Die Toten sind nicht vergessen

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Krasnodar, Russland. Eine Exhumierung durch medizinisches Personal, Juli 1943, Foto: Archiv Yad Vashem

Am 22. Juni 1941 begann der Überfall des Deutschen Reiches auf die Sowjetunion…

Von Alexander Schneidmesser

„Ich wurde am 20. September 1923 in Leningrad geboren und war Sowjetbürgerin.

Ich war Jüdin, nicht nach der Religion, sondern nach der Nationalität.

Seit 1939 war ich an der Universität Leningrad immatrikuliert und studierte dort Kunstgeschichte. Seit August 1941 erlebte ich den ganzen Horror, der durch die Belagerung Leningrads (durch die Deutschen) verursacht wurde.

Im April 1942 kam es dann zu einem Ausbruch (aus dem Kessel von Leningrad) und ich wurde in den Kaukasus, nach Yessentuki, evakuiert. Im August 1942 besetzten die Deutschen dieses Gebiet. Um Brotkarten zu bekommen, mussten die Juden registriert werden und alle Registrierten mussten sich zur Arbeit anmelden, und dann wurden sie gezwungen, den gelben Fleck zu tragen. Am Anfang kam die Wehrmacht, einen Monat später die SS, und dann wurden alle Juden und Halbjuden, die sich nicht verstecken konnten, abgeschlachtet. Freunde versteckten mich und andere Freunde kauften mir Papiere auf den Namen Claudia Abdejewna, geboren 1921. Meine Anwesenheit brachte meine Freunde in Gefahr, denn viele Leute in der Stadt wussten, dass ich Jüdin war.“

Das ist eine Aussage der Zeitzeugin Ludmila Dulberg, die den Holocaust in der Kleinstadt Yessentuki überlebt hatte. Die Stadt liegt im Nordkaukasus, in Russland, weit entfernt von den bekannten Schauplätzen des Holocaust, Riga, Babi Yar oder gar Auschwitz – Birkenau. Auschwitz steht oft stellvertretend für den Holocaust. Als Todesfabrik, in der vorwiegend jüdische Menschen systematisch und industriell ermordet wurden.

Auschwitz überdeckt dabei oft die 2,5 Millionen Juden, die durch Pistolen- und Maschinengewehrkugeln umgebracht wurden. Darunter auch die Juden, die in Yessentuki ermordet wurden. 

Die Täter waren Mitglieder der Einsatzgruppen, der SS, der Polizei, der Gestapo, der Wehrmacht, der Marine, sowie lokale Kollaborateure, die direkt nach dem deutschen Einmarsch  in die Sowjetunion an der Erschießung von Juden hinter der Front beteiligt waren und später während der Besatzung der UdSSR, von 1941 bis 1944, ihr tödliches Handwerk fortsetzten.

Als Historiker arbeite ich in Yad Vashem am „Moshe Mirilashvili Zentrum zur Erforschung des Holocaust in der UdSSR“.

Dabei geht es um die Aufrechterhaltung der Erinnerung an die Juden, die in solchen „Aktionen“ ermordet wurden. Es geht nicht nur um Erforschung des Tathergangs, sowie die Ermordung der חüdischen Bevölkerung, sondern es geht ebenso um die Rekonstruktion der Geschichte der jüdischen Bevölkerung vor dem Zweiten Weltkrieg  in Russland, der Ukraine, Weißrusslands und den drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen.

Es gab auch Orte, wo es kein jüdisches Leben vor dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion gab und auch dort wurden Juden ermordet, die vor den Nazis geflohen oder evakuiert worden sind. Südlich der Stadt Stalingrad (heutiges Wolgograd) im Nordkaukasus, in der die endgültige Kriegswende passierte, wurde die evakuierte jüdische Bevölkerung systematisch durch die Wehrmacht, die Einsatzgruppen, sowie mit Hilfe der ukrainischen und russischen Kollaborateure ermordet.

In Städten, wie Rostow am Don, Stawropol oder Krasnodar hatte man hermetisch abgeriegelte Gaswagen eingesetzt, oder man verwendete Panzergräben, sowie neu ausgehobene Gräben, um vorwiegend jüdische Menschen mit Maschinengewehrfeuer zu ermorden.

Krasnodar, Leichen von Kindern, die mit vergast Kohlenstoffmonoxid wurden, Foto: Archiv Yad Vashem

Ebenso wurden in den kleinen Städtchen, Dörfern und Kolchosen, jüdische und nichtjüdische Menschen, sowie Kommunisten und sowjetische Kriegsgefangene, systematisch ermordet.

Um die Forschung zu bewerkstelligen arbeiten wir mit Tagebüchern und Zeugenaussagen von Holocaustüberlebenden.

Viele dieser Verbrechen wurden im Rahmen von Kriegsverbrecherprozessen in Deutschland, wie in diesem Fall in München vor Gericht ausgesagt. So erzählt ein volksdeutscher Zeitzeuge 1970 im Prozess gegen Max Drexler über die Erschießung in der Metropole Stawropol:

„Die Erschießung soll an einem etwa 100 Meter langen und einem etwa 2 Meter breiten Graben durchgeführt worden sein. Die Juden wurden an der Längsseite des Grabens aufgestellt und wurden meines Wissens mit Pistolen in den Graben geschossen.

Sobald ein Stück des Grabens mit Leichen gefüllt war, wurde darauf ein Brett gelegt, die Opfer, alle waren nackt, mussten sich auf das Brett stellen und wurden in den Graben geschossen. Sobald auch diese Stelle wieder voll war, wurde das Brett wieder weitergeschoben.

Der Vorgang wiederholte sich dann wieder und wieder.

Die Opfer waren jüdische Männer, Frauen und Kinder, alle sollen nackt gewesen sein.

Auch ein Russe, der eine Jüdin zur Frau hatte, wurde vom SD erschossen, da er sagte, wenn meine Frau erschossen werden solle, so kann ich auch erschossen werden. Von den SD-Angehörigen sollen nackte hübsche jüdische Mädchen fotographiert und erst dann erschossen worden sein.“

Max Drexler war einer der Hauptverantwortlichen an den Massakern an den Juden in der Stadt Stawropol. Die Einsatzgruppe D war maßgeblich verantwortlich für die systematische Ermordung von Juden in der Südukraine und im Kaukasus. 

Ust-Labinskaya, Russland. Monument für Abram Pinkenzon, Foto: Archiv Yad Vashem

An den Orten der Ermordung der Juden, nicht nur im Nordkaukasus, wurden nach dem Krieg an vielen Tatorten der Deutschen und ihrer Helfer, Monumente zur Erinnerung an die Massaker errichtet.

Die meisten Monumente und Grabsteine für die ermordeten Juden wurden auf private Initiative der Überlebenden,  ihrer Verwandten und ihrer Nachkommen erbaut und später, vor allem in Städten, durch sowjetische Propagandadenkmäler ersetzt.

Aufgrund der antisemitischen und antizionistischen Politik der ehemaligen UdSSR relativierte und marginalisierte man den Holocaust. Nach dem Zerfall der UdSSR im Jahre 1991 änderte sich die Erinnerungskultur in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion.

Eine große Anzahl von Initiativen, Stiftungen, Vereinen, Institutionen und Organisationen sind seitdem daran beteiligt, die Erinnerung an der Ermordung an den Juden in der ehemaligen Sowjetunion wach zu halten.

Darunter Yad Vashem, der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge e V., der Jüdische Kongress Russlands, das Ukrainische Zentrum für die Erforschung des Holocaust, sowie das Auswärtige Amt und das American Jewish Committee. Sie arbeiten daran, dass Monumente erbaut, gepflegt und Instand gehalten werden.

Das Ergebnis dieser Arbeit lässt sich ebenso in Zahlen fassen: 1500 Mordstätten sind schon online gestellt, das sind ca. 50 Prozent aller Tatorte der deutschen Besatzer auf dem Territorium der ehemaligen Sowjetunion in den Grenzen von 1941.

Diese Arbeit beweist, dass die Toten des Holocaust nicht in Bedeutungs- und Trostlosigkeit versunken sind, auch im Nordkaukaus. In digitaler Form, durch Gedenksteine und Monumente, sowie vor Ort wird an diese Menschen erinnert. Das Ergebnis unserer Forschungsarbeit ist öffentlich zugänglich und für jeden interessierten Menschen einsehbar.

Das Projekt trägt den Titel „The Untold Stories. The Murder Sites of the Jews in the occupied Territories of the former USSR“ und ist auf der Internetseite der Holocaustgedenkstätte Yad Vashem zu finden.

Alexander Schneidmesser (M.A.) ist Historiker und Guide in Yad Vashem, Jerusalem.

Bild oben: Krasnodar, Russland. Eine Exhumierung durch medizinisches Personal, Juli 1943, Foto: Archiv Yad Vashem