Antisemitische Corona-Protestformen als Renaissance mittelalterlicher Verschwörungsideologien

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Immer wenn es zu dramatischen Ereignissen in Gesellschaft und Politik kommt, kommt es zu einer anwachsenden Verbreitung von kuriosen Verschwörungsvorstellungen. Diese schlichte Auffassung könnte man gar als „soziologisches Gesetz“ ansehen…

Von Armin Pfahl-Traughber

Belegen lässt sich diese Aussage nicht nur beim Blick in die Gegenwart, sondern schon in die Geschichte: Nach der Französischen Revolution war von der „Freimaurer-Verschwörung“ die Rede, nach der Russischen Revolution von der „jüdisch-freimaurerischen Verschwörung“. Auch später blühten immer wieder Konspirationsvorstellungen auf, wofür einschlägige Behauptungen nach dem Unfalltod von Lady Di stehen. Und nach den Anschlägen vom 11. September 2001 dauerte es nicht lange, bis entweder die „Amerikaner“ selbst oder gar der israelische Mossad dafür verantwortlich gemacht wurden. All diesen Aussagen war eigen, dass man als Hintergrund eine Verschwörung unterstellte, dafür aber keine Belege geliefert und keine Korrekturen vorgenommen wurden. Daher handelt es sich um Ideologien oder Mythen.

Es könnte aber noch ein weiteres „soziologisches Gesetz“ im gemeinten Sinne postuliert werden: Immer wenn auf dunkle Konspirationen hingewiesen wird, kursieren auch antisemitische Varianten dazu. Dieses Denken hat eine lange Tradition: Bekanntlich gab es die „Brunnenvergifter“-Behauptungen im Mittelalter, wo man „den Juden“ unterstellte, sie würden die Brunnen eben mit Gift versehen, wozu sie sich zuvor in einer geheimen Verabredung entschlossen hätten. So wurde dann das Aufkommen der Pest erklärt. Wie unsinnig eine solche Aussage war, hätte man auch in unaufgeklärten Zeiten schnell einsehen können. Denn auch Juden starben an dieser Krankheit. Aus ideengeschichtlicher Betrachtung bildeten derartige Unterstellungen die reale Wurzel der antisemitischen Verschwörungsvorstellungen. Diese fanden dann in den späteren Jahrhunderten immer größere Verbreitung. Beispielhaft stand dafür die Agitation mit der weit verbreiteten antisemitischen Fälschung der „Protokolle der Weisen von Zion“.

Blickt man nun auf manche „Corona-Proteste“, hier gemeint als Proteste gegen die Regierungsvorgaben zum Schutz vor diesem Virus, so lässt sich in Randbereichen eine Renaissance der mittelalterlichen Verschwörungsvorstellungen konstatieren. Bevor auf diesen Kontext näher eingegangen werden soll, bedarf es zunächst einiger Klarstellungen, damit es nicht zu beabsichtigten oder unbeabsichtigten Missverständnissen kommt: Die gemeinten Proteste mögen richtig oder falsch sein, sie stehen aber für eine legitime Sichtweise zum Thema. In einer pluralistischen Demokratie gibt es eben auch pluralistische Meinungen. Indessen findet man unter den Demonstranten nicht nur Menschen, die sich als Bürger um die Grundrechte und als Geschäftsleute um ihr Wirtschaftsunternehmen sorgen. Es gibt auch dubiose esoterisch eingestellte Konspirationsanhänger, die etwa eine Gefahr in Impfungen zur Menschenkontrolle sehen oder vom Plan einer geheimen „neuen Weltordnung“ sprechen. Und dann sind auch Angehörige des neueren und traditionellen Rechtsextremismus unterwegs.

Wie es genau um die jeweiligen Anteile unter den Demonstrierenden steht, lässt sich mangels empirischer Daten dazu seriös nicht sagen. Gleichwohl sind die beiden letztgenannten Gruppen auffällig optisch präsent bei entsprechenden Veranstaltungen. Bestärkt werden sie noch durch Aussagen von Prominenten, wozu etwa der Koch Attila Hildmann oder der Sänger Xavier Naidoo zählen. Während der Erstgenannte zuvor nicht mit Konspirationsvorstellungen aufgefallen war, fand sich derartiges Gedankengut schon länger bei Naidoo. Er ging sogar so weit, der „Fridays for Future“-Bewegung einen satanistischen Hintergrund zuzuschreiben. Denn, so sein angeblicher Beleg, sie kürze sich FFF ab, also dreimal der sechste Buchstabe im Alphabet, was für 666, die Zahl des „Antichristen“ stehe. Bedeutsam für den Hintergrund von antisemitischen Verschwörungsvorstellungen ist indessen, dass Naidoo in einem Song von den bösen und mächtigen „Baron Totschild“ sprach, eine Anspielung auf die Rotschilds im Sinne eines antisemitischen Zerrbildes.

Ein anderer ähnlich ausgerichteter Prominenter war einmal Radiomoderator, gemeint ist Ken Jebsen. Er fiel durch ausgeprägte Holocaust-Relativierung und fanatische Israelfeindlichkeit auf, was ihm die Kündigung vom RBB einbrachte. Jebsen wie Naidoo sehen sich selbst als Opfer einer Verschwörung. Denn die angeblichen Konspirateure hätten sie um ihren Ruf und ihre Stellung gebracht. Dass sich dies durch ihre inhaltlichen Aussagen und die mangelnden Belege dafür sowie ihre ressentimentgeladenen Vorstellungen erklärt, berücksichtigen die Genannten nicht. Beide können auf eine hohe Abonnentenzahl für ihre Videoseiten verweisen. Daran zeigt sich exemplarisch, welche öffentliche Reichweite derartige Vorstellungen haben können. Dies alles macht in der Kombination miteinander deutlich, dass die Akzeptanz für Konspirationsvorstellungen steigt, was bei den erwähnten Corona-Demonstrationen gut erkennbar ist. In den dort kursierenden Auffassungen lassen sich direkt wie indirekt antisemitische Stereotype in Verschwörungsideologien konstatieren.

Eine deutliche Benennung der „Juden“ wird indessen eher vermieden, findet sich aber gelegentlich in Internetkommentaren oder auf Protestplakaten. Als Bespiel für die erstgenannte Form können Videos von einem Ernst Wolff gelten, wo von einem „finanzfaschistischen Coup“ gewarnt wird. Die behaupteten Akteure dahinter nennt er nicht, werden darunter aber als „Juden“ in den Kommentaren identifiziert. Auch ohne genaue Benennung erkennt man die nahegelegten Schuldigen, da die Anspielungen von Gesinnungsgleichen wahrgenommen werden. Eher ungewöhnlich sind ganz offene Aussagen wie „Coronavirus heißt Judenkapitalismus“, was man etwa bei einer Bamberger Demonstration auf einem Pappschild lesen konnte. Häufig werden auch Einzelpersonen als Verantwortliche gesehen, wobei sie als Juden gelten sollen, es aber meist gar nicht sind. Bill Gates wird als Teufel symbolisiert, die Rockefellers gelten als Verantwortliche. Und dann wird auch George Soros regelmäßig als Verschwörer gesehen.  

Auch hier gibt es kontinuierliche Anspielungen auf deren konspirative Machenschaften, ohne dafür nur ansatzweise Belege präsentierten zu können. Wenn es nur leichte Ansätze von einem wahren Kern gibt, stimmen dann gleich die Dimensionen schon wieder nicht. So behauptet eine Verschwörungsvorstellung, Gates finanziere die Weltgesundheitsorganisation zu 80 Prozent. Selbst wenn es stimmen würde, würde dies hier nichts aussagen. Richtig daran ist, aber dass er für deren Gesamthaushalt ungefähr zehn Prozent spendet. Eigentlich sollte man Gates dafür gerade in der Gegenwart dankbar sein, stattdessen stellen ihn Demonstranten mit Teufelshörnern auf Transparenten dar. Ein jüdischer Hintergrund wird hier suggeriert. Aber auch die Behauptung, es solle über das Corona-Thema eine Weltregierung etabliert werden, gehört als latent antisemitische Vorstellung in diesen Zusammenhang. Eine Erklärung dazu unterschrieben hochrangige Würdenträger, wozu neben anderen katholischen Bischöfen auch der deutsche Kardinal Gerhard Ludwig Müller gehörte.

Besonders makaber sind in dem hier zu erörternden Kontext auch noch bestimmte Protestformen, die zumindest auf eine Holocaust-Relativierung und –Verharmlosung hinauslaufen. Die auffälligsten Beispiele dafür finden sich auf Pullovern und Transparenten: Da tragen Impfgegner bewusst Kleidungsstücke, wo der aus dem „Dritten Reich“ bekannte „Judenstern“ nachgebildet wird. Statt „Jude“ liest man dort aber „ungeimpft“. Oder es werden Aufschriften wie „Ausgangsbeschränkungen sind sozialer Holocaust“ auf Plakaten angebracht. Man mag darüber diskutieren, ob dies bereits antisemitisch oder nur geschmacklos ist. In der Gesamtschau stehen solche Statements sicherlich nicht dafür, dass ein klares Bewusstsein über die Dimensionen der historischen Ereignisse besteht. Außerdem lassen solche Aussagen und Einschätzungen eben auch eine verschwörungsideologische Grundposition erkennen, welche offen für antisemitische Inhalte ist, auch wenn dies hier angesichts der Aussagen für eine widersprüchliche Orientierung stehen würde.

Wie erklärt sich nun die Akzeptanz derartiger Verschwörungsvorstellungen? Antworten auf diese Frage ergeben sich aus deren Nutzen, denn für die Anhänger dieses Denkens sind sie von Vorteil: Erstens erfüllen sie eine Aufwertungsfunktion, denn die Konspirationsgläubigen verfügen scheinbar über ein höheres Wissen, kennen sie doch die angeblich wahren Hintergründe der Virusverbreitung. Dies hebt sie über Andere und Nichtwissende. Zweitens dienen die Auffassungen ihnen als Erkenntnisinstrument, lässt sich doch Corona als komplexes Phänomen so einfach erklären, auch wenn die Belege nicht stimmen und die Faktenlage unsicher ist. In der Erklärung wird die Komplexität reduziert, alle Verantwortung trägt der „böse“ Verschwörer. Und drittens erhalten die Anhänger so eine klare Identität, denn sie stehen nicht bei den „Bösen“, sondern bei den „Guten“. Und wenn man nicht weiß, was das Besondere an den „Guten“ ist, erfährt man das in der Ablehnung der „Bösen“. Bei der mittelalterlichen „Brunnenvergifter“-Legende war es ebenso.

Bild oben: Screenshot Twitter von Michael Blume