Bibis Erbe

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Ministerpräsident Benjamin Netanyahu plant die Annexion großer Teile des Westjordanlandes. Geht es nach seinem Willen, könnte das bereits in wenigen Wochen geschehen. Für ihn gibt es einige gute Gründe, dieses Projekt ausgerechnet jetzt zu verwirklichen…

Von Ralf Balke

Sonntag war es so weit. Nach fast 18 Monaten politischer Dauerkrise hat Israel endlich wieder eine funktionsfähige Regierung bekommen. Drei Wahlgänge sollte es dauern, bis Ministerpräsident Benjamin Netanyahu seinen Herausforderer Benny Gantz nicht nur bezwingen, sondern sogar zu seinem Juniorpartner degradieren konnte. Ob nun die vermisste politische Stabilität einkehren wird, darf angesichts der Heterogenität der Koalition und einem Monster-Kabinett von 36 Ministern sowie 16 Stellvertretern bezweifelt werden. Als eine Art „Notfall-Gremium“ mit besonderen Vollmachten soll sich die neue Regierung in den ersten sechs Monaten vor allem um eines kümmern, nämlich die Bekämpfung der Coronavirus-Pandemie sowie ihrer katastrophalen Folgen für die Wirtschaft des Landes. Doch in dem Koalitionsvertrag ist noch von einem weiteren Thema die Rede: Die Annexion von großen Teilen des Westjordanlandes. Auch ein Datum ist darin genannt, und zwar der 1. Juli. Ab dann soll darüber im Kabinett und in der Knesset diskutiert und entschieden werden – so jedenfalls lautet der Plan.

Im Wesentlichen geht es darum, dass die Souveränität auf so gut wie alle 130 israelischen Siedlungen sowie strategisch wichtigen Regionen entlang der Grenze zu Jordanien ausgeweitet werden soll. Insgesamt würde dies rund 30 Prozent des gesamten Westjordanlandes betreffen. Jerusalem stützt sich in seinem Vorhaben auf den Anfang diesen Jahres vorgestellten Nahost-Friedensplan von US-Präsident Donald Trump, in dem Israel genau diese Erweiterung seines Territoriums gestattet wird. Und weil die Palästinenser seit Jahr und Tag lieber in der Schmollecke sitzen und weder mit Israel oder den Vereinigten Staaten derzeit verhandeln wollen, ist das Ganze ein ziemlich einseitiger Schritt. Genau deshalb hagelt es auch viel Kritik. Die Europäische Union und Kanada sowie einige arabische Staaten, allen voran Jordanien, haben bereits mit negativen Konsequenzen gedroht, falls Israel wie angekündigt seine Annexionspläne in die Tat umsetzen möchte.

So warnte am Montag Josep Borell, seit Dezember 2019 der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik in der EU-Kommission, dass Brüssel das Vorhaben nicht akzeptieren würde. „Das Völkerrecht ist ein Grundpfeiler der auf internationalen Regeln basierenden Ordnung. Deshalb erinnern die EU und ihre Mitgliedsstaaten noch einmal daran, dass sie keinerlei Änderungen der Grenzen von 1967 anerkennen werden – es sei denn, Israelis und Palästinenser stimmen beide dem zu.“ Für die EU sei weiterhin „die Zwei-Staaten-Lösung mit Jerusalem als zukünftiger Hauptstadt für Israel und die Palästinenser der einzige Weg, einen nachhaltigen Frieden und Stabilität in der Region zu gewährleisten“. Ob man Brüssel sich einen Gefallen tut, an diesem Mantra weiter so festzuhalten, steht auf einem anderen Blatt, aber die Position ist klar.

Borrells Erklärung jedenfalls erfolgte einige Tage nach einem Treffen der EU-Außenminister, bei dem bereits mögliche Reaktionen auf Israel Annexionspläne zur Sprache kamen. Es hieß, man wolle Jerusalem „entmutigen“, aber weiterhin auf eine diplomatische Lösung setzen, an der alle beteiligt sind. Irland, Schweden, Belgien, Spanien und Luxemburg, brachten dabei unter Federführung Frankreich sogar Sanktionen zur Sprache. Für Israel wäre das nicht ganz unproblematisch, schließlich ist die EU der wichtigste Handelspartner des Landes. Zudem genießt Jerusalem einen privilegierten Status und profitiert unter anderem durch die Teilnahme an umfangreichen Forschungs- und Entwicklungsprogramme wie zum Beispiel Horizont2020. Zu den von den EU-Außenministern diskutierten Maßnahmen gehörte das Infragestellen von Handelsabkommen, EU-Zuschüssen für einzelne Projekte sowie alle anderen Kooperationen mit Israel. Was dabei unklar blieb, war die Beantwortung der Frage, ob diese nun für bereits bestehende Kooperationen gelten könnten oder erst für zukünftige.

Deutlich drastischer fielen die Reaktionen in Amman aus. König Abdullah II. drohte gar mit der Aufkündigung des in den vor über 25 Jahren geschlossenen Friedensabkommens zwischen beiden Ländern, was einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen gleichkommen würde. Dabei treibt den Monarchen vor allem um eines um, wie er es vor wenigen Tagen dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ gegenüber verriet: „Führungspersönlichkeiten, die für eine Ein-Staaten-Lösung eintreten, verstehen nicht, was das heißen würde. Was würde geschehen, wenn die palästinensische Autonomiebehörde zusammenbricht? Es gäbe noch mehr Chaos und Extremismus in der Region. Falls Israel im Juli wirklich das Westjordantal annektiert, würde dies zu einem massiven Konflikt mit dem Haschemitischen Königreich Jordanien führen.“

Alles halb so wild, glaubt dagegen Dore Gold. „Dass die Jordanier all diese Vorbehalte gegen den Trump-Plan haben, ist nichts Neues. Sie brauchen jedoch ein starkes Israel als westlichen Nachbarn“, so der Präsident des Jerusalem Center for Public Affairs und früher einmal selbst Botschafter Israels in Amman. „Ich beobachte gerade, dass viel geredet wird, was nicht besonders angenehm klingt. Aber letztendlich bin ich überzeugt davon, dass Jordanien genauso dazu gezwungen ist, mit Israel zusammenzuarbeiten, wie Israel mit Jordanien.“ Genau deshalb hält Dore Gold eine Aufkündigung des Friedensabkommens für sehr unwahrscheinlich. „Jordanien wird auch in den kommenden Jahren mit einer problematischen Situation im Nahen Osten konfrontiert. Der Iran hat große Teile des Iraks unter seine Kontrolle gebracht, was wiederum eine Bedrohung der jordanischen Grenze bedeutet. Ähnlich sieht es in Syrien aus.“ Sehr wohl aber bestehe eine Gefahr für die Stabilität der Monarchie, weil die Mehrheit der jordanischen Bevölkerung Palästinenser sind. Und deren Reaktionen auf eine Annexion des Westjordanlandes durch Israel könnte recht heftig ausfallen.

Andere wie Xenia Svetlova, ehemals Knesset-Abgeordnete der Zionistischen Union und heute Dozentin am IDC Herzliya, plädieren dafür, Abdullahs Drohungen durchaus ernst zu nehmen. „Die Äußerungen des Königs waren im Vergleich zu denen in anderen Fällen von unterschiedlichen Auffassungen sehr scharf und deutlich.“ Auch dürfte der jordanische Monarch nicht der einzige Machthaber in der Region sein, der mit den Annexionsplänen kaum einverstanden wäre. Und wenig überraschend verkündete Mahmoud Abbas, dass seine Autonomiebehörde nun endgültig alle Vereinbarungen und Kooperationen mit den Israelis und den Amerikanern aus Protest gegen die geplante Ausweitung der israelischen Souveränität beenden würde. Ob der greise Palästinenserpräsident dies auch wirklich umsetzt, darf bezweifelt werden. Denn Proklamationen dieser Art gab es bereits mehrfach in der Vergangenheit. „Abbas unternimmt keinen praktischen Schritt und versucht nur, Druck auf Israel auszuüben“, lautete dazu die Einschätzung von Eitan Dangot, einem ehemaligen israelischen General und Verbindungsmann des Verteidigungsministeriums zur Autonomiebehörde. Selbst der Nachrichtensender Al-Jazeera nahm die Stellungsnahme von Abbas nicht mehr für bare Münze.

Tatsache aber bleibt: Jede einseitige Umsetzung eines Annexionsplans wird zweifellos außenpolitisch gewaltig Staub aufwirbeln. Sogar Netanyahus ehrgeiziges Projekt, eine Art Bündnis mit den sunnitischen Staaten zu schmieden, das gegen den Iran gerichtet ist, könnte dadurch Schaden nehmen. Und so stellt sich die Frage, warum ausgerechnet jetzt das Thema Annexion ganz oben auf seiner Agenda steht? Wahrscheinlich hilft ein Blick auf das Biographische der Person Netanyahu, um darauf Antworten geben zu können. Denn der alte und neue Ministerpräsident wird 2020 immerhin 71 Jahre alt. Es ist seine fünfte und damit sehr wahrscheinlich auch letzte Amtszeit auf diesem Posten – unabhängig davon, wie die Gerichtsverfahren gegen ihn ausgehen werden. Allenfalls das etwas stressfreiere und repräsentative Amt des Staatspräsidenten könnte für ihn noch infrage kommen. Und so könnten wohl langsam aber sicher für ihn Überlegungen wichtig werden, wie denn in seinen Vorstellungen das politische Erbe der Ära Netanyahu einmal aussehen soll. Und das wäre die Vergrößerung des israelischen Staatsgebietes. Bemerkenswerterweise sprach er in der Vergangenheit allenfalls von den bevölkerungsreichen Siedlungsblöcken, die Israel wohl zugeschlagen werden müssten. Das war in allen Friedensverhandlungen sowieso längst Konsens. Nun sind es aber 30 Prozent des Westjordanlandes und so gut wie alle jüdischen Ortschaften. Eine Erklärung für diesen Wandel ist zum einen die Gunst der Stunde. Aus Washington kam vor wenigen Monaten das grüne Licht dazu. Aber weil Ende des Jahres in den Vereinigten Staaten ein neuer Präsident gewählt wird, könnte sich das wieder ändern, sollte jemand anderes als Donald Trump in das Weiße Haus einziehen. Also muss man jetzt Fakten schaffen.

Und dann ist da noch die Geschichte mit Netanyahus Vater Benzion. Prägend für Bibi war immer die Tatsache, dass Netanyahu senior wohl keinesfalls die einflussreiche Kraft in der revisionistischen Bewegung war, die er gerne gewesen wäre und als die ihn sein Sohn oftmals darstellte. Denn der Vater stand nicht nur mit den linken Arbeiterzionisten auf Kriegsfuss, sondern auch mit dem einflußreichen, nationalistisch gesinnten Establishment in Israel. Er konnte aus zahlreichen Gründen nie wirklich ein Teil dieser Eliten werden, weshalb Benzion Netanyahu frustriert mit seiner Familie für eine ganze Weile in die Vereinigten Staaten ging, wo er dann eine relativ unspektakuläre Karriere als Historiker absolvierte – ein eher ungewöhnlicher Schritt für einen überzeugten Zionisten von seinem Schlage. Genau das sollte für den jungen Netanyahu zuerst zu einer persönlichen Belastung werden, dann aber zu seinem Vorteil. Schließlich vermochte er es, seine amerikanische Sozialisation in handfeste politische Münze umzuwandeln. Nun aber hat Netanyahu junior Gelegenheit, einen alten Traum der Revisionisten zu verwirklichen, nämlich die Annexion großer Teile des Westjordanlandes. Und er kann – anders als früher sein Vater– diesen Eliten so beweisen, zu was ein Netanyahu alles in der Lage ist. Auch das wäre dann sein Erbe.

Bild oben: Die israelische Stadt Ariel im Westjordanland, (c) Ori, Wikicommons