„Jiddisch nimmt einen Aufschwung …“

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Vor 110 Jahren veröffentlichte Melech Rawitsch sein erstes Werk…

Von Jim G. Tobias

„Es gibt Schriftsteller, die mit ihrem Werk eins sind“, urteilte die jiddische Romancière und Lyrikerin Chava Rosenfarb. „Täglich hat er vierundzwanzig Stunden lang geschrieben“, erinnert sich der Schriftsteller Abraham Sutzkever. „Er veröffentlichte etwa viertausend Aufsätze in der jiddischen Presse weltweit und zwei Dutzend Bücher“, ergänzt sein Kollege Jossl Birstein. Die Rede ist von Melech Rawitsch, einem der bedeutendsten jiddischen Essayisten, Lyriker und Journalisten. Als Sacharja Bergner erblickte er am 27. November 1893 im ostgalizischen Radymno das Licht der Welt. Schon als Jugendlichem war ihm klar: Er wollte Dichter werden und in jiddischer Sprache schreiben.

Sacharjas erstes Gedicht erschien 1910 in einer jiddischen Zeitschrift unter dem Pseudonym Melech Rawitsch – dieser Name begleitete den damals 17-Jährigen sein ganzes Leben. Nachdem er im Ersten Weltkrieg seinen Wehrdienst in der österreichischen Armee abgeleistet hatte, verbrachte Rawitsch einige Jahre in Wien, wo er seinen Lebensunterhalt in einer Bank verdiente. Während dieser Zeit erschien 1921 sein Gedichtband „Nakete Lider“. „Die erniedrigte Sprache, an der man sich festhält wie an einem leuchtenden Stern, wird tatsächlich ein leuchtender Stern“; notierte er triumphierend. „Jiddisch nimmt einen Aufschwung.“

Doch die Hauptstadt der modernen jiddischen Literatur war zu dieser Zeit Warschau. Dort traf der Kosmopolit Rawitsch auf den Kommunisten Perez Markisch und den Zionisten Uri Zwi Grinberg; sie gründeten den expressionisch-literarischen Zirkel „Di Chaljastre“ (Die Bande). Dem avantgardistischen Dreigestirn schlossen sich rasch weitere Schriftsteller wie etwa Perez Hirschbein oder Israel Joshua Singer an. In ihrer unbändigen revolutionären Begeisterung forderte „Di Chaljastre“, dass die jiddische Sprache und Kultur zur geistigen und kulturellen Heimat aller Juden werde – unabhängig von politischen oder religiösen Überzeugungen.

Ab Mitte der 1920er Jahre hatte Melech Rawitsch den Posten des Geschäftsführers des „Farejn fun Jidisze Literatn un Tsurnalistn in Warszhe“ übernommen. In der Jiddischen „Folks-Cajtung“ schrieb er regelmäßig Kolumnen und forderte seine Leser auf, Texte einzuschicken, die er entweder mit einer freundlichen Ermunterung beantwortete oder den Verfasser aufforderte, „sofort alle Stifte im Hause zu zerbrechen“.

Bei Rawitschs Reisen, kreuz und quer durch Polen, blieb ihm der zunehmende Antisemitismus im Land nicht verborgen. Nachdem Hitler in Deutschland an die Macht gekommen war, plante der Literat eine Jüdische Heimstatt außerhalb Europas. Seine Idee, Zehntausende osteuropäische Juden in der unbewohnten australischen Kimberley Region anzusiedeln, scheiterte – sein alternatives Zion blieb eine Fantasie.

Trotz des Rückschlags ließ Rawitsch sich für einige Jahre in Melbourne nieder, bevor er über Buenos Aires und New York nach Montreal immigrierte. Seine Reisen verarbeitete er zu Balladen in seinem Werk „Kontinentn un Okeanen“, das wie sein Reportagenband „Iber Ostralje“, 1937 verlegt wurde. Ihm folgte 1940 die Gedichtsammlung „Lider un Baladn fun di lezte draj-fir Jor“.

Die kanadische Stadt am Sankt-Lorenz-Strom wurde ab 1941 zur neuen Heimat, wo Rawitsch – mit Unterbrechung durch zwei längere Aufenthalte in Israel – bis zu seinem Tod lebte. Er arbeitete viele Jahre in der „Jidisze Folks Bibliotek“ und schrieb unablässig weiter; zahlreiche Artikel publizierte er etwa in der jiddischen Zeitung „Keneder Odler“. 1962 legte Rawitsch den ersten Band seiner über 1.300 Seiten umfassenden Autobiografie „Dos Majse-Buch fun majn Lebn“ vor, der dritte und letzte Band erschien 1975, ein Jahr vor seinem Tod am 20. August 1976. Durch den unermüdlichen Einsatz von Melech Rawitsch für die jiddische Sprache und Kultur wurde Montreal neben Buenos Aires zu einem Zentrum der jiddischen Literatur.

Bild oben: „Di Chaljastre“ 1922, v. l. n. r: Mendel Elkin, Perez Hirschbein, Uri Zwi Grinberg, Perez Markisch, Melech Rawitsch, Israel Joschua Singer. Repro: Wikimedia (PD)

Auf dem deutschen Büchermarkt sucht man vergeblich nach Schriften von Melech Rawitsch.  Eine Auswahl aus dem „Majse-Buch“ erschien 1996 unter dem Titel „Das Geschichtenbuch meines Lebens“. Leider ist der Band vergriffen und nur noch antiquarisch erhältlich.

In seinem Nachschlagewerk „Majn Leksikon“ portraitiert Rawitsch Hunderte jiddische Schriftsteller, Journalisten, Schauspieler und andere Künstler. Das in jiddischer Sprache verfasste Werk ist als kostenloser download (PDF) über THE YIDDISH BOOK CENTER – Steven Spielberg Digital Yiddish Library erhältlich:
https://ia802704.us.archive.org/18/items/nybc200317/nybc200317.pdf
https://ia802700.us.archive.org/26/items/nybc200318/nybc200318.pdf
https://ia902706.us.archive.org/16/items/nybc200319/nybc200319.pdf