Die Würde der Verschiedenheit

0
41
02.08.2013 © BLAKE-EZRA PHOTOGRAPHY LTD Images of Chief Rabbi, Lord Sacks. Not for forwarding or 3rd Party use. © Blake-Ezra Photography Ltd. 2013

Zur Erinnerung an Rabbiner Jonathan Sacks s.A.

Von Rabbiner Andreas Nachama, Vorsitzender der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschlands (ARK)

Mit dem früheren britischen Oberrabbiner Lord Jonathan Sacks (geb. 1948) ist am vergangenen Schabbat eine überragende Persönlichkeit verstorben, ein großer Kommunikator. Viele meiner Kollegen und Kolleginnen in der Allgemeinen Rabbinerkonferenz schätzen seine Tora-Kommentare, etwa Covenant & Conversation, und zitieren daraus; andere haben noch seine Stimme aus der freitäglichen Radiosendung „The Thought for the Day” auf BBC4 im Ohr. Die Sunday Times nennt ihn jemanden, „der seinen Zuhörern das Gefühl gab, klug zu sein“. Streben wir nicht alle danach?

Zahllose Nachrufe zeichnen Sacks Werdegang nach, vom Philosophie-Studium in Cambridge und seiner Promotion am King‘s College über das Gemeinderabbinat in Golders Green und Marble Arch zur Leitung des Londoner Jews‘ College. Von 1991 bis 2013 war er Oberrabbiner der United Hebrew Congregations von Großbritannien und im Commonwealth, der mit 40.000 Mitgliedern größten orthodoxen Gemeinschaft im Vereinten Königreich. Vielen liberalen Juden und Jüdinnen ist noch die Krise von 1996/97 im Gedächtnis, als sich Sacks erst weigerte, an der Bestattung des überaus populären Reformrabbiners Hugo Gryn teilzunehmen, dann aber Monate später einen Gedenkgottesdienst besuchte, Gryn jedoch in einem Brief als „Zerstörer des Judentums“ abtat. Der Konflikt zwischen Orthodoxie und Reformbewegung machte damals deutlich, dass Sacks eben nicht der Oberrabbiner aller war und es mehr Miteinander brauchte.

Er selbst befand dazu 2013: „Infolge der damaligen Turbulenzen war ich gezwungen, diese ganze Angelegenheit zu überdenken, und ich bin für mich zu zwei Prinzipien gelangt: in allen Angelegenheiten, die uns als Juden betreffen, arbeiten wir unabhängig von unseren religiösen Unterschieden zusammen, und in allen Dingen, die unsere religiösen Unterschiede berühren, sind wir uns einig, dass wir uns unterscheiden, aber mit Respekt. Als Ergebnis dieser beiden Prinzipien sind die Beziehungen zwischen Reformern und Orthodoxen viel besser geworden und haben tatsächlich Modellcharakter für den Rest der jüdischen Welt. Progressive Rabbiner sitzen mit mir im Rat der Christen und Juden, wir stehen gemeinsam für Israel.“

„The dignity of difference”, die Würde der Verschiedenheit, wurde zum Motto von Rabbiner Jonathan Sacks, der 2005  von der Queen zum Ritter geschlagen und vier Jahre später als Baron Sacks of Aldgate Mitglied des Oberhauses wurde, und es ist ein starkes Zeichen, dass ihn die liberale Präsidentin des Board of Deputies of British Jews, Marie van der Zyl, in ihrem Nachruf als „Riesen sowohl der jüdischen Gemeinschaft als auch der breiteren Gesellschaft“ beschreibt. Van der Zyl, aktives Mitglied der West London Synagogue of British Jews, der ältesten Reformgemeinde Londons, erklärt: „Seine herausragende Amtszeit als Oberrabbiner führte zu einer Revolution im jüdischen Leben und Lernen, die dafür gesorgt hat, dass sein Vermächtnis nicht nur durch seine eigene geliebte Familie, sondern auch durch Generationen von jungen Menschen unserer Gemeinschaft weitergegeben wird.“

Sacks, der von seinem 40. Lebensjahr an Jahr für Jahr ein Buch veröffentlichte, zuletzt Restoring the Common Good in Divided Times (2020), stellte sich dem Zeitgeist und den drängenden Zeitfragen, rückte von haredischen Kreisen ab, setzte auf mehr Frauen in jüdischen Gremien und räumte 2004 ein, dass Homosexualität angeboren ist, weswegen er dafür plädierte, Homosexuelle in jüdische Gemeinden zu integrieren. Er wies immer wieder auf den mutierenden Virus des Antisemitismus hin und war ein erklärter Gegner des antisemitischen Labour-Politikers Jeremy Corbyn.

Rabbiner Jonathan Sacks spricht zu uns weiterhin durch seine Bücher und durch Sätze wie diese: „Religion überlebt, weil sie drei Fragen beantwortet, die sich jeder urteilsfähige Mensch stellen muss. Wer bin ich? Warum bin ich hier? Auf welche Weise soll ich dann leben?“ Möge die Erinnerung an HaRav Yaakov Zvi ben David Arieh z“l zum Segen sein.

Photo: © Blake Ezra / The Office of Rabbi Sacks