Das Waisenhaus am Wolfgangsee

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Moshe und Bina Halperin auf dem Steg vom Bootshaus des Bürglguts. Im Hintergrund das Grand Hotel. Repro: Beit Lochamei Hagetaot

Schoah-Überlebende fanden im Salzkammergut ein vorübergehendes Zuhause…

Von Jim G. Tobias
Zuerst erschienen in: tachles, Das jüdische Wochenmagazin, 22.01.2021

Der Bürgl, eine über 700 Meter hohe felsige Erhebung am Ufer des Wolfgangsees, war Namensgeber des Bürglguts in der österreichischen Gemeinde St. Wolfgang. Das Landgut mit einer imposanten Villa war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein beliebter Urlaubsort für wohlhabende und adelige Gäste. Nach dem sogenannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich wurden 1938 die jüdischen Eigentümer des Bürglguts vertrieben. Die prachtvolle Villa und weitere Gebäude, wie beispielsweise das Bootshaus, das Berghaus und das Waldhaus, dienten als Müttererholungsheim der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt sowie als Gästehaus des Führers. Nach dem Einmarsch der US-Truppen in die Region um den Wolfgangsee beschlagnahmte die Militärregierung das Bürglgut und brachte ab Sommer 1946 dort elternlose jüdische Jungen und Mädchen aus Osteuropa unter.

Eines dieser Waisenkinder war Mendel Zawadzky, der 1932 im polnischen Pabianice geboren wurde. Nach der Übernahme der Stadt durch die Wehrmacht 1939 errichteten die deutschen Besatzer ein Ghetto, die Bewohner mussten in zahlreichen Textil- und Metallfabriken Zwangsarbeit leisten. Im Zuge der ersten Deportationen wurden 1941 einige hundert Juden ins Ghetto nach Lodz deportiert, darunter auch Mendel mit seiner Familie. Während Vater Leib 1943 in Majdanek ermordet wurde, deportierten die Nationalsozialisten Mutter Gulda und den nun zwölfjährigen Jungen ein Jahr später nach Auschwitz. Mendel überlebte. Zusammen mit einer von zionistischen Aktivisten geleiteten Kindergruppe gelangte er nach Deutschland in ein Displaced Persons (DP) Camp. Unmittelbar nach Kriegsende hatten die Alliierten in Deutschland und Österreich Kasernen, Sanatorien oder Hotels beschlagnahmt, um dort Überlebende der Schoah unterzubringen. Mithilfe der jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee (AJDC) fand der nun 15-jährige Mendel ab 1947 Aufnahme im DP-Kinderheim am Wolfgangsee.

«Möglichkeit zur Erholung»

Das Children’s Center war am 1. Juni 1946 eingeweiht worden. Neben der «schönen Villa» umfasste es zunächst drei «moderne, luftige Häuser, umgeben von Bäumen, Gras sowie Blumen» und «beherbergte 50 Kinder und 20 Mitarbeiter», notierte ein AJDC-Mitarbeiter in einem Report. «Alle zwei Wochen erhalten Kinder im Alter von sechs bis 16 Jahren aus einem österreichischen DP-Lager hier die Möglichkeit zur Erholung.» Die Ersten waren Jungen und Mädchen aus dem Camp in Linz-Bindermichl. Es folgten eine Gruppe aus dem Lager in Bad Gastein und schliesslich Kinder und Jugendliche aus Wiener Auffanglagern.

Neben regelmäßigem Schulunterricht standen eine kompetente medizinische und pflegerische Betreuung, spezielle Kost sowie ein breites Freizeitangebot auf dem Programm des Children’s Center. Die Einrichtung sollte speziell in den Sommermonaten als Ferienlager und darüber hinaus auch als temporäre Herberge für die vielen Kinder und Jugendlichen dienen, die Europa verlassen wollten und sich auf ihrem Weg nach Palästina oder Übersee befanden. Das Waisenhaus am Wolfgangsee wurde vom AJDC finanziert und unterstand der Aufsicht des Jüdischen Zentralkomitees für die amerikanische Zone in Österreich. Mit einem Schreiben informierte die offizielle Vertretung der befreiten Juden die Verwaltung im nahe gelegenen jüdischen DP Camp in Bad Ischl über den neuen Zufluchtsort. In dem Heim sollten 300 Waisenkinder untergebracht werden. Dafür werde noch Personal gesucht: ein Direktor, acht Lehrer sowie Hausmädchen, Pflegerinnen, Köchinnen und ein Hausmeister. Insgesamt waren rund 35 Arbeitsstellen ausge-schrieben. So viele Betreuer und Kinder konnten jedoch nicht in der Villa und den Nebengebäuden untergebracht werden. Weitere Immobilien mussten akquiriert werden. Rasch erteilte die Militärregierung die Genehmigung, das nur wenige Hundert Meter entfernte Grand Hotel zu beschlagnahmen und umgehend für die Bedürfnisse der elternlosen Kinder und Jugendlichen herzurichten. «Eine Begutachtung durch einen Kinderfürsorgespezialisten und einen Mediziner des AJDC ergab, dass es möglich sein wird, etwa 200 Kinder in dem neuen Heim unterzubringen», meldete der zuständige AJDC-Mitarbeiter. «Es wird erwartet, dass das neue Heim zwischen dem 25. und 30. September eröffnet wird.»

Etwa zu dieser Zeit brachen in Polen Moshe Halperin und seine Frau Bina mit einer Gruppe von etwa 30 jüdischen Waisenkindern in Richtung Westen auf. Der Lehrer Halperin hatte zuvor ein Kinderheim im polnischen Kamieniec geleitet. Überall in Osteuropa hatten zionistische Organisationen sich um die in Klöstern versteckten oder bei Partisanen lebenden elternlosen Kinder und Jugendlichen gekümmert, um diese zu sammeln und letztlich nach Palästina zu bringen. Ihr Weg führte über die in Deutschland und Österreich eingerichteten DP-Auffanglager. Das Ehepaar Halperin und die Kinder erreichten St. Wolfgang wahrscheinlich Anfang November 1946. Bis Ende 1947 arbeiteten die beiden Pädagogen in der jüdischen Camp-Schule als Volksschullehrer und Kindergärtnerin und erteilten zusätzlich hebräischen Sprachunterricht. Über einen Zwischenaufenthalt in Frankreich emi-grierten Bina und Moshe Halperin im September 1948 nach Israel.

Doch nicht alle Jungen und Mädchen fanden eine Heimat in der neu erschaffenen jüdischen Heimstatt. Manche traten auch die Reise über den Atlantik nach Nordamerika an, wie etwa Alex Orkow, der im November 1945 in der Nähe von Linz geboren wurde. Seine Mutter war eine Schoah-Überlebende, die kurz nach der Geburt ihres Sohnes verstarb. Alex kam ins Kinderheim am Wolfgangsee; er wurde 1947 von einem amerikanischen Ehepaar adoptiert und ein Jahr später in die USA gebracht. Alex Orkow lebt heute in Denver im Bundesstaat Colorado.

Zuflucht in Kanada

Im Februar 1948 besuchte der kanadische Konsul das Kinderheim. Seine Regierung hatte beschlossen, rund 1000 jüdische Waisenkinder aus den DP Camps in Deutschland und Österreich aufzunehmen. Darunter auch einige aus dem Kinderheim am Wolfgangsee. Die ersten 20 «unbegleiteten Kinder und Jugendlichen» hatten den kanadischen Hafen von Halifax bereits an Bord der «Aquitania» im September 1947 erreicht. Da das Schiff regelmässig die Route Deutschland-Kanada bediente, war mit der Reederei vereinbart worden, dass auf jeder Passage 20 bis 25 Plätze für diese Kinder reserviert würden.

Jugendliche vor der Abfahrt in die neue Heimat. Repro: American Jewish Joint Distribution Committee

Am Wolfgangsee warteten rund 20 Jungen und Mädchen bereits seit Monaten ungeduldig auf ihre Visa für Kanada. Alle hatten bereits eifrig Englisch gelernt. Nun ging es endlich los. «Trotz der unbequemen Güterwagen, in denen sie von St. Wolfgang nach Bremen fahren mussten, waren alle sehr aufgeregt», notierte ein Mitarbeiter der britischen Hilfsorganisation Jewish Relief Unit. Von Bremerhaven aus stach der Ozeandampfer in See. Bis März 1952 kamen 1100 jüdische Waisen aus Europa in Kanada an. Darunter auch Mendel Zawadzky, der durch glückliche Zufälle seine Brüder Beniek und Jakob fand, die wie durch ein Wunder ebenfalls mehrere Konzentrationslager überlebt hatten und nach dem Krieg im DP Camp Linz-Bindermichl gestrandet waren.

Das Kinderheim am Wolfgangsee wurde im Frühjahr 1948 geschlossen. Das Grand Hotel wurde geräumt, im Bürglgut wurden ab Mai 1948 russische Emigranten untergebracht. Anschließend erhielt der jüdische Besitzer, der seinerzeit noch rechtzeitig in die USA flüchten konnte, das Gut zurück.

Bild oben: Moshe und Bina Halperin auf dem Steg vom Bootshaus des Bürglguts. Im Hintergrund das Grand Hotel. Repro: Beit Lochamei Hagetaot