Ein letzter liberaler Bürger

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Die amerikanische Journalistin Emily Tamkin hat ein hochaktuelles Buch über Leben und Einfluss des Investors und Philanthropen George Soros wie über die mit seinem Namen verbundenen antidemokratischen Kampagnen und antisemitischen Verschwörungsmythen geschrieben. „Die Angriffe auf Soros,“ macht sie darin deutlich, „sind nicht antisemitisch, weil sie eine Kritik an ausgegebenem Geld sind; sie sind antisemitisch, weil sie eine Kritik an Geld sind, das nicht ausgegeben wurde und nie ausgegeben werden wird“…

Von Florian Hessel

Beobachter*innen des Zeitgeschehens ist der Name George Soros sehr wahrscheinlich bekannt. Doch mehr als über das Leben und die Biografie der Person, sagt dies über den Zustand unserer Gesellschaft aus. Denn bekannt ist der Name George Soros nicht als aus einer ungarisch-jüdischen Familie stammender amerikanischer Modelleinwanderer, als Self-made-Multimilliardär oder als großzügiger liberaler Stifter – bekannt ist er vor allem als massenkulturelles Symbol und Schlagwort, als Objekt und Opfer extrem rechter, antidemokratischer Propaganda und antisemitischer Verschwörungsmythen.

So gibt es kaum eine hinterhältige Machenschaft zur Zersetzung von „Kultur“ und „Nation“, die George Soros spätestens seit der „Flüchtlingskrise“ 2015 und der Covid-19-Pandemie von Parlamentariern der AfD oder ‚alternativen‘ Medienunternehmern, dem Nachbarn auf Facebook oder Staatschefs von Erdoğan und Putin bis Trump und Orbán nicht unterstellt würde. Die amerikanische Journalistin Emily Tamkin hat mit The Influence of Soros. Politics, Power, and the Struggle for an Open Society ein sorgfältig recherchiertes Buch vorgelegt, das auf knapp 300 Seiten den Versuch unternimmt den Einfluss der realen Person George Soros zu verstehen und im Zuge dessen zu erhellen, wie es zur Entstehung der parallelen mythischen Figur gleichen Namens kommen konnte. [1]

Dabei sind die von Tamkin vor dem historisch-gesellschaftlichen Hintergrund gelungen zu einem narrativen Spannungsbogen verdichteten, grundlegenden Fakten von Soros’ Leben und Aktivitäten bekannt: Als György Schwartz in eine jüdische Familie in Budapest geboren, überlebte er den Holocaust. Den Familiennamen hatte sein Vater angesichts des Antisemitismus in Ungarn bereits in der Zwischenkriegszeit in Soros geändert. In den 1950er Jahren wanderte der junge Soros nach England aus, studierte an der London School of Economics und stieg ins Finanzgeschäft ein. Er gründete seinen eigenen Fonds, verlagerte den Firmensitz nach New York und trug maßgeblich dazu bei den Hedgefond als ein zentrales spekulatives Geschäftsmodell zu etablieren. Soros’ Investitionsstrategien wird eine wichtige Rolle für die Auslösung verschiedener Krisen des globalisierten Nachkriegskapitalismus zugeschrieben, am prominentesten darunter die Abwertung des britischen Pfund 1992, die zu dessen Ausschluss aus dem europäischen Wechselkurssystem führte.

In den 1980er Jahren begann Soros zuerst in Südafrika, dann in Ungarn sein philanthropisches Engagement.  Aus seinem Milliardenvermögen finanzierte er Auslands- und Universitätsstipendien – ein ebenso an seine eigene autobiographische Erfahrung als Immigrant aus einem autoritären System wie an die politischen Schriften Karl Poppers („Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“) angelehntes Unternehmen, das allerdings die direkten Adressat*innen – Schwarze im Apartheidstaat und Oppositionelle im autoritären Staatssozialismus – nicht erreichte. In der Folge sollte der Schwerpunkt von Soros’ Tätigkeit im Bereich der indirekten Finanzierung und dessen liegen, was man heute Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements (unabhängige Kulturinstitutionen, Menschenrechtsgruppen, lokale politische Initiativen) nennt. Schließlich in Form der Open Society Initiative bzw. des Stiftungsverbunds Open Society Foundations etabliert, werden in zahlreichen Ländern und Regionen weltweit Projekte unterstützt. Am bekanntesten sind die langjährige Unterstützung für Human Rights Watch, die Finanzierung von Fotokopierern in Ungarn vor 1989, die die Verwaltung stabilisierte und gleichzeitig die staatliche Kontrolle über die veröffentlichte Meinung erschwerte, oder die Stiftung eines Literaturpreises und dezentraler Wasserversorgungsprojekte im belagerten Sarajevo während des jugoslawischen Bürgerkriegs.

Soros’ Ideal politisch liberaler, diverser und inklusiver „offener Gesellschaften“ ist als Gegenposition zum Ethnonationalismus und zur Politik des Ressentiments formuliert.  Der liberale Stifter wurde selbst zur antiliberalen Chiffre stilisiert, wurde praktisch zu einem eigenständigen antisemitischen Code. Emily Tamkin fasst dies nicht begrifflich, verfolgt aber die Spuren dieser Entwicklung, die in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 kulminierte, bis an den Anfang des Jahrhunderts zurück, namentlich zum slowakischen Wahlkampf 1998. Der von Westen angepriesene Liberalismus des absolut „freien Markts“ hat innerhalb des Feldexperiments, das Osteuropa nach 1989 darstellte, nicht den euphorisch prophezeiten allgemeinen Wohlstand und das utopische „Ende der Geschichte“ gebracht. Dem Zusammenbruch des autoritären Staatssozialismus und seiner vertrauten Lebenswelten folgten bald Unsicherheit, Unübersichtlichkeit und oft die Krise in Permanenz, verwaltet von ökonomischen und nationalistischen Rackets.

Hier wurden die Themen der Propaganda gegen das konkrete Engagement von Soros und seinen Stiftungen für liberal-demokratische Kultur und Bürgerbeteiligung zu antiliberalen Chiffren, wo Veränderung und Uneindeutigkeit als Eingriff unheimlicher Macht von außen und verschwörerische Manipulation aus dem Hintergrund vorgestellt werden. „Jene Regierungen,“ hält Tamkin fest, „die dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip ablehnend gegenüberstanden, waren im Regelfall Soros und seiner Stiftung feindlich gesinnt, da Zivilgesellschaft – so nebulös das Konzept auch sein mag – denjenigen bedrohlich erscheinen muss, die über eine Gesellschaft ohne deren aktive Mitwirkung herrschen möchten.“ (130) Über Osteuropa hinaus wurde die Agitation gegen Soros bekannter durch die Kampagnen der ungarischen Rechten unter Viktor Orbán: Wahlerfolge mit kaum verhüllten antisemitischen Andeutungen und die kurz auf das Verbot der Gender Studies folgende Vertreibung der von Soros gegründeten Central European University mit ihrem Liberal-arts-Curriculum ließen die extreme Rechte, Verschwörungsmilieus oder auch ‚bürgerliche‘ Antifeministen nicht nur in Europa genau zuhören.

Kern der Massenwirkung der antidemokratischen Kampagnen gegen „Soros“ ist die vertraute Schlagworte wie diffuse Affekte und Ängste mobilisierende, antiliberale Behauptung von Differenz und Ambivalenz in der Gesellschaft als Kontrolle und Manipulation der Gesellschaft von außen: „George Soros“ steht für Geld, fremde Macht, kulturelle Modernität, Differenz. Es illustriert die Flexibilität wie die Kontinuität des Antisemitismus und des gewalttätigen Ressentiments überhaupt, dass die Wirkung als antiliberale Chiffre und die als antisemitischer Code zur Deckung kommen, wie es z.B. eine Untersuchung des Sozialwissenschaftlers András Kovács empirisch belegt. [2] Entsprechend schreibt Emily Tamkin, durch die Verknüpfung des ehemaligen Migranten George Soros mit Migration etwa – verstärkt nicht nur aber zentral in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 – entstehe der „perfekteste Antisemitismus“ (234): „Hier ist eine Person, die nicht wirklich an das Land gebunden sein soll, in dem sie behauptet zu leben, zu dem sie behauptet zu gehören; die die wahre Nation, das echte Volk, diejenigen, die wirklich verwurzelt seien, zersetzt und korrumpiert. (…) Die Schönheit der Annahme für Antisemiten ist, dass man noch nicht einmal das Wort ‚jüdisch‘ zu sagen braucht.“ (234/235) Und gegenüber der heute vielfach geäußerten Behauptung, oftmals seien entsprechende Aussagen nicht antisemitisch gemeint, betont Tamkin in einem Gespräch mit der Jewish Telegraphic Agency treffend: „Ich würde sagen, wenn Du gewillt bist Antisemitismus aus opportunistischen Gründen zu benutzen, dann fühlst Du Dich mit Antisemitismus wohl – in diesem Fall würde ich Dir nahelegen, dass dies vielleicht bedeutet, dass Du ein Antisemit bist.“ [3]

Von Emily Tamkin nicht direkt benannt wird, dass der Name George Soros neben etablierte verschwörungsideologische Codes getreten ist und in sie integriert wurde: die angebliche globale Elitenverschwörung der „Bilderberger“, die intellektuellenfeindlichen und antisemitischen Behauptungen von einem Wissenschaft und Politik unterwandernden „Kulturmarxismus“, die Imagination einer „Familie“, „Kultur“ und „Nation“ planmäßig von außen zerstörenden, apokalyptischen „Neuen Weltordnung“. In rassistisch-ethnonationalistischen Propagandathemen wie dem angeblichen „großen Austausch“ der ‚weißen‘ Bevölkerung durch Migrant*innen oder antifeministischen Phantasien wie der familie- und geschlechtzerstörenden „Genderisierung“ werden Soros tragende Rollen zugewiesen. Diese Rollen in der Dramaturgie der Verschwörungskampagnen wirken praktisch als Antisemitismus. [4] Nicht etwa deshalb, schreibt Tamkin in The Influence of Soros, seien die Angriffe antisemitisch, „weil sie eine Kritik an ausgegebenem Geld sind; sie sind antisemitisch, weil sie eine Kritik an Geld sind, das nicht ausgegeben wurde und nie ausgegeben werden wird.“ (235)

Dagegen thematisiert Emily Tamkin immer wieder die tatsächlichen Widersprüche liberalen philanthropischen Engagements. Die Stiftungen von George Soros unterstützen Gruppen und Initiativen für eine Arbeit, die diese sowieso tun würden. Allerdings entscheiden die Geldgeber*innen darüber, welche dieser spezifischen Aktivitäten unterstützenswert sind bzw. die Art und Weise der Förderung schafft eine institutionelle Struktur an der umgekehrt die (prospektiven) Empfänger*innen sich orientieren (müssen). Eine direkte Einflussnahme auf die Arbeit, dies betont Tamkin immer wieder, oder gar eine Erschaffung zivilgesellschaftlichen Engagements zur Manipulation politischer Öffentlichkeit, findet nicht statt. Doch die entsprechendes behauptenden Verschwörungskampagnen gewinnen ihr Wirkungspotenzial auch vor dem gesellschaftlichen Hintergrund, dass Macht und Einfluss tatsächlich ungleich verteilt sind; dass, so Tamkin, „eine Gesellschaft, in der eine Person so viel persönlichen Reichtum, Macht und Einfluss anhäufen kann, während andere davon ausgeschlossen bleiben, niemals offen sein kann.“ (247)

Die tragische Ironie des Engagements von George Soros für marktorientierte, bürgerlich-liberale „offene Gesellschaften“ kann man darin sehen, dass deren Ermöglichung, an der Soros’ Stiftungen in Mittel- und Osteuropa seit den 1980er Jahren beteiligt waren, auch die weitere Entfaltung der gesellschaftlichen Tendenzen mit ermöglicht hat, die heute gegen jeden gesellschaftlichen Liberalismus wirken. Die Krisendynamik spätkapitalistischer Gesellschaften nach dem Untergang des Sowjetblocks und die politisch-ökonomischen Krisen in Europa am Beginn des 21. Jahrhunderts legen die Dialektik eines politischen Liberalismus wie dem von George Soros offen: Als eine „Apologie des Bestehenden,“ so schrieben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno Mitte der 1940er Jahre, bleibe die „Defensive der letzten liberalen Bürger“ gegenüber Ressentiment und Antisemitismus ebenso politisch notwendig wie in ihrer Form notwendig zweideutig. [5] Und zu diesem Widerspruch gehört auch, dass eine wirkliche Alternative zu einer minimalen Zivilisierung von Gewalt, Herrschaft und Ausbeutung weiterhin nicht in Sicht ist.

In den Vereinigten Staaten wurde Emily Tamkins Buch vielfach lobend besprochen und breit rezipiert. Es bleibt zu hoffen, dass ein (renommierter) Verlag noch eine deutsche Übersetzung von The Influence of Soros auf den Markt bringt. Der Autorin und ihrem ebenso kurzweiligen wie reflektierten und informativen Buch wäre eine möglichst breite öffentliche Verbreitung auch in Deutschland zu wünschen – nicht nur aufgrund der auch hierzulande leider bleibenden und mit der Covid-19-Pandemie noch gestiegenen Aktualität.

Florian Hessel ist Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie der Ruhr-Universität Bochum und Gründungsmitglied von Bagrut e.V. – Verein zur Förderung demokratischen Bewusstseins.

Bild oben: George Soros, 2018, (c) Niccolò Caranti, wikicommons

[1] Emily Tamkin. The Influence of Soros. Politics, Power, and the Struggle for an Open Society. Harper Collins: New York 2020, 301 S., ca. 20 EUR.

[2] András Kovács. „Postkommunistischer Antisemitismus: alt und neu. Der Fall Ungarn.“ In Christian Heilbronn, Doron Rabinovici & Natan Sznaider (Hrsg.). Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte. Suhrkamp: Berlin 2019, S. 276–309.

[3] Emily Burack. „Emily Tamkin wrote the book on George Soros. Here’s what she has to say about those conspiracy theories.“ Jewish Telegraphic Agency, 30.06.2020. Online: https://www.jta.org/2020/06/30/global/emily-tamkin-wrote-the-book-on-george-soros-heres-what-she-has-to-say-about-those-conspiracy-theories [02.07.2020].

[4] Vgl. aktuell erscheinend: Florian Hessel & Janne Misiewicz. „Antifeminismus und Antisemitismus in der Gegenwart – eine Fallanalyse zu Verschränkung und kultureller Codierung.“ In Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (Hrsg.). Wissen schafft Demokratie. Schwerpunkt Antisemitismus, Band 8. IDZ: Jena 2021, S. 156–167.

[5] Max Horkheimer & Theodor W. Adorno. Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (Gesammelte Schriften 5). S. Fischer Verlag: Frankfurt a.M. 1987 [1947], S. 198.