Die Wiedergeburt einer bedeutenden Nachkriegsgemeinde

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Frankfurt am Main, ein Zentrum jüdischen Lebens in der alten Bundesrepublik…

Vor der Shoa war die Mainmetropole die deutsche Stadt mit dem höchsten jüdischen Bevölkerungsanteil – 30.000 Personen, mehr als fünf Prozent der Einwohnerschaft. Darunter befanden sich über 5.000 osteuropäische Juden, die eine orthodoxe Glaubensauslegung praktizierten. In Frankfurt existierten vier Synagogen, drei jüdische Schulen, ein Waisenhaus sowie Senioren- und Erholungsheime. Als die US-Truppen Ende März 1945 in die Stadt einmarschierten, lebten noch etwa 150 bis 200 Juden in Frankfurt; eine der größten jüdischen Gemeinschaften in Deutschland war nahezu vollständig ausgelöscht.

Dennoch entstanden unter dem Schutz der US-amerikanischen Militärregierung rasch ein Netz jüdischer Institutionen und später eine intellektuelle Szene, deren Leuchtturm das aus dem Exil zurückgekehrte Institut für Sozialforschung war –mit Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an der Spitze. Das Wunder der Wiedergeburt einer deutschen jüdischen Gemeinde beschreibt der Historiker und stellvertretende Leiter des Fritz-Bauer-Instituts, Tobias Freimüller, in seiner Publikation Frankfurt und die Juden. Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945-1990. Dabei spannt er den Bogen von den ersten und schwierigen Nachkriegsjahren, die hauptsächlich durch osteuropäische Displaced Persons (DP) geprägt waren, bis zur Zuwanderung der so genannten Kontingentflüchtlinge aus den ehemaligen GUS-Staaten.

Im Frankfurter Stadtteil Zeilsheim lebten ab 1945 für einige Jahre Tausende Shoa-Überlebende in einem DP-Lager. Da die Unterkünfte in der ehemaligen Arbeitersiedlung der Farbwerke Hoechst nicht ausreichten, siedelten sich viele jüdischen DPs auch in der Stadt an. Gleichzeitig versuchten das Häuflein der wenigen deutschen Juden sowie einige Rückkehrer aus dem Exil eine neue Gemeinde zu etablieren. Zeitweise bestanden in Frankfurt daher zwei jüdische Gemeinschaften, die erst 1949 fusionierten und die Basis für die heutige Jüdische Gemeinde Frankfurt schufen. Der Anfang eines langen Weges, der als Überleben nach dem Überleben begann und Jahrzehnte als Zwischenstation mit gepackten Koffern nach irgendwo angesehen wurde: Von der bleiernen Zeit der fünfziger und sechziger Jahre, der Studenten- und Häuserkampfbewegung, der Auseinandersetzungen um das Fassbinder Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, dem Konflikt um den Börneplatz bis schließlich zu einer selbstbewussten deutsch-jüdischen Gemeinde.

Die Arbeit wurde letztes Jahr mit dem renommierten „Rosl und Paul Arnsberg-Preis der Stiftung Polytechnische Gesellschaft“ ausgezeichnet. Diesen Preis hatte elf Jahre zuvor auch Helga Krohn für ihr Überblickswerk „Es war richtig, wieder anzufangen“ Juden in Frankfurt am Main seit 1945 erhalten. Tobias Freimüllers Arbeit ist nicht die erste Publikation, die sich mit der zeitgenössischen jüdischen Geschichte in Frankfurt auseinandersetzt, auch der Historiker Alon Tauber legte bereits 2008 mit seiner Dissertation „Zwischen Kontinuität und Neuanfang. Die Entstehung der jüdischen Nachkriegsgemeinde in Frankfurt am Main“ eine überzeugende Detailstudie vor. Beides wichtige Grundlagenwerke, auf die Tobias Freimüllers Publikation aufbaut. Seine Forschungen stützen sich im Wesentlichen auf eine umfangreiche Auswertung der einschlägigen Sekundärliteratur. Wobei die Auswahl der konsultierten Werke zum Thema Displaced Persons irritiert. Eine wichtige Quelle Freimüllers ist ein neunseitiger Aufsatz aus einem Sammelwerk zum 50. Jubiläum der Jüdischen Gemeinde Frankfurts, obwohl seit 2011 eine vom Fritz-Bauer-Institut mitherausgegebene und von der Stiftung Polytechnische Gesellschaft geförderte Monografie über das DP-Camp Zeilsheim vorliegt.

Dennoch ist Freimüllers Buch ein beachtliches und interessantes Überblickswerk. Obwohl es sich um eine akademische Qualifikationsarbeit (Habilitation) handelt, ist sie lesbar geschrieben und erzählt spannend die Nachkriegsgeschichte der Juden in Frankfurt. Lektüre für alle historisch und politisch Interessierten. – (jgt)

Tobias Freimüller, Frankfurt und die Juden. Neuanfänge und Fremdheitserfahrungen 1945-1990, Göttingen 2020, ISBN 978-3835336780, 568 S., 44,00 €, Bestellen?

Bild oben: Orthodoxe Rabbinerkonferenz in Frankfurt/Main (1946), Foto: US National Archives and Records Administration (Public Domain)