Kahanes Erben

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Foto: Guy Butavia

Seit Tagen kommt es nicht nur in Jerusalem zu Auseinandersetzungen zwischen Aktivisten der rechtsextremen Organisation Lehava sowie gewaltbereiten Palästinensern. Seither ist die Lage angespannt. Soziale Medien wie Tiktok und andere soziale Netzwerke spielen bei der Eskalation eine wichtige Rolle…

Von Ralf Balke

Jetzt finden die Übergriffe auch außerhalb von Jerusalem statt. So gingen in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in Beit Iksa, einem kleinen Dorf im Westjordanland, gleich drei Fahrzeuge in Flammen auf. Und die Brandstifter hinterließen auch ihre Visitenkarten, diesmal in Form von auf die Straße gesprayten Parolen wie „Juden, lasst uns siegen“ sowie „Tiktok“. Die Polizei sowie der Inlandsgeheimdienst Shin Beit haben die Ermittlungen aufgenommen. Dass der Name des internationalen Videoportals in diesem Zusammenhang auftauchte, ist alles andere als ein Zufall. Denn längst macht das Schlagwort von der „Tiktok-Intifada“ die Runde. Immer wieder tauchten dort in den vergangenen Tagen Aufnahmen auf, die zeigen, wie junge Palästinenser in Jerusalem orthodoxe Juden belästigen, beleidigen und auch Gewalt anwenden.

Eines der Opfer war der 15-jährige Yedidia Epstein. Er berichtete, dass er mitten auf einer belebten Straße in Jerusalem vor den Augen mehrerer Polizisten auf den Boden gestoßen und geschlagen wurde. „Ich habe in der Nähe des Damaskustors gefilmt und plötzlich erschien ein arabischer Jugendlicher und prügelte auf mich ein“, so Epstein gegenüber Ynet. Auf einem weiteren Tiktok-Video, das unzählige Likes erhalten hatte, sind ebenfalls Palästinenser zu sehen, wie sie in der Straßenbahn in Jerusalem junge Orthodoxe gleich reihenweise ohrfeigen und dabei offensichtlich viel Spass haben, Juden zu demütigen.

Zweifelsohne spielten diese TikTok-Videos eine wichtige Rolle bei den jüngsten Auseinandersetzungen in Jerusalem. So hatten die zumeist ebenfalls juvenilen Anhänger der rechtsextremen Organisation Lehava diese explizit zum Anlass genommen, um ebenfalls zur Gewalt aufzurufen. Rund 300 von ihnen zogen beispielsweise vergangenen Donnerstag durch die Altstadt von Jerusalem, wobei sie Slogans wie „Tod den Arabern“ brüllten. Wie erwartet kam es dabei zu Zusammenstößen mit Palästinensern sowie der Polizei. Zwar gaben sich die Beamten alle Mühe, um beide Gruppen zu trennen und die Demonstrationen aufzulösen. Trotzdem zählte man am Tag darauf dutzende Verletzte auf allen Seiten, darunter auch 20 Polizisten. Der Zeitpunkt des provokativen Aufmarsches von Lehava war ebenfalls nicht willkürlich gewählt – schließlich ist gerade Ramadan, weshalb die Stimmung in israelischen Hauptstadt wie eigentlich jedes Jahr um diesen Fastenmonat herum ohnehin recht angespannt ist.

Man sollte aber nicht glauben, dass allein Krawall bereite Araber sich über soziale Plattformen vernetzen und gegenseitig hochschaukeln. „Wir sehen da aktuell nur die Spitze des Eisbergs“, betont Dr. Tehilla Shwartz Altshuler vom Israel Democracy Institute. Die jüdischen Demonstranten sind ihrer Einschätzung zufolge ebenfalls gut miteinander verbunden, jedoch eher über WhatsApp und Telegram. „Und diese Plattformen sind nicht so offen von außen einsehbar wie Tiktok. Nur Personen, die miteinander verlinkt sind, können Inhalte sehen und teilen. Deshalb ist es schwieriger zu erkennen, was dort passiert.“ Auch der öffentlich-rechtliche Sender Kan berichtete von Lehava-Whatsappgruppen-Nachrichten wie: „Heute werden wir Araber verbrennen, die Molotowcocktails sind schon in der Tasche.“ Außerdem sei der Zusammenhang zwischen Gewalt und sozialen Netzwerken keinesfalls ein neues Phänomen – nur ist Lehava seit Oktober 2020 aufgrund seiner radikalen Botschaften auf Tiktok gesperrt.

Bemerkenswert sind ebenfalls die Reaktionen auf die Ereignisse. „Arabische Übergriffe gegen Juden sind in letzter Zeit ein häufiger Anblick in Israel geworden“, twitterte beispielsweise Ayelet Shaked von der rechten Yamina-Partei. „Polizei und Gerichte müssen mit eiserner Faust gegen diese Randalierer vorgehen, damit Recht und Ordnung wiederhergestellt werden.“ Die Aktivisten von Lehava erwähnte sie dabei mit keinem einzigen Wort. Anders dagegen Yair Lapid. „Wir lassen es nicht zu, dass gewalttätige arabische und jüdische Extremisten, Araber und Juden in Jerusalem gerade alles versuchen, uns wieder gegeneinander aufzuhetzen“, so der Vorsitzende der zentristischen Yesh Atid-Partei. Die aktuellen Ausschreitungen in Jerusalem und anderswo sind ebenfalls Gegenstand der endlosen Koalitionsverhandlungen. Denn die Extremisten von Lehava sitzen neuerdings auch in der Knesset, und zwar in der Listenverbindung der Religiösen Zionisten, deren Vorsitzender wiederum Bezalel Smotrich ist. Und je nachdem wie sich die einzelnen Parteien verständigen werden, ist es nicht ausgeschlossen, dass Personen aus dem Umfeld von Lehava mit am Regierungstisch setzen werden.

Gründe für diese Entwicklung gibt es einige: Smotrich selbst hatte keinerlei Bedenken, sich im Januar mit den Splittergruppen Noam und Otzma Yehudit zusammenzutun, deren Agenda offen LGBTI-feindlich ist, sich gegen jede Form von sozialen Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden richtet und eine Vertreibung von allen Arabern aus dem Staatsgebiet Israels, zu dem ihren Vorstellungen zufolge ebenfalls das gesamte Westjordanland gehört, propagiert. Auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu forcierte diesen Merger innerhalb des religiös-zionistischen Spektrums, damit in den Wahlen vom März keine einzige rechte Stimme verloren geht – im Alleingang nämlich hätten die beiden Miniparteien niemals die 3,25-Hürde und damit den Einzug in das Parlament geschafft. „Dieser Schritt ist gleichbedeutend mit einem US-Präsidenten, der einen politischen Deal mit David Duke, dem ehemaligen Klu-Klux-Klan-Führer, eingeht“, lautet dazu der treffende Kommentar auf dem Nachrichtenportal Axios. „Netanyahu und die regierende Likud-Partei legitimieren damit eine rassistische, fremdenfeindliche und homophobe Randpartei in der Hoffnung, dass ihr Rechtsblock eine Mehrheit von 61 Sitzen erreichen wird.“ Nun sitzen auch dank Netanyahus Hilfe Abgeordnete in der Knesset, deren Verständnis von Politik weitestgehend deckungsgleich mit der Ideologie von Lehava ist. Der Name selbst ist übrigens ein Akronym und steht für LeMeniat Hitbolelut Be’eretz HaKodesh, was so viel wie Prävention vor der Assimilation im Heiligen Land bedeutet und zugleich ihr Program ist.

Genau diese Art von Segregation versuchen die Lehava-Leute in die Tat umzusetzen. Entsprechend lang ist die Liste ihrer „Interventionen“. 2010 versuchten sie das israelische Supermodell Bar Refaeli davon zu überzeugen, ihre Beziehung mit dem nichtjüdischen Schauspieler Leonardo DiCaprio zu beenden. Auch Facebook-Chef Mark Zuckerberg wurde von ihnen bereits mit nervigen Petitionen bedacht, weil seine Partnerin Priscilla Chan keine Jüdin ist. Das mag alles nach harmlosen Spinnereien einiger Verrückter klingen, aber Lehava-Anhänger können auch anders: In Israel sind sie immer wieder auf Hochzeiten zwischen Juden und Nichtjuden aufgetaucht, um diese zu sprengen, was nicht selten in handfesten Schlägereien mündete. Und Yitzhak Gabai, einer ihrer Aktivisten, fackelte 2014 in Jerusalem die jüdisch-arabische Max Rayne Hand in Hand School ab, wobei er gesprayte Botschaften wie „Es kann keine Koexistenz mit dem Krebs geben“, „Tod den Arabern“ sowie „Kahane hatte Recht“ hinterließ.

Diese „Kahane hatte Recht“-Phrase gehört stets zum Mantra von Lehava und verweist auf den ideologischen Ziehvater der Organisation, und zwar den radikalen Rabbi Meir Kahane. 1971 war er aus den Vereinigten Staaten nach Israel eingewandert, hatte dort mit „Kach“ eine Partei gründete, die es bei den Wahlen 1984 – damals gab es lediglich eine Ein-Prozent-Hürde – in die Knesset schaffte, der man aber kurze Zeit später aufgrund ihrer rassistischen Agenda die weitere Teilnahme an Urnengängen gerichtlich untersagte. Kahane selbst wurde 1990 ermordet. Interne Querellen sorgten dafür, dass sich „Kahane Chai“, zu Deutsch: „Kahane lebt“, von „Kach“ abspalten sollte, beide jedoch 1994 auf Basis der Antiterrorgesetze verboten wurden.

Nichtsdestotrotz agierten Personen, die ihre politische Sozialisation bei „Kach“ erlebt hatten, mehr oder wenige offen weiter, allen voran Ben-Zion Gopstein, der spätere Lehava-Gründer, und Itamar Ben Gvir. Sie stachelten zum Mord an Yitzhak Rabin auf und verehrten zugleich Baruch Goldstein, der 1994 in Hebron 29 Palästinensern erschossen hatte. Besonders stolz ist Itamar Ben Gvir auf eine Tat als jugendlicher Rechtsaußen-Aktivist: Er hatte 1995 das Logo von Rabins Dienstfahrzeug abgerissen und erklärt: „Wir sind an Rabins Wagen herangekommen, dann kriegen wir auch bald Rabin selbst.“ 2005 kam es dann zur Gründung von Lehava als Sammelbecken aller national-religiösen Extremisten, Homophoben sowie Gegner jeglicher engeren Kontakte mit den „Goyim“. Rund 10.000 Personen werden diesem Umfeld zugerechnet. Einige hundert von ihnen waren jetzt an den gewalttätigen Ausschreitungen in Jerusalem beteiligt, darunter auch Ben-Zion Gopstein. Aber im Unterschied zu früheren Provokationen haben sie nun Fürsprecher in der Knesset. Prompt auch forderte Itamar Ben Gvir, Rechtsanwalt und Vorsitzender von Otzma Yehudit, die Polizei dazu auf, die Lehava-Aktivisten ungehindert bei ihrem Gewaltexzess in der Altstadt gewähren zu lassen.

Am Montag hielt Itamar Ben Gvir, der bereits in jungen Jahren wegen Anstiftung zur Gewalt sowie Unterstützung einer Terrororganisation verurteilt worden war, auch seine erste Rede in einem Knesset-Plenum. Das war insofern interessant, weil er dort nicht nur von dem Mord an Rabbi Meir Kahane vor über 30 Jahren als eine „Hinrichtung“ schwadronierte, die auf das Konto der Medien gehen würde, sondern ebenfalls ungebremst von den vermeintlichen Leistungen des radikalen Rabbis schwärmte. Bis dato hatte sich Itamar Ben Gvir immer noch bemüht, eine Art Minimalabstand zu Kahane zu bewahren und wollte ihn keinesfalls als seinen Mentor verstanden wissen. Doch auch mit dieser Zurückhaltung scheint es nun vorbei zu sein. Wozu auch? Rabbi Kahanes Erben brauchen sie ja auch nicht mehr.

Bild oben: Itamar Ben Gvir, Foto: Guy Butavia, Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported