„Steht nicht, Brüder, löscht das Feuer! Zeigt, dass ihr das könnt!“

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Dalia Schaechters CD über Mordechai Gebirtig

Von Roland Kaufhold

In Israel sei er in Fachkreisen berühmt, auf Gedenkveranstaltungen werden seine Lieder vorgetragen, schrieb man in deutschen Magazinen zu Mordechai Gebirtigs runden Geburtstagen. Diese Hoffnung auf eine öffentliche Rezeption dieses 1877 in Krakau geborene jüdisch-polnische Dichter und Komponist mag eine Illusion sein.

„Einige seiner Lieder waren mir schon lange vertraut, weil sie in Israel sehr bekannt sind“, bemerkt die in Israel aufgewachsene und seit 25 Jahren an der Kölner Oper arbeitende Opernsängerin Dalia Schaechter. Die meisten seiner Lieder kenne jedoch auch in Israel niemand. Von einigen seien auch niemals Aufnahmen veröffentlicht worden. Dalia Schaechter beschloss, diesem Vergessen Mordechai Gebirtigs etwas entgegen setzen. Soeben hat sie eine CD mit 19 seiner Lieder erstellt; sie als Mezzosopransängerin und Christian von Götz an der Gitarre.

Mordechai Gebirtig interessierte sich früh für die Literatur. Mit knapp 30 Jahren publizierte er in linken, anarchistischen und literarischen Magazinen, etwa im Magazin des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes, der Freien Arbeiterstimme sowie in der Theaterzeitung.

Der gelernte Tischler und passionierte Autodidakt verfasste seine Texte und Lieder nur nebenbei, nach der Arbeit. Sein wichtigstes Hilfsinstrument war eine kleine Flöte; die trug er immer mit sich herum zu tragen. Noten Lesen vermochte er hingegen nicht. Er komponierte seine warmherzigen, dem Leben zugewandten Lieder auf seiner Flöte, teils direkt an seinem Arbeitsplatz. Selbst in einer religiösen Familie aufgewachsen wurde Gebirtig zum Kämpfer für Arbeiterrechte. Anfangs schrieb er nur Gedichte, so 1905 Der Generalstreik, ab 1914 auch eingängige Melodien.

1920 erschien mit Folkstimlech Gebirtigs erste Liedersammlung, es folgten Kinderlieder, Lieder aus dem Arbeitsleben, dem Leben in einer Vorstadt Krakaus, ungarische Volkslieder und Schlaflieder. Letztere widmete er seinen drei Töchtern. Vom musikalischen Stil her vereint sein Gesamtwerk eine Mischung aus Zärtlichkeit, Poesie bis hin zur Agitation – bei seinen Arbeiterliedern – , was von Dalia Schaechter auf der CD in hinreißender Weise zum Ausdruck gebracht wird.

Finanziell lohnte sich das Engagement des musikalischen Talentes nicht: Er soll nur ein einziges mal 50 Dollar für die Rechte an zwei Liedern erhalten haben. 1936, da war er 59, finanzierte der Arbeiterbund eine Ausgabe mit 53 Liedern, ein Freund notierte hierfür die Noten.

Als die Verfolgung durch die Nazis begann versteckte er sich bei Bauern. Er gab nicht auf, schrieb auch im Untergrund über ein Dutzend neue Lieder, verlieh seinen Mitleidenden hierdurch die Kraft zum Weiterleben. Die Lieder schufen das Gefühl einer Solidarität, einer Verbundenheit gegen den drohenden Untergang. Die gemeinsame Freude war seine Form des politischen Widerstandes in einer verzweifelten Lebenssituation. Eines seiner letzten Stücke lautete Im Ghetto. Im Juni 1942 wurde der 65-jährige Mordechai Gebirtig bei einer antisemitischen Aussiedleraktion im Krakauer Ghetto auf offener Straße erschossen. Gebirtigs Manuskripte, sieben Notizbüchern mit Liedern und Gedichten, konnten hingegen von den Kindern des Krakauer Komponisten Jan Hofmann (1906-1985) – Julia und Anne Hofmann – aus dem Lager geschmuggelt und in einem Kohlekeller versteckt werden; Hofmann war es gewesen, der bei der Notation von Gebirtigs Liedern maßgeblich beteiligt war. Auch Gebirtigs Tochter Lola war an der Rettung beteiligt: Sie wurde gemeinsam mit ihren beiden Schwestern Chawa und Schifra im Juni 1942 deportiert, alle drei wie der Rest der Familie Gebirtig wurden ermordet. Nach Kriegsende gelang es den Hofmanns die Manuskripte aus dem Kohlekeller zu bergen und nach Israel bringen zu lassen, wo sie in einem Archiv des Kibbuz Givat Haviva und des YIVO-Institute for Jewish Research aufbewahrt wurden, wie Seltmann (2018) beschrieben hat. 

Krakau war am 6.9.1939 während des deutschen Überfalls auf Polen von deutschen Truppen erobert worden. Im südlichen Teil Krakaus war auf Befehl des SS-Gruppenführers Otto Wächter im März 1941 mit dem Aufbau eines jüdischen Ghettos begonnen worden. In dem 400 mal 600 Meter großen Gebiet wurden 15.000 Juden zusammengepfercht, 6000 Juden wurden ins Vernichtungslager Belzec und von dort weitere nach Auschwitz verfrachtet. Am 13.3.1943 wurde das Ghetto liquidiert.

Gelegentliche Wiedererinnerung

In Musikkreisen begann vor 40 Jahren eine partielle Erinnerung an seine Lieder. Manfred Lemm sammelte Liedtexte, Uwe von Seltmann legte 2018 eine opulente Biografie vor. Wolf Biermann, die Zupfgeigenhasel und der amerikanische Folk-Punk-Barde Daniel Kahn vertonten einige von Mordechais Stücken. So wurde zumindest sein Name und einige seiner 120 Lieder wieder erinnert. Einige von ihnen wurden von New York bis nach Kanada Ohrwürmer, sein Name jedoch blieb einer breiten Öffentlichkeit weiterhin verborgen.

Immerhin: Seit 2014 erinnert eine kleine Gedenkstätte im Keller von Gebirtigs Geburtshaus an dessen musikalisches Wirken, angeregt durch den Freundeskreis um Lemm und Seltmann; die zaghaften Bemühungen um ein Wiedererinnern und seine Vita wurden 2018 auch filmisch in berührender Weise dokumentiert.

Undzer shtetl brennt, von Dalia Schaechter in großer Inbrunst auf der CD gesungen, verbreitete sich im Krakauer Ghetto und wurde zu einer inoffiziellen Hymne der jüdischen Widerstandskämpfer.

Sein letztes Lied, einige Tage vor seiner Ermordung verfasst – „Es ist gut, es ist gut“ – , gibt der Hoffnung auf eine Niederschlagung der Todfeinde Ausdruck.

Hey Klezmorim!

Zu den Lieder der CD: In Hey Klezmorim! ruft der seelisch niedergeschlagene Sänger die Klezmorim – die Musikanten – dazu auf, ihn aufzuheitert: „Hej Musiker, gute Brüder, ihr bekommt von mir auch Wein“, dafür sollen sie ihm ein fröhliches Lied aufspielen, das „schläfert meine Depression ein.“ Und doch gelingt dies nicht, „es weint die Flöte, es weint die Fiedel, alles um mich weint“ heißt es im Ausklang.
„Undzer shtetl brent, 1936 nach dem Pogrom in Przytyk verfasst, ist Gebirtigs bekanntestes Stück. „Es brennt! Brüder, es brennt, Oj unser armes Shtetl brennt!“, heißt es. Es folgt ein verzweifelter Aufruf zum Widerstand: „Steht nicht, Brüder, löscht das Feuer! Löscht es mit eurem eigenen Blut!“

Kinder-yorn – Kinderjahre ist eines seiner an eine glückliche Kindheit erinnernden Stücke: „Ewig bleibt ihr wach in meiner Erinnerung“ heißt es hierin. Im Sänger lebt die Erinnerung an seine Mutter weiter, „Meine Mutter, ach, ich habe sie geliebt. Obwohl sie mich in die Schule (chejder) getrieben hat.“ Trili trilili erzählt von der Liebe in Zeiten der Armut: „Eine traurige, junge Braut klagt: Sitzt ein Vögelchen auf dem Baum.“

Di Gefalene – Die Gefallene erzählt von einer an Tuberkulose erkrankten Prostituierten. Avremel der Taschendieb kennt nur die Not, die Gosse hat ihn erzogen. Auf seinem Grabstein soll stehen: „Hier liegt Avreml, der fähigste Verdiener, ein großer Mensch wäre sicherlich aus ihn geworden, wenn Mutters Augen über ihn gewacht hätten.“

Dray tekhterlekh – Drei Töchterchen ist eine Hymne an seine Töchter Shifre, Chava und Lola. Als auch Lola heiratet fühlt er die Einsamkeit: „Spielt Musiker, heraus unsere Tränen, das letzte Bettchen wird heut leer bleiben, oj wej, allein und bang.“

Dalia Schaechter & Christian Götz: Nu Gey – Ikh Bleyb. Yiddish songs by Mordechai Gebirtig, Ars Produktion 2020, 73 Min., 18,00 €, Bestellen?

Link-Tipps:

Gespräch der Intendantin der Kölner Oper, Birgit Meyer, mit Dalia Schaechter über ihre jüdische Biografie im Rahmen von #2021JLID: 

„Die in Köln lebende Opernsängerin Dalia Schaechter liest derzeit das neue Buch von Peter Finkelgruen, ›Soweit er Jude war …‹ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes – Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944, und sagt: „Als ich 1986 als junge Israelin nach Deutschland kam, um Gesang an der Musikhochschule in München zu studieren…““ Jüdische Allgemeine, 28.5.2020.

„Mazeltov, Rachel’e“ – Porträt der Sängerin Dalia Schaechter

Literatur:
Uwe von Seltmann: Es brennt. Mordechai Gebirtig, Vater des jiddischen Liedes. Erlangen: Homunculus Verlag.
Website von Uwe von Seltmann: https://uwevonseltmann.wordpress.com/
Joachim Scholl (2019): Biografie über Mordechai Gebirtig – Ohrwürmer für den jüdischen Widerstand, Deutschlandfunk, 22.8.2019: https://www.deutschlandfunkkultur.de/biografie-ueber-mordechai-gebirtig-ohrwuermer-fuer-den.1270.de.html?dram:article_id=456962
Manfred Lemm (1992): Mordechaj Gebirtig. Jiddische Lieder. Wuppertal: Edition Künstlertreff.
Gertrude Schneider (Hg.) (2000): Mordechaj Gebirtig: his poetic and musical legacy. Praeger, Westport/Connecticut.
Friedhelm W. Kessler: Wer war Mordechai Gebirtig? Dokumentarfilm. Internet: https://www.youtube.com/watch?v=RkJ_1IKCoaA