Manchmal ist es besonders schwierig, einen Kommentar zu einem Text zu schreiben, der dem Anschein nach, eine kurze, anschauliche Geschichte enthält, wie z.B. unsere Parascha…
Wochenabschnitt Balak; 4. Moses Kap. 22 – 25, 9 Schabbat, 4. Juli 2020
Balak ist ein moabitischer König, der von den sich nähernden und sein Land auf dem Weg nach Kanaan passierenden Israeliten die Vernichtung seines Landes befürchtet. „Wie ein Rind das Gras auf dem Felde abfrisst“. Also schickt er mit Geschenken beladene Boten zum Propheten Bileam ben Beor, um ihn zu überreden, das massenhafte Volk zu verfluchen. Bileam zögert mit der Durchführung des Anliegens und sagt den Boten: „Bleibt hier über Nacht, so will ich euch antworten, wie mir’s JHWH sagen wird“. Am folgenden Tag, nachdem der HERR Bileam erschienen war, sagt dieser den Boten: „Kehrt in euer Land zurück, denn der HERR will’s nicht gestatten, dass ich mit euch ziehe“.
König Balak verliert trotzdem die Hoffnung auf die Verfluchung der Israeliten nicht und schick erneut Boten, diesmal vornehmere Herren mit wertvolleren Geschenken, zu Bileam. Dieser lässt sich aber von den Geschenken nicht blenden und hat offensichtlich auch keine Angst vor einem König und sagt den Boten: „Wenn mir Balak sein Haus voll Silber und Gold gäbe, so könnte ich doch nicht übertreten das Wort von JHWH, meinem Gott“. Bileam empfiehlt den Boten, den nächsten Morgen abzuwarten, ob Gott dann vielleicht eine andere Anweisung für ihn haben würde. Tatsächlich erscheint in der Nacht Gott dem Bileam und sagt ihm: „Sind die Männer gekommen, dich zu rufen, so mach dich auf und zieh mit ihnen; doch nur, was ich dir sagen werde, sollst du tun“.
Bis hierher ist der Fall klar (sagen wir mal, mehr oder weniger). Was aber jetzt folgt, wirft schon einige Fragen auf, über die sich jeder seine eigenen Gedanken machen kann.
„Da stand Bileam am Morgen auf und zog mit den Fürsten der Moabiter. Aber der Zorn Gottes entbrannte darüber, dass er hinzog. Und der Engel des HERRN trat in den Weg, um ihn aufzuhalten. Er aber ritt auf seiner Eselin. Und die Eselin sah den Engel des HERRN auf dem Wege stehen mit einem Schwert in seiner Hand. Als die Eselin den Engel des HERRN sah, drängte sie sich an die Mauer und klemmte Bileam den Fuß an der Mauer ein, und er schlug sie. Da ging der Engel des HERRN weiter, wo kein Platz mehr war auszuweichen. Als die Eselin den Engel des HERRN sah, fiel sie auf die Knie unter Bileam. Da entbrannte der Zorn Bileams, und er schlug die Eselin mit dem Stecken. Da tat der HERR der Eselin den Mund auf: Was hab ich dir getan? Bileam sprach zur Eselin: Weil du Mutwillen mit mir treibst! Da öffnete der HERR dem Bileam die Augen, dass er den Engel des HERRN auf dem Wege sah mit einem Schwert in seiner Hand. Und der Engel sprach: Ich habe mich aufgemacht, um dich aufzuhalten; die Eselin hat mich gesehen und ist mir ausgewichen. Wäre sie mir nicht ausgewichen, wollte ich dich töten. Da sprach Bileam: Und nun, wenn dir’s nicht gefällt, will ich umkehren. Der Engel sprach zu ihm: Zieh hin mit den Männern, aber nichts anderes, als was ich zu dir sagen werde, sollst du reden.“ (Der Text wurde von mir etwas gekürzt). Bileam zieht weiter zu König Balak und nach langem Hin und Her spricht er über das Volk Israel die schönsten Segenssprüche, die jemals sowohl in der Tora als auch sonst irgendwo gesprochen wurden.
Die erste Frage, die ins Auge springt, warum wurde Gott über Bileam zornig? Dazu kommt, dass Bileam von den jüdischen Gelehrten als Böser (Hasser) bezeichnet wurde, was zum Volksmythos wurde. Er wird der „böse Bileam“ genannt. Letzten Endes wurde Bileam im Krieg gegen fünf moabitische Könige neben den Königen von den Israeliten umgebracht.
Es gibt so viele Widersprüche und Merkwürdigkeiten in der Bileam-Geschichte, dass selbst die Talmud-Gelehrten nicht zurechtkamen. Vielleicht sagten sie deshalb, dass Moses zwei Bücher schrieb: die Tora und die Geschichte Bileams. Dass also die Geschichte praktisch nicht zur Tora gehört. Außerdem findet man eine bemerkenswerte Bemerkung im Talmud zu der Tora-Stelle: „Und es gab hinfort keinen Propheten in Israel wie Mose“ (5. M. 34); in Israel nicht, jedoch unter den Völkern – und zwar Bileam. Nun haben sich Gelehrte und Mystiker im Laufe der Geschichte zur Bileam-Story geäußert, jedoch hätte Bileam es verdient, dass mindestens eine moderne Forschungsarbeit über ihn geschrieben würde.
Schabbat Schalom
Dr. Gabriel Miller absolvierte umfangreiche rabbinische und juristischen Studien, war Leiter der Forschungsstelle für jüdisches Recht an der Universität zu Frankfurt am Main, Fachbereich Rechtswissenschaft. Außerdem gibt er die bei den Lesern von haGalil längst gut bekannte Website juedisches-recht.deheraus.