Ein „Wartesaal“ in der schwäbischen Provinz

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Die jüdische Nachkriegsgemeinde in Saulgau 1945–1950

Von Jim G. Tobias

Am 25. Oktober 1950 bestieg Gabriel Mermelstein im Hafen von Genua den Überseedampfer „Napoli“, der ihn ans andere Ende der Welt, nach Australien bringen sollte. Mermelstein hatte 1920 im polnischen Turek das Licht der Welt erblickt; nach dem Überfall der Deutschen auf Polen war er in die Sowjetunion geflüchtet und kehrte erst 1945 in sein Heimatland zurück. Aufgrund von antisemitischen Ausschreitungen und Mordaktionen musste der junge Mann erneut fliehen. Wie er suchten Zehntausende von polnischen Juden Zuflucht im besetzten Deutschland ­– unter dem Schutz der alliierten Besatzungsmächte. Mermelsteins abenteuerliche Flucht über mehrere Länder endet im Herbst 1947 in Saulgau, in der Bahnhofstraße 1.

AJDC-Emigrationcard, Repro: nurinst

In der Nachkriegszeit befanden sich bis zu 200.000 zumeist osteuropäische Juden als sogenannte Displaced Persons (DPs), verschleppte, entwurzelte Menschen, in eiligst von den Alliierten errichteten Auffanglagern im besetzten Westdeutschland. Bekannt sind die großen Camps wie Feldafing, Schwäbisch Hall oder Föhrenwald, in denen jeweils Tausende Überlebende des Holocaust untergebracht waren. Die meisten dieser Lager befanden sich in der US-amerikanischen Besatzungszone. Doch auch in der französischen Zone sind solche jüdischen Einrichtungen etwa in Biberach-Jordanbad, Gailingen oder Lindau nachweisbar.

Daneben existierten im Südwesten von Deutschland zahlreiche kleinere Gemeinden; eine davon war die im „Jüdischen Komitee Saulgau“ zusammengeschlossene Gemeinschaft, welche vermutlich von Überlebenden aus dem örtlichen Nebenlager des KZ-Dachau im Sommer 1945 gegründet wurde. Schon im Januar 1946 zählte sie rund 80 Gemeindemitglieder, die im gesamten Stadtgebiet sowie in den umliegenden Ortschaften wie Schwarzenbach, Ennetach, Allmannsweiler oder Herbertingen in beschlagnahmten Wohnungen, Häusern oder zur Untermiete einquartiert waren. Um ein soziales und kulturelles Leben zu gewährleisten, wies die französische Militärverwaltung den Juden den Saulgauer „Gasthof Fuchs“ und das danebenliegende Anwesen in der Fuchsgasse als Versammlungsstätte beziehungsweise als Sitz für ihre Verwaltung zu. In einer demokratischen Wahl bestimmten die Juden Salomon Berkowicz zum Vorsitzenden und Mordechai Wilenker zum Stellvertreter der Gemeinde. Die Versorgung der bis zu 130 Mitglieder mit Lebensmitteln und Kleidung erfolgte über die Hilfsorganisation der Vereinten Nationen, United Nations Relief and Rehabilitation Organization (UNRRA) und die jüdisch-amerikanische Wohlfahrtsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee, kurz Joint genannt.

Keiner aus dem Häuflein der Überlebenden wollte jedoch im Land der Täter bleiben; sehnsüchtig hofften die Juden auf eine baldige Ausreise nach Palästina oder einen Neuanfang in einem der klassischen Emigrationsländer in Übersee. Doch der Staat Israel war noch nicht Realität – und viele Staaten gestatteten nur wenig Zuwanderung. So mussten die jüdischen DPs für einige Jahre in Saulgau ausharren. Beschäftigungsmöglichkeiten waren allerdings rar – neben seiner administrativen Tätigkeit in der Gemeindeverwaltung arbeitete der stellvertretende Vorsitzende Mordechai Wilenker zeitweise als Hilfsarbeiter und Magaziner, wie einer Karteikarte der Arbeitsverwaltung zu entnehmen ist. Gabriel Mermelstein hatte eine Stellung als Kraftfahrer. Der russisch-jüdische Arzt Dr. Benedikt Taraschinski war wenigstens im örtlichen Krankenhaus beschäftigt. Nach den Bestimmungen der Westalliierten mussten die jüdischen DPs aufgrund ihres besonders schweren Verfolgungsschicksals allerdings keiner Erwerbstätigkeit nachgehen, da es ihnen nicht zuzumuten sei, sich in irgendeiner Form am Wiederaufbau von Deutschland zu beteiligen.

Wie bereits erwähnt, erhielten die Holocaust-Überlebenden Nahrung und Kleidung von den diversen Hilfsorganisationen. Zu den jüdischen Feiertagen wie beispielsweise Pessach stellte der Joint Extrarationen zur Verfügung, darunter Mazzen (ungesäuerte Brote) und koscheren Wein aus Palästina. Wie einem Eintrag im Gästebuch des Wirtshaus‘ Fuchs zu entnehmen ist, feierten dort im April 1947 Dr. Taraschinksi, Vorstandsmitglied Wilenker und weitere zehn Mitglieder der jüdischen Gemeinde das Pessachfest. Da dieser Feiertag umgangssprachlich oft als jüdisches Osterfest bezeichnet wird, verwendeten die Juden diesen Begriff und überschrieben den Eintrag mit den Worten „Osterfeier der Israeliten“.

Bereits ein Jahr zuvor fanden in Saulgau jüdische Gottesdienste zum Neujahrsfest Rosch Haschana und zum Versöhnungstag Jom Kippur statt. Ein Überlebender aus dem Konzentrationslager Theresienstadt, der in seinen Heimatort Buchau zurückgekehrt war, nahm an diesen religiösen Feier teil: „Ergreifend waren die Totengebete“, notierte er, „denn nicht einer war dabei, welcher nicht eine größere Anzahl Allernächster zu beklagen hatte, und es kam einem dabei so recht wieder zum Bewusstsein, welches Unglück durch diese Nazischurken in die Welt gesetzt wurde. Nach den Gottesdiensten hatten wir Dank der UNRRA und des Joints ganz vorzügliches Essen, sowohl mittags als auch abends.“

Ab Herbst 1947 begann der Auflösungsprozess der jüdischen Gemeinde Saulgau. Im November erging der UN-Beschluss, dass in Palästina ein jüdischer Staat entstehen sollte. Einige DPs machten sich umgehend auf den Weg in größere Camps, um sich für die Übersiedlung ins Gelobte Land registrieren zu lassen. Auch die USA, Kanada oder Australien liberalisierten ihre Einwanderungsbestimmungen. Die beiden Vorsitzenden Salomon Berkowicz und Mordechai Wilenker sowie der Arzt Dr. Taraschinski machten sich 1949 auf die Reise in die USA, andere fanden eine neue Heimat in Südamerika und viele siedelten sich im neugegründeten Staat Israel an. Im Dezember 1949 lebten nur noch 50 jüdische DPs in Saulgau und Umgebung. Vermutlich löste sich das „Jüdische Komitee Saulgau“ Anfang der 1950er Jahre auf – das kurze Intermezzo einer jüdischen Gemeinde in der Geschichte der über 1.200 Jahre alten Stadt ging zu Ende. Als einer der Letzten verließ Gabriel Mermelstein seine vorübergehende schwäbische Heimat. Nach einer fünfwöchigen Schiffsreise ging er am 29. November 1950 im Hafen der australischen Metropole Melbourne an Land.

Mehr dazu bei after-the-shoa.org:
Saulgau – Ein „Wartesaal“ in der schwäbischen Provinz | A „waiting room“ in the Swabian province

Bild oben: Pessach 1947: Eintrag im Gästebuch des Wirtshauses Fuchs, Repro: Stadtarchiv Bad Saulgau