„Ein Drittel: Afrika. Ein Drittel: Amerika und dann das dritte Drittel: Litauen, unser jüdisches Litauen“

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Berlin. Heute vor 90 Jahren: „Der einzige jüdische Negerkantor Towie Hakohen von der New Yorker Negersynagoge gibt am Sonntag, dem 2. November, Nachm. 4 Uhr, ein einmaliges Konzert in der Singakademie, am Festungsgraben 2. Es kommen synagogale und jüdische Volkslieder zum Vortrag, überall, wo dieser Negerkantor aufgetreten ist, so in Warschau und anderen größeren Städten, erntete er großen Beifall. Es sei noch erwähnt, daß eine Wiederholung des Konzertes nicht stattfinden kann, da der Kantor von hier aus nach Palästina reist. es empfiehlt sich daher, sich baldigst Karten zu beschaffen.“ („Jüdische Rundschau“, 30.10.1930)…

Von Judith Kessler

Sensation! Das Berliner Tageblatt, die Vossische Zeitung usw. berichten und der Kritiker der jüdischen Rundschau schreibt in der nächsten Ausgabe: „Towje hakohen, nichtsdestoweniger ein echter Neger. Ein Drittel: Afrika. Ein Drittel: Amerika und dann das dritte Drittel: Litauen, unser jüdisches Litauen. Er singt: Sorea z’dokos wie ein Chasn, und doch anders. Mit Kehllaut, der aus dunklen Felsschluchten herkommt, Raubvogel- und wieder Juden-Ton, abgelauscht unserm alten Osten. Handbewegung: steif, Lächeln und Geste ein wenig linkisch, aber alles sonst gemütvoll zu Herzen gehend, „Stein, Stein, taierer Stein, bist amol meine Mame gewen“. Wer das und alles andere (des leider, leider seichten Programms) gehört hat, wird das absonderliche Phänomen nicht vergessen. auf uralten ägyptischen Reliefs sieht man bereits echte Neger und erkennt man schon unsere alte Rasse – Gottes Wege sind wunderbar.“

Es gibt zwei Fotos, die von den Agenturen AKG bzw. Alamy vermarket werden. Beide sind falsch beschriftet, einmal heißt der Kantor „hakonen“, das andere mal „hakoren“ und war mal circa 1930, mal im Februar 1931 in Berlin, geboren ist er jeweils in Äthiopien bzw. Abessinien. Das mag der Grund sein, warum einige Hobbyforscher seine Wurzeln dort vermutet haben. Denn zu dieser Zeit lebten etliche Äthiopier, meist Studenten, in Berlin und ein Teil der hiesigen jüdischen Gemeinschaft war begeistert davon, dass es Juden (Falaschas) in Äthiopien gab und sammelte Spenden für die fernen Brüder. Aber wie die „Jüdische Rundschau“ schon richtig berichtete, war unser Kantor Afroamerikaner und kam aus New York.

Der amerikanische Musikwissenschaftler Henry Sapoznik hat die Karriere von Thomas Larue (manchmal auch Thomas La Rue oder Thomas Jones La Rue) nachverfolgt, den sein Impresario für die Europatournee in „Towje Hakohen“ verwandelt (und damit eine Abstammung von den jüdischen Priesterkaste suggeriert) hatte. Ob Thomas-Towje überhaupt jüdisch war, d.h. ob seine Mutter oder er übergetreten war, konnte auch Sapoznik nicht sicher herausfinden, so wie auch niemand weiß, ob Larue verheiratet war, ob er Kinder hatte und wann oder wo er gestorben ist. Seine letzte Spur ist die Ankündigung eines Chanukka-Konzerts 1953.

Auf alle Fälle war er wohl eines von mehreren Kindern einer alleinerziehenden Mutter. In der afroamerikanischen Zeitung „The New York Age“ vom 8. April 1922 wird er vorgestellt als: „junger Neger, dessen Mutter die religiösen Überzeugungen der Hebräer akzeptierte und ihren Sohn auf diese weise großzog“; und die Zeitung zitiert auch Larue selbst: „Es begann mit meiner Mutter. Sie lebte in Newark, wo sie Rassenvorurteile als sehr stark empfand. Sie konnte sich nur mit jüdischen Frauen anfreunden, die die Gesellschaft von Juden den Christen vorzogen.“ Andere Quellen behaupten, er habe eine traditionelle Talmud-Tora-Schule besucht und konnte aus dem Siddur beten. Nachweise dafür, dass er mit einer bestimmten Synagoge verbunden war oder amtiert hätte, gibt es nicht. Aber eigentlich ist das auch egal. Thomas Larue hatte einen starke Beziehung zum aschkenasischen Judentum, und sein jüdisches Publikum liebte ihn als „black cantor“, als Bühnenkünstler und als Radiopionier.

Ab 1923 hat Larue bei einem Newarker Radiosender, hier als „coloured cantor“, ein eigenes Programm mit jiddischen, russischen und synagogalen Gesängen, einmal tritt er auch in einer Sendung der Reformrabbinervereinigung auf. Vor allem aber begeistert er das jiddischsprachige Publikum live, zunächst auf dem flachen Land (wo es aber auch giftige Kommentare gibt; so ist zu lesen, die jiddische Öffentlichkeit hätte wohl letztens einen Hang zum Katholizismus), bis er dann New York erobert. Zwei jüdische Produzenten nehmen Larue unter Vertrag und besetzen ihn in einer Hauptrolle im stück „Dos Chupekleijd“ (Hochzeitskleid) in ihrem neuen Lenox Theatre. Ein Glücksgriff. Die Presse: „Ein gigantisches Konzert des weltberühmten black cantor mit einem großen Chor unter der Leitung des renommierten jüdischen Chorleiters Joseph Germansky – Larue begeistert Harlem mit seinem erstaunlichen Gesang der besten Kompositionen von Jossele Rosenblatt, Gershon Sirota und Kwartin“.

Das nächste Stück, eine humoristische Collage namens „Jente Telebende“, wird ein noch größerer Erfolg und eine der am längsten laufenden Shows in der Geschichte des jiddischen Theaters. Der Kritiker Z. Karnblit schreibt in „Der Morgn Journal“: „Da war er: ein schlanker, schwarzer junger Kerl in einem schwarzen Gehrock, einer Weste und weißem Hemd, der ein jiddisches Lied sang … ich konnte meinen Augen oder Ohren nicht trauen. (…) und am Ende „eli, eli“. Wenn ich auf einem Konzert höre, dass jemand eli, eli, singen wird – es könnte der beste Sänger der Welt sein -, renne ich sofort in die entgegengesetzte Richtung davon (…) dies war jedoch ein neues eli, eli, von einem schwarzen Kantor, das so von Kerzen kam und das so tief aus dem jüdischen Martyrium, dem jüdischen Schrei hervorging und Gott fragte, warum er ihn verlassen hat (…) so, wie es selbst die größten Opernsänger nicht können. Jeder Mensch im Theater war von der kraftvollen poetischen Harmonie des schwarzen Kantors gebannt.“

Karnblits Rezension sorgt für so viel Aufsehen, dass die Dramatiker und Theatermanager in den nächsten Jahren darum wetteifern, Larue für ihre Produktionen zu bekommen, und dass sich sein Ruhm bis nach Białystok, im fernen Polen herumspricht. Und so kommt es, dass er als „einziger farbiger Kantor der Welt“ schließlich von einem auf jiddische Shows spezialisierten Manager für eine Tournee durch Europa gebucht wird.

Im September 1930 promoten jiddische Zeitungen und Plakate in ganz Polen die Konzerttour von “Tojwe, dem schwartzen chasn” als „größte Sensation in Europa“. Seine erste Station ist Warschau, das Juwel in der Krone der Kantorenstädte, und das erste Konzert ein Desaster. Die verwöhnten arroganten Warschauer witzeln über den Sänger und seinen Manager, sie lästern, der hätte jemanden gebucht, der nicht einmal weiß, wie man ein Gebetbuch richtig rum hält.

Dann aber in Białystok, einer Stadt mit damals über 50% jüdischer Bevölkerung: „Tojwele [sic!], der schwarze Kantor, hat hier gezeigt, dass die Diffamierung, mit der er auf den Seiten einer bekannten Warschauer Zeitung konfrontiert wurde, völlig unbegründet war (…) er ist ein genialer junger Mann, der nicht nur aussieht, sondern auch redet, als wäre das Wasser der jüdischen Diaspora auf ihn herabgestürzt (…) es gab standing ovations (…) er ist ein konkurrenzloser Meister.“

Es folgen Grodno, Lodz… und die jiddischen Zeitungen stricken fleißig weiter an der Legende. eine schreibt, „Tojwele“ gehöre zu den Nachkommen der zehn verlorenen Stämme; die nächste weiß, dass sein Vater ein Nachfahr von Schabbtai Zwi war und ein Heiler; die dritte erfindet ihm einen Vater names Petrosi, „ein sehr kultivierter Mann, der einen hohen Posten in der abessinischen Regierung inne hatte, während seine Mutter Alia gestorben ist, als er noch jung war“; die vierte informiert ihre Leser, sein Vater wollte, dass er eine rechtgläubiger Jude werde und habe ihn zu einem russischen Rabbi in Newark studieren geschickt…
 
In deutschen Blättern ist man etwas weniger erfinderisch. Das Gemeindeblatt der israelitischen Religionsgemeinde Leipzig begnügt sich für sein dortiges Konzert am 1. November 1930 mit dem Hinweis auf „seine süße lyrische Tenorstimme, die ganz Amerika begeisterte“ und was sie in Berlin geschrieben haben – siehe weiter oben (nur soll er dann hier wegen der großen Resonanz statt des einen ganze zwölf Konzerte gegeben haben; aber das steht in jiddischen Zeitungen in polen, und bei denen weiß man nicht so genau, was Dichtung und Wahrheit ist, ebenfalls siehe oben..)