Paraschat haSchawua: Vajera

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Auch in dieser Parascha geht es um die Geschichte von Abraham. Deshalb müssen wir uns ausführlicher dem Thema Mythos widmen. Es ist nicht einfach, die Entstehung eines Mythos zu beschreiben, seine Wirkung lässt sich leichter darstellen…

Genesis, 4. Perikope – Vajera Schabbat 7. Nov. 2020

Ein Beispiel: Ein junger Mensch erlebt Folgendes: Er hört Schreie aus dem Schlafzimmer seiner Eltern und glaubt, dass der Vater die Mutter misshandelt. Er wird möglicherweise den Vater hassen, und dieses Gefühl könnte ihn sein Leben lang begleiten. Erzählt er dieses Erlebnis glaubwürdig seinem Bruder, wird dieser die Gefühle des Erzählers wahrscheinlich teilen, und im Laufe der Zeit als selbst erlebt empfinden. So wird eine Erzählung zur erlebten Wirklichkeit mit all ihren Folgen.

Der religiöse Mythos wirkt ebenfalls wie eine historische Wirklichkeit. Das kann man bei fast allen Religionen beobachten. Ein religiöser Mythos kann zum nationalen Mythos mutieren und wird im kollektiven Bewusstsein der Nation, was entscheidend ist, ebenfalls zur historischen Wirklichkeit (nebenbei: für viele Christen ist die Schuld der Juden an der Tötung ihres Heilands auch zur historischen Wirklichkeit geworden). 

So ist auch die Tora (der Pentateuch, die fünf Bücher Moses) zur historischen Wirklichkeit geworden; und das galt Jahrhunderte lang. Allerdings wird der Inhalt heute differenziert betrachtet. Das vielleicht markanteste Erlebnis Abrahams war die Forderung Gottes, seinen geliebten Sohn Isak ihm als Opfer darzubringen. Unzählige Kommentare und Deutungen haben versucht, diese Geschichte zu enträtseln. Für den ersten Erzähler war sie unproblematisch. Menschenopfer waren in der Frühgeschichte nicht ungewöhnlich. Es gab z.B. einen babylonischen Gott Namens Marduk, dem man Menschen opferte. Wer Abrahams Opferung als erster erzählte, und wie sich die mündliche und später die schriftliche Überlieferung im Laufe der Generationen veränderte und entwickelte, und zwar jeweils mit einigen unbeabsichtigten oder auch gewollten redaktionellen Fehlern oder Korrekturen – das wird man nie erfahren. Es wäre müßig, die vielen Deutungen zu sammeln, die hierüber versucht wurden. Diese würden uns der wahren Geschichte nicht näherbringen, allenfalls über die
Kommentatoren und ihre Zeit Auskunft geben. In diesem Sinne kann jeder, der sich in dieses Rätsel vertiefen will, seinen eigenen Erklärungsversuch formulieren.

Was man allerdings ohne Zweifel feststellen kann – es handelt sich um eine Horror-Geschichte. Dies hat offensichtlich einer der frühen Redaktoren der Bibel schon gemerkt und wollte die Leser auf den unbeschwerlichen Ausgang vorbereiten. Vermutlich aus diesem Grund beginnt die Erzählung mit den Worten: „Nach diesen Ereignissen prüfte Gott Abraham und sprach zu ihm: Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn… , und opfere ihn … zum Brandopfer…(Gen. 22). Das Verb ‚prüfte ‘ ist bereits ein Hinweis darauf, dass der Leser sich um das Schicksal Isaks keine Sorgen machen muss. Es ist lediglich eine Prüfung. Obschon sogar als Prüfung ist es eine Horrorgeschichte, die einen Menschen zu Tode erschrecken kann. Wie zum Beispiel: Im Anschluss berichtet uns die Tora vom Ableben Sarahs, der Mutter Isaks. Die Gelehrten haben da einen Zusammenhang gesehen und meinten, dass die Mutter das Geschehene im Nachhinein erfuhr und vor lauter Schreck verstarb. Eine weitere Ungereimtheit fällt im Text auf: Da Abraham die Prüfung bestanden hatte, verspricht ihm Gott: „Weil du solches getan hast und hast deines einzigen Sohnes nicht verschont, will ich dich segnen und deine Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel und wie den Sand am Ufer des Meeres“ (Gen. 22). Da fragt man sich: wieso jetzt? Dieses Versprechen gab Gott bereits viel früher: „Und er hieß ihn hinausgehen und sprach: Sieh gen Himmel und zähle die Sterne; kannst du sie zählen? Und sprach zu ihm: So zahlreich sollen deine Nachkommen sein!“ (Gen. 15, 5). Wer die Tora als einen wahren historischen Bericht betrachtet, kann sich hierüber Gedanken machen.

Schabbat Schalom

Dr. Gabriel Miller absolvierte umfangreiche rabbinische und juristischen Studien, war Leiter der Forschungsstelle für jüdisches Recht an der Universität zu Frankfurt am Main, Fachbereich Rechtswissenschaft. Außerdem gibt er die bei den Lesern von haGalil längst gut bekannte Website juedisches-recht.de heraus.

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