„Es gilt jetzt, noch Opfer anderer Art zu bringen, nicht heroische, sondern stille, unscheinbare Opfer, um für das rechte Leben Beispiel zu geben.“ Dies stand auf Gustav Landauers von den Nationalsozialisten zerstörtem Gedenkstein auf dem Münchner Waldfriedhof – ein Zitat aus seinem „Aufruf zum Sozialismus“ von 1911. Worte, die in diesem Jahr 2020 mit seiner großen neuen Krise, seinen drängenden sozialen, ökonomischen und ökologischen Themen gar nicht einmal so wilhelminisch veraltet wirken…
Von Moira Thiele
Anderthalb Jahrhunderte ist es her, dass Gustav Landauer in Karlsruhe in eine gutbürgerliche jüdische, sehr assimilierte Kaufmannsfamilie geboren wurde. Wem der Name etwas sagt, kennt ihn meist nur als einen der Köpfe der Räterepublik von 1919, vielleicht noch als anarchistischen Visionär. Erst in den letzten Jahren entdeckt man ihn neu, sein Werk, sein Wirken als sozial engagierter Aktivist und charismatischer Redner, und seinen fruchtbaren Austausch mit Freunden und Wegbegleitern wie Fritz Mauthner, Martin Buber, Richard Dehmel, Kurt Eisner, Erich Mühsam und vielen anderen Größen seiner Zeit.
Ein Überzeugter war er, der neue, freie, sozialere Formen des Zusammenlebens propagierte und ausprobierte, und einer der Wenigen, die im Ersten Weltkrieg nicht von ihrer pazifistischen Haltung abwichen.
Als junger Mann mehrfach wegen seiner anarchistischen Grundhaltung im Gefängnis, ständig geplagt vom finanziellen Existenzkampf, als Autor und Redner seine Familie zu ernähren, hätte er nach Kriegsende als Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus ein sicheres Auskommen gehabt – wäre er nicht nach dem Tod seiner geliebten Frau, der Dichterin Hedwig Lachmann, vom dem neu gewählten bayrischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner nach München geholt worden.
Die Chance, an einer revolutionären Umgestaltung rhetorisch und politisch mitzuwirken, konnte er nicht vorbei gehen lassen: „Es ist jetzt, endlich, die Zeit da, wo man mithelfen kann und muss.“
Der Schriftsteller und Philosoph wollte eine der aufregendsten und hoffnungsvollsten Epochen des Umbruchs nicht nur als analysierender Beobachter miterleben, sondern versuchte sie auch mit großem politischen Engagement mitzugestalten, was ihn schließlich nach Eisners Ermordung und dem kurzen Intermezzo der Münchner Räterepublik das Leben kostete.
In diesem Jahr sind zum 150. Jahrestag seiner Geburt zwei ganz unterschiedliche Biographien erschienen, von denen jede auf ihre Weise sehr lesenswert ist, denn beide Bücher zeichnen ein rundes Bild seines Lebens, das die geistigen Einflüsse seines Umfelds ebenso einbezieht wie seine gesellschaftlich-politischen Abenteuer und den privaten Menschen.
Rita Steininger legt nach umfangreichen Recherchen – weit über die bislang bekannten Quellen hinaus – ein spannend geschriebenes und detailgenaues biographisches Porträt vor, das den „großen Propheten des Friedens“, wie ihn Ernst Toller nannte, ebenso als aufmüpfigen Schüler wie als politisch begeisterten und verliebten jungen Mann zeigt, als Ehemann und Familienvater, Freund und Kämpfer, all dies eingebettet in die lebendige und präzise Schilderung der Lebensumstände von Bürgertum und Arbeitern in Kaiserreich, Krieg und Revolution.
Zitate aus Werken, Briefen und Tagebüchern lassen zusammen mit Porträts seiner Freunde, geistigen Leitbilder und Weggefährten eine farbige, facettenreiche und dramatische Chronik seines Lebens entstehen. Einige Seiten mit Fotographien vervollständigen das Bild des fast zwei Meter großen hageren Mannes im Pelerinenmantel, mit langen Haaren und nachdenklichem Blick, der aussah wie eine „Mischung von Christus und Don Quixote“, wie ein Zeitgenosse bemerkte.
Sebastian Kunze ist es in dem schmalen Bändchen der Reihe „Jüdische Miniaturen“ gelungen, „Gustav Landauer – Zwischen Anarchismus und Tradition“ zu porträtieren, und auf knappem Raum nicht nur eine Übersicht über Leben und Werk zu vermitteln, sondern geistige und gesellschaftliche Strömungen zu charakterisieren und in Bezug zueinander zu setzen. So entsteht ein Verständnis für die Spannweite seines Denkens von der Beschäftigung mit Goethe bis zur Sprengung bürgerlicher Literaturthemen in seinen eigenen Werken, von der Mystik Meister Eckharts, der Philosophie Spinozas und Martin Bubers bis zur Sprachkritik Fritz Mauthners. Vieles davon fand in „Skepsis und Mystik“, einem von Landauers Hauptwerken, seinen Niederschlag.
Das Kapitel „Martin Buber und das Judentum“ lenkt das Augenmerk auf dessen durch die Freundschaft mit Buber intensivierte Auseinandersetzung mit der jüdischen Tradition.
Landauer selbst sah es so: „…mein Deutschtum und Judentum tun einander nichts zuleid und vieles zulieb…“ Martin Buber hatte den offiziell aus der Religionsgemeinschaft ausgetretenen Landauer in seinem tieferen Verständnis der eigenen jüdischen Identität stark beeinflusst, während Landauer seinerseits an Buber schrieb: »Lieber Buber, sehr schönes Thema, die Revolution und die Juden. Behandeln Sie dann nur auch den führenden Anteil der Juden an dem Umsturz.«
Das war der Mehrheit der gutbürgerlich-konservativen Münchner Juden gar nicht recht; man wandte sich an die Protagonisten der Räterepublik jüdischer Herkunft wie Toller, Mühsam und Landauer mit folgenden Worten: »Unsere Hände sind rein von den Greueln des Chaos und von dem Jammer und Leid, das Ihre Politik über Bayerns zukünftige Entwicklung heraufbeschwören muß. Sie allein, und nur Sie, tragen hierfür die volle Verantwortung.«
Der Vorsteher des orthodoxen Synagogenvereins, der dies schrieb, hatte nicht umsonst Angst.
All dies wirkte nach und spielte in den Zwanziger Jahren den immer stärker werdenden Nationalsozialisten und anderen Antisemiten in die Hände, welche die „jüdische Beteiligung“ an Revolution und Räterepublik nur allzu gerne schamlos instrumentalisierten, wie Michael Brenner in »Der lange Schatten der Revolution. Juden und Antisemiten in Hitlers München 1918–1923« eindrucksvoll belegt.
Die Räterepublik – im besten Fall nur ein Traum von weltfremden jüdischen Literaten? Fest steht, dass Kurt Eisner in seiner kurzen Regierungszeit nicht nur den Freistaat Bayern ausrief, sondern erstmals für den 8-Stunden-Tag und das allgemeine Wahlrecht auch für Frauen sorgte; Landauer, der ein paar Tage lang für Bildung und Erziehung zuständig war, schaffte als erstes an den Schulen die Prügelstrafe ab.
Eine Gedenkstele für Gustav Landauer mit den eingangs zitierten Zeilen wurde vor wenigen Jahren wieder auf dem Waldfriedhof eingeweiht; sein eigentliches Grab ist auf dem Neuen Israelitischen Friedhof neben dem Kurt Eisners zu finden, für den er einst die Trauerrede hielt, deren Worte auch auf ihn selbst passen würden: »…er, der Jude, war ein Prophet, weil er mit den Armen und Getretenen fühlte und die Möglichkeit, die Notwendigkeit schaute, der Not und Knechtung ein Ende zu machen.«
Rita Steininger: Gustav Landauer. Ein Kämpfer für Freiheit und Menschlichkeit, Volk Verlag, 208 Seiten, mit Bildstrecke, 18 Euro, Bestellen?
Sebastian Kunze: Gustav Landauer. Zwischen Anarchismus und Tradition. Hentrich & Hentrich, 74 Seiten, mit 12 Abbildungen, 8,90 Euro, Bestellen?
Bild oben: Gustav Landauer in den frühen 1890er Jahren