Blutige Bandenkriege und Familienfehden

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Die Serie der Gewaltverbrechen in den arabischen Kommunen Israels reißt nicht ab. Rein rechnerisch ereignet sich dort alle zwei bis drei Tage ein Mord. Immer mehr arabische Politiker, Bürgermeister und NGOs fordern vom Staat mehr Schutz.

Von Ralf Balke

Morde wie diese scheinen mittlerweile an der Tagesordnung. So ging Ende September der 25-jährige Alaa Sarsour nach einem harten Arbeitstag auf dem Bau zu der Vorhochzeitsparty einer Freundin in Taibeh. Alles war festlich geschmückt in der kleinen Gasse mitten in der Altstadt des arabisch-israelischen Städtchen, die Stimmung ausgelassen. Doch plötzlich fielen wie aus dem Nichts Schüsse, die den Bauarbeiter tödlich trafen sowie fünf weitere Gäste zum Teil lebensgefährlich verletzen sollten. Abgefeuert hatte sie ein Freund des Bräutigams, der zuvor ebenfalls auf der Feier anwesend war. Sein Motiv: Er befand sich im Streit mit einem anderen Mitglied der Familie von Sarsour. Doch es sind nicht nur solche mittelalterlich anmutenden Fehden zwischen einzelnen Clans oder sogenannte „Ehrenmorde“, die für Schlagzeilen sorgen. Die meisten Gewalttaten gehen auf das Konto von rivalisierenden kriminellen Kleinbanden, die in den Dörfern um Macht und Einfluss kämpfen und dabei sprichwörtlich über Leichen gehen.

Das Problem ist nicht wirklich neu. Nur hat es in den vergangenen Jahren eine Dimension angenommen, die die gesamte israelische Öffentlichkeit – unabhängig davon sie, ob Juden oder Araber sind – zutiefst schockiert. So wurde Anfang dieser Woche der 103. Mord seit Beginn des Jahres 2021 gezählt. Bald könnte damit die Zahl des Negativ-Rekordjahres 2020 übertroffen werden, als 113 arabische Israelis Opfer solcher Bluttaten wurden. Die allermeisten von ihnen wurden übrigens nicht einmal 30 Jahre alt. Somit geschehen über 70 Prozent aller Gewalttaten mit tödlichem Ausgang im arabischen Sektor Israels, und das, obwohl die israelischen Araber nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung repräsentieren. Aber auch andere Zahlen verweisen auf die Brisanz des Themas. Gerade einmal 22 Prozent aller Morde an israelischen Arabern werden aufgeklärt. Sind aber israelische Juden die Opfer, liegt die Quote bei 71 Prozent. Offensichtlich gibt es da eine Schieflage, die sich aber zum Teil durch mangelnde Polizeipräsenz, Benachteiligung bei der Vergabe öffentlicher Mittel oder sonstiger Diskriminierungen erklären lässt. Denn Streitigkeiten können leicht tödlich enden, weil die arabischen Gemeinden mit illegalen Waffen geradezu überschwemmt wurden. Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass es einige Hunderttausende davon sein könnten. „Niemand kennt die genauen Zahlen“, gab kürzlich Tomer Lotan, Generaldirektor des Ministeriums für öffentliche Sicherheit, zu.

Die Politik will Abhilfe schaffen. „Wir haben nun endlich damit begonnen, die Gewalt im arabischen Sektor systematisch anzugehen“, erklärte Ministerpräsident Naftali Bennett dieser Tage in der Knesset. „Aufgrund einer jahrelangen Vernachlässigung konnten innerhalb des Staates Israel Gebiete entstehen, in denen die Gesetze einfach nicht mehr gelten. Das wollen wir mit aller Entschlossenheit ändern.“ Über entsprechende Maßnahmen würde man jetzt verhandeln. Nun sind auch derartige Ankündigungen nicht zum ersten Mal zu hören. Immer wieder haben Politiker in der Vergangenheit mehr Schutz für die arabisch-israelischen Kommunen versprochen, geschehen ist bis dato eher wenig. Das hat verschiedene Gründe. Zum einen dominiert die Coronavirus-Krise weiterhin das Land, zum anderen lassen sich nicht auf die Schnelle entsprechende Kapazitäten aufbauen. Last but not least ist da aber auch noch das tiefe Misstrauen vieler israelischer Araber gegenüber allen staatlichen Autoritäten – auch das ein Hindernis bei der Umsetzung von Strategien zur Bekämpfung der Gewalt.

Aber die Rahmenbedingungen haben sich in den vergangenen Monaten geändert. Mittlerweile sitzt eine andere Regierung am Ruder, der Ministerpräsident heisst nicht länger Benjamin Netanyahu und mit an der Koalition beteiligt ist erstmals eine arabische Partei, die genau mit den Versprechen, für mehr Sicherheit im arabischen Sektor zu sorgen, um Stimmen gebuhlt hatte. Und die in der Opposition sich befindende Vereinte Arabische Liste und ihr Chef Ayman Odeh fordern ebenso mehr Schutz wie auch zahlreiche NGOs oder prominente Einzelpersonen im arabischen Sektor. So sorgte dieser Tage die israelisch-arabische Bloggerin Sheren Falah Saab für viel Aufmerksamkeit. Nachdem die 34-Jährige aus dem nordisraelischen Dorf Abu Snan wieder einmal in den Nachrichten von zwei nächtlichen Morden gehört hatte, twitterte sie auf Hebräisch #Arab_Lives_Matter, ein Hashtag, der sofort viral ging. Dabei war sie nicht die erste, die ihn in Anlehnung an sie amerikanischen Kampagne „Black Lives Matter“ verwendete. Vor Monaten bereits hatte die Abraham Initiatives, eine NGO, die die jüdisch-arabische Koexistenz stärken will, diesen ins Spiel gebracht. „Wir wollten so einen Beitrag dazu leisten, das Thema verstärkt in den Vordergrund der öffentlichen Diskussionen in der jüdischen Öffentlichkeit zu rücken“, so Thabet Abu Rass, Co-Direktor von Abraham Initiatives über die Motive. Doch anders als die Bewegung in den Vereinigten Staaten will sie mehr Polizei und nicht etwa weniger, womit der Unterschied zwischen beiden bereits auf den Punkt gebracht wird. Viele arabische Bürger fragen sich ohnehin, wieso ein technologisch so fortschrittliches Land wie Israel nicht in der Lage ist, die mafiösen Clanstrukturen zu zerschlagen. „Kann die israelische Polizei wirklich nichts gegen einen Haufen krimineller Banden unternehmen?“, fragte sogar Ayman Odeh anlässlich einer Demonstration vergangener Woche in Haifa, auf der mehr Polizeipräsenz in den arabischen Kommunen gefordert wurde. „Natürlich kann sie das, aber um es einfach auszudrücken, sie behandelt uns wie ihren Hinterhof.“

Und es sollten keine Soldaten sein, sondern eben Polizisten. Und wenn möglich auch solche, die selbst arabische Israelis sind und daher in der Bevölkerung in den arabischen Kommunen mehr Vertrauen genießen würden – selbst wenn einige davon bereits berichteten, dass sie Angst davor hätten, ihre Familien könnten dann ebenfalls in das Visier der kriminellen Banden geraten. Deshalb wird die jüngste Ankündigung von Bennett, nun die Streitkräfte und den Inlandsgeheimdienst Shin Bet im Kampf gegen die grassierende Gewalt einzusetzen, recht kritisch gesehen. Das Komitee der arabischen Bürgermeister in Israel etwa bezeichnete diese Entscheidung als äußerst problematisch. „Sie führt dazu, dass die arabische Bevölkerung als eine Bedrohung für Sicherheit betrachtet wird und nicht als gleichberechtigte israelische Bürger, die sich in einer Notlage befinden.“ Thabet Abu Rass teilt diese Ansicht. „Durch den Einsatz von Armee und Shin Bet entsteht der Eindruck, als ginge es bei der Bekämpfung der Gewalt um ein Problem der nationalen Sicherheit“, so der Abraham-Initiatives Co-Direktor. „Es handelt sich aber eine Frage der persönlichen Sicherheit.“ Bennett dagegen verteidigte seinen umstrittenen Ansatz. „Die arabische Öffentlichkeit muss endlich verstehen, dass die Sicherheitskräfte nicht ihr Feind ist, sondern die Lösung des Problems“, erklärte er auf einer Sitzung des Sonderausschusses des Ministeriums, der am Sonntag stattfand, um über die Gewalt im arabischen Sektor zu diskutieren.

Was sich aus Sicht mancher Akteuere bereits zum Positiven veränder hat, ist jedenfalls die Aufmerksamkeit, die das Thema mittlerweile erhält. So sagte Sheren Falah Saab, dass sie in letzter Zeit einen Wandel in der Art und Weise beobachten konnte, wie alle relevanten Medien in Israel mittlerweile über die Welle der Gewalt in den arabischen Kommunen berichten würden. Anders als früher werden jetzt beispielsweise regelmäßig Interviews mit trauernden Eltern geführt. Zudem erhalten Vertreter der arabischen Bevölkerung deutlich häufiger Einladungen zu Talk-Runden und treten im Fernsehen auf, wo sie Gelegenheit haben, ihre Standpunkte zu erläutern und die Probleme zu schildern. Vielleicht ist dies der Anfang eines notwendigen Wandels, so die Bloggerin gegenüber Ynet. „Letztendlich aber müssen wir sehen, welche Politik die Entscheidungsträger dann machen.“

Die mafiösen Clanstrukturen sorgen aber für ein weiteres Problem. Manche Gelder der von Regierungsseite beschlossenen Maßnahmen, um die soziale Kluft zwischen den arabischen und jüdischen Kommunen zu verringern, landeten ebenfalls in ihren Taschen. Das war bereits bei dem 2016 verabschiedeten Paket in Höhe von 10 Milliarden Schekel, also rund 2,5 Milliarden Euro, der Fall. Und auch das aktuell neu aufgelegte Programm für die Verbesserung der Infrastruktur im arabischen Sektor mit einem rekordverdächtigen Volumen von 35 Milliarden Schekel, etwa 8,7 Milliarden Euro, könnte einige Mafia-Bosse noch reicher machen, obwohl ein Teil des Geldes explizit für die Kriminalitätsbekämpfung vorgesehen ist, und zwar mehr als zehn Prozent. Damit will man den Gangs an den Kragen, neue Polizeistationen bauen und mehr Personal einstellen. „Wir sind der Meinung, dass der Kampf gegen die Kriminalität auf zwei Säulen basieren muss“, so Hassan Tawafrah, der ein Regierungsbüro leitet, das die wirtschaftliche Entwicklung der arabischen Israelis voranbringen soll. „Zum einen auf der Stärkung der Polizei und zum anderen auf der wirtschaftlichen Entwicklung, wobei vor allem die Ausbildung junger Menschen wichtig ist.“ Auf diese Weise will man den Gangs das Wasser abgraben.

Ansätze gibt es reichlich: Rund 200 Millionen Schekel, ungefähr 50 Millionen Euro, sollen beispielsweise in die Stadtplanung fließen, da Streitigkeiten über Land nach Ansicht von Experten eine der Hauptursachen für die Mordserie sind. Aber auch Programme zur Bekämpfung von Gewalt an den Schulen oder Initiativen zur Förderung junger Arbeitsloser werden unterstützt. Ob das funktioniert, muss sich noch zeigen. Denn die kriminellen Banden hatten es in der Vergangenheit immer wieder geschafft, durch die Bedrohung arabischer Bürgermeister oder mittels Bestechung die Aufträge für manches Infrastrukturprojekt an Land zu ziehen. Jetzt, wo noch mehr Gelder im Spiel sind, könnte die Versuchung besonders groß sein, lokale Politiker zu erpressen, um kräftig abzusahnen. Das würde wiederum eines bedeuten: Falls die Kontrolle über die vergebenen Finanzmittel sich als lückenhaft erweisen sollte und der Schutz von Entscheidungsträgern im arabischen Sektor nicht gewährleistet werden kann , dürfte die Gewalt eher zu- als abnehmen.

Bild oben: Zehn der Mordopfer aus dem Jahr 2021, Foto: Polizei Israel