Mehr als nur eine Personalie

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Mit dem Politikwissenschaftler Samuel Salzborn hat das Land Berlin seinen ersten Antisemitismusbeauftragten…

Von Ralf Balke

Erst einmal die gute Nachricht: Laut Recherche- und Informationsdienst Antisemitismus (RIAS) ist im Jahr 2019 im Vergleich zum Vorjahr die die Gesamtzahl der gemeldeten antisemitischen Vorfälle von 1.085 auf 881 gesunken. Das entspricht einem Minus von 19 Prozent. Doch Grund zur Entwarnung sei dadurch keinesfalls gegeben, wie Benjamin Steinitz, Projektleiter bei RIAS, betont. Denn den weniger registrierten Vorkommnissen, beispielsweise im Bereich gezielter Sachbeschädigung, steht ein Anstieg bei antijüdischen Bedrohungen von 28 Prozent gegenüber. „Der quantitative Rückgang ist eine positive Entwicklung, aber qualitativ haben wir eine antisemitische Grundstimmung, die uns weiter wachsam halten muss“, kommentierte Berlins Justizsenator Dirk Behrendt von den Grünen die Veröffentlichung dieser Zahlen am 29. April. Um den Antisemitismus in all seinen Ausprägungen besser bekämpfen zu können, hat die Justizverwaltung nun den bekannten Politikwissenschaftler Samuel Salzborn zum ersten Antisemitismusbeauftragen des Landes Berlin ernannt. Er folgt auf den Referatsleiter Lorenz Korgel, der im Mai 2019 das Amt nur kommissarisch übernommen hatte.

Salzborn soll als eine Art Schnittstelle zwischen der jüdischen Gemeinschaft der Hauptstadt und der gesamten Berliner Verwaltung für alle Fragen wirken, die im Zusammenhang mit dem Thema Antisemitismus stehen. Seine Aufgabe brachte der Politikwissenschaft anlässlich seiner Nominierung mit den Worten auf den Punkt, dass „jüdisches Leben wieder eine völlige Selbstverständlichkeit im Berliner Alltag“ werden soll. Es dürfe einfach kein Sicherheitsrisiko mehr sein, auf der Straße eine Kippa zu tragen. Das wird nicht einfach sein, denn: „Antisemiten fühlen sich in der deutschen Gesellschaft momentan im Aufwind“, erklärte er in einem Interview mit der Tageszeitung B.Z. „Sie haben das Gefühl, dass das, was sie tun, auf wenig Widerspruch stößt.“ Zugleich betonte Salzborn, dass der Hass auf Juden kein Phänomen der radikalen politischen Ränder sei, sondern aus allen Teilen der Gesellschaft kommt, also auch aus ihrer vielbeschworenen Mitte. „Wir haben ein ganz, ganz stark erodierendes Sicherheitsgefühl in der jüdischen Community. Einerseits durch Ereignisse in Berlin, durch diskriminierende Vorfälle, durch Angriffe, durch Gewalttaten. In Schulen, aber auch auf der Straße.“

Ausschlaggebend für die Wahl des 1977 in Hannover geborenen Politikwissenschaftler ist seine langjährige Expertise. So war Salzborn zwei Jahre lang Gastprofessor für Antisemitismus an der Technischen Universität Berlin und unter anderem Leiter einer Nachwuchsforschungsgruppe zum NSU-Prozess. Er lehrte und forschte an den Universitäten Gießen, Marburg, Bielefeld, Göttingen sowie Prag, der Hebräischen Universität in Jerusalem, der Teesside University Middlesbrough und der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung. Der Titel seiner Habilitationsschrift lautete „Antisemitismus als negative Leitidee der Moderne“. Darüber hinaus kann er auf eine eindrucksvolle Publikationsliste verweisen, die belegt, dass er sich mit dem Thema in all seinen Facetten bereits seit rund 20 Jahren beschäftigt. Salzborn sei deshalb der mit Abstand beste Kandidat für den Posten gewesen, sagt unter anderem Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, der der Kommission angehörte, die alle 50 Bewerbungen auf den Posten unter die Lupe nahm. „Wir haben hier in Berlin die Herausforderung, dass sich Antisemitismus tagtäglich neu artikuliert“, so Königsberg weiter.

Ein wenig Schützenhilfe erhält Salzborn gerade durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, das Anfang August erstmals einen „Lagebericht Antisemitismus“ veröffentlicht hat, sowie von der Berliner Senatsverwaltung für Inneres und Sport, die vor wenigen Wochen unter dem Titel „Antisemitismus in verfassungsfeindlichen Ideologien und Bestrebungen“ ebenfalls ein Kompendium über die verschiedenen Ausdrucksformen des Hasses auf Juden und so etwas wie ein who’s who der vielschichtigen Szenen aus dem rechtsextremen, dem islamistischen sowie dem linksextremen Spektrum zusammengestellt hat. Er hoffe deshalb auf einen „Paradigmenwechsel“ bei allen Instanzen, die für die Sicherheit von Juden hierzulande zuständig sind. Denn in beiden Publikationen kommt endlich auch das Thema israelbezogener Antisemitismus zur Sprache, der dem Bundesamt für Verfassungsschutz sowie dem Senat für Inneres und Sport zufolge „heute die präsenteste Form des Antisemitismus“ ist und aufgrund seiner „Anschlussfähigkeit“ an „nicht-extreme Diskurse“ als besonders problematisch gilt. Für den Politikwissenschaftler stellt diese Ausdrucksform des Hasses auf Juden sogar die zentrale Integrationsideologie dar, die für alle diese untereinander sich nicht selten spinnefeind gegenüberstehenden Strömungen so etwas wie die große Klammer ist, die alle vereint. „Man sollte aber trotz der zutreffenden Beschreibung der integrativen Relevanz des antiisraelischen Antisemitismus nicht übersehen, dass nach wie vor auch andere Formen antisemitischer Artikulation relevant sind“, so Salzborn auf einer Pressekonferenz anlässlich seiner Ernennung. Vor allem die vermehrt auftretenden Formen antisemitischer Schuldabwehr und einer Täter-Opfer-Umkehr in Hinsicht auf die NS-Vergangenheit seien zu nennen.

Genau da gab es in letzter Zeit zahlreiche Defizite, weil der Widerspruch gegen Judenfeindlichkeit entweder zu zaghaft und vorsichtig artikuliert worden sei, oder in manchen Fällen sogar ein gewisses Verständnis mit im Spiel war. „Dadurch fühlten und fühlen sich Antisemiten und Antisemitinnen bestärkt, ihre Ressentiments immer offener zu kommunizieren und dem antisemitischen Denken auch antisemitische Taten folgen zu lassen“, so Salzborn im Evangelischen Pressedienst. In diesem Kontext sei es ebenfalls wichtig, dass das in Umfragen unter Juden in jüngster Zeit zum Ausdruck kommende Gefühl, heute gefährdeter denn je zu sein, wieder einem Empfinden von Sicherheit weicht. Deshalb gilt für ihn: „Es muss ganz klar die jüdische Perspektive wahrgenommen und jüdische Interessen weiter gestärkt werden.“ Darin sieht er eines der wesentlichen Ziele seiner Arbeit als Antisemitismusbeauftragter des Landes Berlin. In diesem Zusammenhang nennt er die drei Säulen, auf denen alle Konzepte im Kampf gegen den Hass auf Juden basieren sollten, und zwar Prävention, Intervention und Repression. Wichtig ist dabei ihre richtige Synchronisierung. Alle Beteiligten müssten „Hand in Hand“ arbeiten, damit dem rechten und islamischen, aber auch dem christlichen und linken Antisemitismus effektiver begegnet werden  kann.

Vor diesem Hintergrund ist insbesondere der Bereich schulische Bildung herausgefordert. Salzborn selbst wünscht sich eine fundiertere Behandlung des Themas im Unterricht, weshalb Gespräche mit Schulleitern und Lehrern bei ihm ganz oben auf der Agenda stehen. Bereits in der Vergangenheit hat er didaktische Defizite mehrfach zur Sprache gebracht, unter anderem die problematischen Inhalte von manchen Unterrichtsmaterialen. „Es gibt sogar Schulbücher, die diese Täter-Opfer-Umkehr befeuern und Israel im Kontext mit den Palästinensern als alleinigen Aggressor darstellen“, so Salzborn in einem Interview mit der „Welt“ vor rund einem Jahr. Auch seien Lehrer mit offen antisemitischen Einstellungen nie wirklich sanktioniert worden. Dabei kritisierte er den postmodernen Ansatz einer sogenannten Multiperspektivität, der im Unterricht vorherrsche. „Alle Schüler können, sollen und müssen zu allem permanent ihre eigenen Positionen formulieren. Beim Thema Antisemitismus ist es aber fatal, wenn Lehrkräfte glauben, dass man hier anfangen kann, Verhandlungen zu führen. Sie müssen sich allein an der Wahrheit orientieren und nicht an einer schwammigen, willkürlichen Diversität.“

Darüber hinaus will Salzborn das Bewusstsein für die Problematik schärfen. Denn zwischen der Selbstwahrnehmung der deutschen Mehrheitsgesellschaft, dass sie aufgrund einer vermeintlich erfolgreichen Aufarbeitung der Geschichte quasi immun gegen das Phänomen Antisemitismus sei, und dem Wunsch nach Geschichtsvergessenheit, der verstärkt aus dem Umfeld der AfD zu hören ist, gibt es durchaus einige bemerkenswerte Zusammenhänge, wie er sie bereits in dem Titel „Kollektive Unschuld“, seinem neuesten Buch, andeutet. Und damit ist auch schon das Alleinstellungsmerkmal von Salzborn auf den Punkt gebracht. Im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen auf Landes- bzw. Bundesebene ist er mit der Materie schon seit vielen Jahren bestens vertraut und hat die Antisemitismusforschung durch zahlreiche Beiträge selbst vorangetrieben.

Bild oben: (c) Anja Thiele