Niemand wird zurückgelassen – so lautet eine Doktrin der israelischen Streitkräfte. Das gilt für den seit 1986 vermissten Luftwaffen-Navigator Ron Arad ebenso wie für alle anderen, die tot oder lebendig jenseits der Grenzen Israels festgehalten werden. Deshalb ist man jetzt auch nach über drei Jahrzehnten im Fall Ron Arad wieder aktiv geworden.
Von Ralf Balke
Fast pünktlich zum zehnten Jahrestag der Freilassung von Gilad Shalit, der 2006 von der Hamas aus Israel entführt und in den Gazastreifen verschleppt wurde, wo die islamistische Terrororganisation ihn über fünf Jahre lang als Geisel festhielt, wartete Naftali Bennett Anfang Oktober mit einer kleinen Sensation auf. So hätte man im September mehrere Agenten auf Mission geschickt, um weitere Informationen über den Verbleib des seit 1986 vermissten Luftwaffen-Navigators Ron Arad einzuholen. „Es war eine sehr komplexe und weitreichende Operation. Das ist alles, was wir im Moment sagen können“, so der israelische Ministerpräsident in der Knesset. „Damit haben wir weitere Anstrengungen unternommen, um Rons Schicksal aufklären zu können.“ Ferner betonte der Ministerpräsident, dass die Rückholung aller Gefangenen oder Vermissten ein jüdischer Wert sei, „der zu einem der heiligsten des Staates Israel geworden ist“. Für Außenstehende mag es schwer zu verstehen sein, warum man auch nach mehr als drei Jahrzehnten immer noch Ressourcen dafür mobilisiert. „Aber das ist es, was uns ausmacht und von anderen unterscheidet.“
Doch unmittelbar nach seiner Erklärung sickerten Nachrichten durch, dass die Mission nicht gerade von Erfolg gekrönt gewesen sein soll. „Es war eine wagemutige und komplexe Operation, aber sie ist gescheitert. Wir haben wohl versagt“ zitierte TV-Kanal Arutz 12 Mossad-Chef David Barnea noch am selben Tag. „Es wäre besser gewesen, nichts davon an die Öffentlichkeit durchdringen zu lassen“, hieß es ebenfalls in anderen Zeitungen mit Berufung auf eine Quelle im Verteidigungsministerium. „Leider gab es keinen Durchbruch.“ Ronen Merav, ein enger Freund von Ron Arad, der in diesem Jahr 63 Jahre alt geworden wäre, meinte dagegen im Armeeradio, dass er trotzdem dankbar sei, weil Israel „nicht ruht und die Suche nach Ron fortsetzt“. Leider geschah das alles mit wenig Erfolg. „Trotzdem hoffe ich, dass Ron Arad hören kann, dass wir weiter nach ihm suchen.“
Einen Tag nach Bennetts Verlautbarungen kamen weitere Details der Operation ans Tageslicht – diesmal übrigens dank der arabischen Presse. So hätte der Mossad einen iranischen General, dessen Name nicht genannt wurde, in Syrien gekidnappt und in ein ebenfalls namentlich nicht erwähntes Land in Afrika gebracht, um ihn dort über den Verbleib von Ron Arad auszufragen, so die in London erscheinende Online-Zeitung Rai al-Youm. Und plötzlich war auch von Kritik an der Mission in Israel keine Rede mehr. Arutz 12, also genau der TV-Kanal, der tags zuvor noch Barneas Unmut über die Veröffentlichung publik gemacht hatte, meldete nun, dass der Mossad-Chef den Ministerpräsidenten sogar darum gebeten haben soll, über die Mission zu sprechen. „weil Lob und die Anerkennung dafür, dass der Mossad, der sich für die Rückführung von Arad sowie anderer Gefangenen und Vermissten geopfert hat, für seine Mitarbeiter ebenso wichtig sind wie die Würdigung der Leistungen unserer Soldaten.“ Und die Tageszeitungen Yediot Aharonot als auch Israel HaYom zitierten auf einmal ungenannte „hochrangige Geheimdienstquellen“, die behaupteten, dass „der Mossad seinen Auftrag erfüllt hat“ und die Operation „eine der wichtigsten und erfolgreichsten Operationen zur Beschaffung von Informationen über Arad“ überhaupt gewesen sei.
All das ist Grund genug, sich noch einmal mit dem Schicksal von Ron Arad näher zu beschäftigen. Dieser war 1986 während eines Einsatzes über dem Südlibanon aus seinem Flugzeug abgesprungen, weil dieses durch eine frühzeitig explodierte Bombe schwer beschädigt worden war. Während der Pilot Yishai Aviram sich in Sicherheit bringen konnte, geriet Ron Arad wohl in die Hände der schiitischen Amal-Milizen. Anschließend sei er in den Iran gebracht worden und dann wieder zurück zurück in den Libanon. In den ersten zwei Jahren seiner Gefangenschaft gab es noch mehrere Lebenszeichen von ihm. Darunter waren Fotos und Briefe, der letzte abgeschickt am 5. Mai 1988. Um Ron Arad aus der Geiselhaft auszulösen, unternahm Israel einige äußerst spektakuläre Aktionen. Erst kidnappte ein Kommando 1989 den schiitischen Kleriker Abdel Karim Abeid, 1994 daraufhin Mustafa Dirani, den früheren Sicherheitschef der Amal-Milizen, der zu der ebenfalls schiitischen Hisbollah-Miliz übergelaufen war und bei dieser Gelegenheit – so lautet eine Version der Ereignisse – Ron Arad an die iranischen Revolutionsgarden übergeben haben soll. Von ihnen beiden jedenfalls erhoffte sich Israel nicht nur weitere Informationen über das Schicksal von Ron Arad. In Verhandlungen über einen möglichen Gefangenenaustauschs hätte Jerusalem diese beiden ebenfalls mit in die Waagschale werfen können.
In den Fall Ron Arad war aber auch Deutschland involviert. So wurde auf Bitten Israels hin der Geheimdienstkoordinator Bernd Schmidbauer als Vermittler eingeschaltet, weil dieser über einen guten Draht nach Teheran verfügte, was wiederum mit dessen Kontakten zu dem damaligen iranischen Nachrichtendienstchef Ali Fallahian zu tun hatte, gegen den seit dem Berliner Mykonos-Anschlag von 1992 in Deutschland ein Haftbefehl vorlag. Zudem hatte Schmidbauer bereits mehrfach deutsche Geiseln, die sich damals in der Hand der Mullahs befanden, erfolgreich aus dem Iran herausgeholt. Zwar gelang es ihm 1996, einen ersten Austausch von 45 libanesischen Gefangenen und mehr als 100 Leichen gegen die sterblichen Überreste von zwei israelischen Soldaten einzufädeln. Doch Ron Arad sollte sich nicht darunter befinden. Auch Ernst Uhrlau, Schmidbauers Nachfolger im Amt, bekam 2004 einen weiteren Deal zustande – diesmal zwischen Hisbollah und Israel. 430 Libanesen und Palästinenser sowie der Deutsche Steven Smyrek, der für die Schiiten-Miliz in Israel spionieren sollte, wurden dabei gegen einen lebenden und drei tote israelische Staatsbürger ausgetauscht – aber Ron Arad war ebenfalls nicht darunter.
2004 schließlich hatte der israelische Militärgeheimdienst Aman eine von Generalmajor Aharon Ze’evi Farkash geleitete Kommission ins Leben gerufen, die das Schicksal von Ron Arad endlich klären sollte. Diese kam zu dem Schluss, dass Ron Arad aller Wahrscheinlichkeit nach irgendwann zwischen 1993 und 1997 ums Leben gekommen ist. So war er wohl bis 1988 in der Gewalt des schiitischen Shukur-Clans, der in der Beqaa-Ebene lebt. Am 5. Mai soll es dort einen Angriff der israelischen Luftwaffe gegeben haben, den Ron Arad als Gelegenheit zur Flucht benutzt hatte. Erst nachdem er aufgespürt und wieder gefangen genommen wurde, sei er dann den iranischen Revolutionsgarden übergeben worden, die ihn nach Teheran verschleppten. Nach der Entführung von Mustafa Dirani scheint Ron Arad 1994 erneut in den Libanon gebracht worden sein, wo er schwer erkrankte und aufgrund der Tatsache, dass keine medizinische Versorgung erfolgte, kurze Zeit später verstarb.
Dieser Farkash-Report sollte ebenfalls Gegenstand eines Streits, werden weil die Ministerpräsidenten Ariel Scharon, Ehud Olmert und Benjamin Netanyahu sowie die Militärzensur die Veröffentlichung der Ergebnisse untersagten. Daraufhin drohte der Journalist Ronen Bergman damit, die ganze Angelegenheit vor den Obersten Gerichtshof zu bringen, woraufhin die israelische Regierung Details preisgab und erklärte, dass Ron Arad so lange als lebend gilt, bis überzeugende Beweise für das Gegenteil erbracht werden. 2006 schließlich geschah eine kleine Überraschung: Hisbollah-Anführer Hassan Nasrallah höchstpersönlich sprach von Ron Arad, seinem Tod und der Tatsache, das man nicht wüsste, was mit ihm nach seinem Ableben geschehen war. Dies sollte das erste Mal sein, dass sich die Schiiten-Miliz überhaupt zu dem Fall geäußert hatte. 2008 informierte der ebenfalls deutsche UN-Unterhändler Gerhard Konrad die israelische Regierung, dass die Hisbollah ihm gegenüber erklärt hätte, dass Ron Arad bereits bei seinem Fluchtversuch 1988 ums Leben gekommen sei.
Soviel zu den Hintergründen. Tami Arad, die Gattin von Ron Arad, hat auch eine ganz eigene Meinung zu den Vorgängen. Auf keinen Fall solle Israel einen „Preis“ für die Rückführung der sterblichen Überreste ihres Mannes zahlen, erklärte sie nach den ersten Meldungen über die Operation vom September. Dem vorangegangen waren Artikel in der Presse, die die Frage aufwarfen, ob es moralisch zu rechtfertigen sei, das Leben von Soldaten oder Geheimdienstmitarbeitern aufs Spiel zu setzen, nur um das Schicksal eines sehr wahrscheinlich Toten aufzuklären. Ihr jedenfalls war von höchster Stelle versichert worden, dass niemand bei der jüngsten Mission einem größeren Risiko ausgesetzt worden war, erklärte Tami Arad auf Facebook. Auch bei allen Versuchen in den Jahren zuvor sei niemand zu Schaden gekommen. „Wir haben darum gebeten und bitten auch weiterhin darum, die Suche nach Ron so lange wie möglich fortzusetzen. Aber nur unter der Bedingung, dass keine Gefahr für das Leben anderer besteht.“
Generell sind die Diskussionen über den „Preis“, den Israel regelmäßig dafür zahlt, um Gefangene, Gefallene oder Vermisste heimzuholen, anlässlich des zehnten Jahrestags der Befreiung von Gilad Shalit und durch die aktuelle Operation des Mossad im Fall Ron Arad neu entbrannt. Einerseits werden sie als Beweis für den seit langem geltenden Grundsatz der Armee verstanden, dass man seine Soldaten nie im Stich lässt. „Solche Deals stärken auch das Selbstbild von Israel als einer Nation, die das Leben ihrer Bürger so hoch schätzt, dass man bereit ist, um die ganze Welt zu reisen oder unzählige Gefangene freizulassen, nur um einen einzigen Bürger zu retten“, schreibt beispielsweise Tovah Lazaroff in der Jerusalem Post. Zugleich verweist sie auf die Kehrseite dieser Grundhaltung. „Für jedes Leben, das so gerettet wird, geht wahrscheinlich ein weiteres bei einem Terroranschlag verloren.“ Denn für einen einzigen lebenden oder toten Israeli werden oftmals hunderte von Palästinenser oder Libanesen freigelassen, an deren Händen Blut klebt und die anschließend erneut Anschläge verüben. Zudem würde dieses Prinzip Hisbollah, Hamas & Co. quasi dazu motivieren, israelische Staatsbürger gezielt als Geiseln zu nehmen, weil man ganz genau weiss, dass Jerusalem dadurch erpressbar wird. All das gelte es zu bedenken – was selbstverständlich nicht als Argument zu verstehen ist, das Schicksal von Ron Arad nicht endlich aufzuklären.
Foto: Ron Arad, (c) IDF, CC BY-SA 3.0