youtu.be/jGhCl1L0rMo) an die Opfer.