Deutsche und zentraleuropäische Juden in Palästina

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Mit diesem Buch liegt ein Meilenstein in der Erforschung und Aufarbeitung deutschsprachig-jüdischer Kulturgeschichte in Palästina und Israel vor, der reich illustriert mit Anschauungsmaterial und bisher unveröffentlichten Primärquellen liebevoll und sorgfältig vom Neofelis-Verlag gesetzt wurde…

Von Jan Kühne

Dass hier nicht nur ein besonders substantieller, sondern auch bleibender Beitrag zur Erforschung deutschsprachig-jüdischer Geschichte und Kultur in Palästina und Israel vorliegt, wurde mir bei erneuter Lektüre deutlich, nachdem die Notizen der ersten, noch von der Aura der Neuerscheinung inspirierten Lektüren bei einem Umzug verloren gegangen waren, und ich wiederholt zu dieser reich illustrierten Sammlung von 26 Aufsätzen sowie Archivmaterialien zurückkehrte, die auf beeindruckende Weise und fachmännisch von Anja Siegemund gesammelt und redigiert wurden. Die deutschsprachigen, teils aus dem Hebräischen übersetzten Aufsätze wurden in fünf Unterkapitel gegliedert und mit einer aufschlussreichen Einleitung sowie einem weiterführenden Nachwort seitens der Herausgeberin versehen, auf das ich abschließend noch kurz eingehen werde. 

Zunächst befragt Joachim Schlör kritisch anhand seiner dichten Lektüre bisher unveröffentlichter Texte von Paul Mühsam das in der zionistischen Historiografie gängige Narrativ der Ankunft in Palästina als Befreiung aus der Diaspora — als vermeintliche Katharsis von der nichtjüdischen Welt. Schloer nimmt die  Betrachtungen des Schriftstellers Mühsam als Ausgangspunkt für seinen Fokus auf das im ethnografischen Diskurs seinerzeit vernachlässigte Moment der Ankunft in Palästina, dem aber, wie er schlussfolgert, kein Ankommen in der Imagination eines biblischen Landes Israel beschieden ist. In diesem Zwischenzustand beobachtet er dafür eine bisher kaum beachtete Begegnung mit der einheimischen arabischen Bevölkerung, in der beide Gruppen nicht nur als gleichsam Vertriebene vereinzelt zu einander fanden.

Ines Sonder zeichnet in ihrem Aufsatz anhand von Schriftzeugnissen zeitgenössischer Besucher und Architekten die Entwicklung Haifas in den 1920er und 1930er Jahren nach. Insbesondere jüdische und britische Architekten hatten zur Entwicklung der modernen Hafenmetropole Haifas beigetragen. Sonders sieht sie als Verwirklichung einer in Theodor Herzls utopischen Roman Altneuland formulierten „Zukunftsvision“. Ergänzt werden könnte dieser schöne Beitrag zur zionistischen Stadtplanung um die Tatsache, dass Herzl in dieser Stadt begraben werden wollte; die zionistische Bewegung aber seinen Symbolstatus benötigte, um den jüdischen Anspruch auf Jerusalem zu festigen. Sie begrub ihn daher dort nach der Übersetzung aus Wien, und – gegen seinen Willen – nicht in Haifa.

Als Sonderfall unter den jüdischen, in Haifa eingewanderten Architekten stellt Ita Heinze-Greenberg Alexander Baerwald vor, der bereits 1909 eingereist war, weder als Flüchtling noch als Zionist. Baerwald war maßgeblich für die Konzeption und Errichtung des Technikums, dem späteren Technion, verantwortlich. Sein Stil entwickelte eine Synthese aus orientalischer und europäischer Baukunst, als Begründer der akademischen Architektenausbildung hatte Baerwald dabei eine über ihn selbst hinausweisende Rolle, für dessen gründliche Aufarbeitung Heinze-Greenberg einen wichtigen Beitrag abliefert.

Den Einfluss deutsch-jüdischer Wissenschaftler auf das Technion analysiert Christiane Reves in ihrem Beitrag, der transnationale Beziehungsnetzwerke nachzeichnet und so eine Vielzahl bekannter und weniger bekannter historischer Akteure aus neuer Perspektive betrachtet. Ausgehend von Paul Nathan, dem Begründer des Technion, sowie vor dem Hintergrund des ideologisch-politischen Kampfes um die Lehrsprache an der ersten Technischen Hochschule Palästinas – Deutsch oder Hebräisch?! – werden die Spannungen zu osteuropäisch-jüdischen Akteuren wie bspw. Schmarjahu Levin oder Achad Haam deutlich. Hier könnten Studien über die Studentenschaft anknüpfen.

Die Transformationen verschiedener deutsch-jüdischer religiöser Strömungen in Palästina – von der Neo-Orthodoxie  bis zur Reformbewegung – untersucht Christian Kraft. Hierbei wird deutlich, dass sich liberale Gemeinden im religiös-sozialen Klima der jüdischen Ansiedlungen – des Jischuw – nicht bewähren konnten. Wenn sie nicht orthodoxer wurden, so hörten sie auf zu existieren. Das Fallbeispiel Haifa zeigt dabei, wie sich ein liberaler Brennpunkt schon in den frühen Jahren nach der Staatsgründung Israels aufzulösen begann. Bis heute erfahren liberale Gemeinden, die unter anderem die Geschlechterdiskriminierung abgeschafft hatten, keine staatliche Anerkennung und die Geschichte des liberalen Judentums in Palästina und Israel, so impliziert Krafts Artikel, sei zudem dem Vergessen anheim gegeben.

Anja Siegemunds Artikel untersucht die Geschichte deutscher und zentraleuropäischer Juden in der jüdischen Politik vor der zionistischen Staatsgründung in Palästina anhand der sog. Alija Chadascha, d.h. jener Partei, die ihre Interessen von 1942 bis zur Auflösung im Jahre 1948 vertrat. Siegemund arbeitet sorgfältig das Selbstverständnis der Alija Chadascha heraus und zeigt wie sie sich, in Differenzierung bestehender Darstellungen, im Kontext des Jischuw positionierte und aktiv in das politische Leben einbrachte. Revidiert wird dabei auch das Klischee einer vermeintlich unflexiblen Haltung der Jeckes: gerade die moderate Haltung in tagespolitischen Fragen – die Haltung zu den Briten und zu den Arabern – habe der kollektiven Selbstbehauptung in der jüdischen Öffentlichkeit Palästinas im Wege gestanden.

Ofer Ashkenazi stellt in seinem Artikel die Entwicklung der von deutschsprachigen Juden gegründeten Sportvereine in Haifa dar und zeigt deren Funktionen in der zionistischen Identitätspolitik auf. Die Rivalitäten verschiedener Vereine im sportlichen Wettkampf verstärkten dabei paradoxerweise den gesellschaftlichen Zusammenhalt der deutschsprachigen Einwanderergruppen. Zugleich ermöglichten Verbandssport und Leibeserziehung Institutionen und Ideologien im zionistischen Leben Palästinas zu verankern, die jenem kulturellen Umfeld entstammten, in dem sie aufgewachsen waren. Deutlich wird aus Ashkenazis Beitrag, dass einer der bleibenden deutsch-jüdischen Beiträge zur zionistischen Kultur Palästinas und Israels die sogenannte Makkabiade ist – die größte internationale Sportveranstaltung jüdischer Sportler*innen, die bis heute regelmäßig in Israel stattfindet.

Den Beitrag der deutschsprachig-jüdischen Einwanderer zum Gesundheitswesen des Jischuw dokumentiert Andrea Livnats Aufsatz. Der hohe Anteil an promovierten Ärzten unter den Jecken weist wiederum auf die Bedeutung ihrer Einwanderungswelle für die Entwicklung des Jischuw; beispielsweise wurde das erste jüdische Krankenhaus Haifas von einem Jecken eröffnet. Anhand von Biographien ausgewählter Ärzte dokumentiert Livnat Probleme bei der Eingliederung in die jüdische Gesellschaft Palästinas und kann auf der Basis ihrer Untersuchungen wiederum das Klischee, bzw. den Vorwurf der Unangepasstheit entkräftigen und zu einer notwendigen Differenzierung beitragen, die nicht zuletzt das berufliche Ethos der deutschsprachigen jüdischen Ärzte betont, die sich dem Eid des Hippokrates mehr als der zionistischen Ideologie verpflichtet sahen.

Den unerlässlichen Beitrag, den deutschsprachig-jüdische Frauen zur gelungenen Migration und Integration in die palästinensische Realität leisteten, dokumentiert Viola Rautenberg-Alianovs Untersuchung zahlreicher Quellen, darunter u.a. Kochbücher und aufschlussreiche Interviews. Sie stellt sie als Heldinnen der Anpassung da, die vielfältige Herausforderungen bewältigten, darunter teils zusätzliche Lohnarbeit auf sich nahmen, um das wirtschaftliche Überleben der Familie zu sichern. Der Ansatz dieses Aufsatzes dürfte zum Anlass gereichen, die entscheidende, dabei bislang unterbelichtete Rolle der Frau noch eingehender in zukünftigen Forschungen in Migrationsprozessen in Betracht zu ziehen.

Anne Betten analysiert linguistisch die Sprachen und sprachliche Anpassung deutschsprachig jüdischer Einwanderer in die Haifas – zunächst in Bezug auf den dominanten Einfluss des Neuhebräischen, nicht aber den minderen des Arabischen, auf ihre deutsche Umgangssprache. Aufschlussreich ist dabei auch Bettens Vergleich der sprachlichen Anpassungsleistungen der ersten Generation der Einwanderer mit der der zweiten. Hier wird eine Spannung zwischen ideologischem Anpassungszwang seitens des vom Pragmatismus geprägten Jischuw und ein verinnerlichter, von der deutschen Akkulturation hergeleiteter Bildungsperfektionismus deutlich, der sich in der zweiten Generation zugunsten jenes Pragmatismus verschiebt.

Das Scheitern, die deutschsprachige Theaterkultur, an deren Entwicklung europäische Juden maßgeblich beteiligt waren, in Palästina zu etablieren, analysiert Thomas Lewy ausführlich in seinem Beitrag am Beispiel Haifas. Gründe für dieses Scheitern in der neuhebräischen Öffentlichkeit sind vielfältig, doch zu fragen wäre auch, inwieweit die verschiedenen von deutschsprachigen Einwanderern errichteten Theater und Kabaretts von vornherein nur für jene deutschsprachigen Einwanderer auf Deutsch spielen wollten, denen aufgrund der Schwierigkeiten des Spracherwerbes der Genuss der hebräischen Theaterkultur weitestgehend versagt blieb.

Den dritten Teil des Buches, der Menschen, Familien, Generation gewidmet ist, eröffnet die längst überfällige Beschreibung von Hermann Strucks Leben und Werk in Haifa, für den Ruthie Ofeks Beitrag einen wichtigen Grundstein legt, der weiteren Forschungen als sichere Basis dienen wird. Der bekannte Grafiker, der von fast allen wichtigen jüdischen Persönlichkeiten seiner Zeit Portraits anfertigte, war bereits 1922 nach Palästina eingewandert. Er bildete dort einen künstlerischen, gesellschaftlichen, religiösen und ideologischen Magnetpunkt, der seine Anziehungskraft dank entsprechender Darstellungen bereits vor 1933 und bis nach Deutschland ausübte.

Małgorzata A. Maksymiak arbeitet die bislang vernachlässigte, vielschichtige und etappenreiche Biografie Nadja Steins auf, einer einflussreichen Feministin, Pazifistin, Sozialistin und Zionistin. Als Leiterin der Propagandaabteilung der WIZO in Tel Aviv wirkte sie an der Gestaltung eines positiven Image Israels mit. Maksymiak Beitrag lässt erkennen, wie mit dieser Funktion eine Abwendung von ihrem ursprünglichen direkten Einsatz für soziale Randgruppen, darunter arabische Juden, die einheimische arabische Bevölkerung Palästinas, Frauen, Homosexuelle und Greise stattfand. Dafür wird eine Hinwendung zu Belangen der israelischen Hegemonialkultur deutlich, die Maksymiak auf Steins „europäisch-koloniale Haltung“ (291) sowie Hoffnung zurückführt, in Palästina und Israel einen auf der westlichen Kultur basierenden jüdischen Staat aufzubauen.

Einer weiteren, in der zionistischen Historiografie ebenfalls vernachlässigen Persönlichkeit widmet Yossi Ben-Artzi seinen Beitrag über den Zionisten Joseph Loewy, der als privater Bauunternehmer in der sozialistisch-kollektivistisch geprägten Geschichtswahrnehmung marginalisiert wurde. Loewys Geschichte ist die verschiedener Fehlschläge, in Haifa gehobene Wohngegenden zu errichten und der Beitrag versucht, sein Spekulanten-Image zu korrigieren, unter Betonung seines Beitrags zur Errichtung Naharijas.

Josef Kastein, als zionistischer Bestsellerautor und Verfasser einer viel gelesenen Darstellung jüdischer Geschichte der Weimarer Republik, steht im Mittelpunkt von Caroline Jessens Beitrag über dessen Lebensentwurf, der an der palästinensischen Realität nach seiner Einwanderung, die 1935 erfolgt war, scheiterte. Jessen nimmt Kasteins Palästinensische Novelle als Ausgangspunkt und zeigt einfühlsam jene Tragik auf, die Kasteins enttäuschter Erwartung an eine humanistische jüdische Kultur in Palästina innewohnte – ähnlich vielleicht, wie sie Herzl in seiner zionistischen Utopie Altneuland antizipiert hatte.

Gernot Wolfram befragt in seiner Aufarbeitung nicht nur Leben und Werk des vergessenen Schriftstellers Paul Mühsam, sondern auch den Wert der Zuschreibung „Jecke“, der sich Mühsam, als Produkt humanistischer Bildung verweigerte. Er hatte, wie viele seiner Alters- und Zeitgenossen in Palästina den Übergang vom Deutschen ins Hebräische nicht geschafft, konnte zudem seine bildungsbürgerliche Vergangenheit nicht zugunsten der zionistischen Utopie und deren Nationalpathos verleugnen. In Folge ging sein literarischer Beitrag nicht nur der israelischen Kultur Verlust, sondern auch der deutschen.

Auch Dorit Yosefs Aufsatz über Hertha Wolff thematisiert diesen Konflikt zwischen deutschem Bildungsbürgertum und zionistischer Ansiedlungsarbeit mit Ziel der jüdischen Staatsgründung. Yosef stellt Wolffs migrationsbedingten Bruch als Kulturkonflikt dar und zeigt, nach einem Überblick über ihren Lebenslauf mit Hinblick auf die zentralen Fragen dieses Bandes – Sprache, Kultur und Identitätspolitik – wie zionistische Ideologie und eine mythologisierte Konzeption des „Landes“ (die einzigen?) Bindeglieder in die Generation ihrer Kinder bildeten, welche scheinbar frei von Konflikten der Multikulturalität und unbelastet vom humanistischen Erbe der Eltern aufwuchsen. Dies gilt es zumindest in weiteren Forschungen zu eruieren, deren Ansatzpunkt sich hier, wie auch bereits in Bettens Beitrag, aber auch im folgenden abzeichnet. 

Die Erfahrung der jungen Generation deutschsprachig kulturierter Männer in Palästina rekonstruiert Patrick Farges anhand von Interviews und biografischen Quellen, mit Bezugnahme auf gender-spezifische Fragestellungen. Er geht von einer fragilen jüdischen Männlichkeit in Europa aus, die ihrer physischen Machtlosigkeit unter dem steigenden Antisemitismus eingedenk wurde. Vor diesem Hintergrund wird die Anziehungskraft paramilitärischer Organisationen und militant geprägter Männlichkeitsideale des „neuen Juden“ nachvollziehbar, an denen sie sich, in den zionistischen Siedlungen angekommen, zu orientieren begannen. Doch parallel dazu beobachtet Farges alternative Männlichkeitsbilder geistiger Stärke, die sich aus der deutschen Bildungstradition ableiten ließen. Hieran könnten Untersuchungen über die Transformation der Weiblichkeitsbilder unter deutschsprachigen Einwanderern ansetzen, denen sich Linde Apels Beitrag annähert, der aber ebenfalls auf heterosexuelle Normen und Genderbilder beschränkt bleibt. Apel erschließt anhand zahlreicher Interviews weibliche Darstellungen, in denen ebenfalls der Begriff „Jecke“ als eine von Zeitgenossen und nun auch durch die Wissenschaft auferlegte Zuschreibung deutlich wird, die in der Selbstwahrnehmung keine Rolle spielt – vielleicht auch eine verdrängte. Dies wäre auch eine Untersuchung wert.

Einen weiteren verborgenen Schatz in der Kulturgeschichte deutschsprachiger Juden, die nach Palästina flüchteten, hebt Fabian Hennigs Lektüre von Ester Rabins nachgelassenen Erinnerungen, die einen wertvollen Beitrag zur Erforschung der verschriftlichten Lebenserinnerungen deutschsprachiger Immigranten darstellen, die in der besagten Kulturgeschichte, zumindest im Vergleich zu anderen Einwanderer- bzw. Vertriebenengruppen Israels, einen außergewöhnlich großen Korpus bilden. Für solche komparatistischen Ansätze bietet diese zunächst auf die deutschsprachige Kultur Palästinas und Israels beschränkte Sammlung vielfältige Möglichkeiten aufgrund seiner mikroskopischen Ansatzes, der laterale komparativistische Ansätze auf verschiedenen Ebenen ermöglicht.

An einer methodologischen Vielfalt lässt der Band jedoch nicht mangeln, was auch in Katharina Hobes Beitrag deutlich wird, der die in Haifa seßhaft gewordene Familie Eisler aus dem Blickpunkt der materiellen Kulturgeschichte beschreibt und dabei die symbolische Bedeutung von transferierten „Heimatobjekten“ herausarbeitet. Dieser Ansatz wird auch in dem Beitrag über die aus Brandenburg nach Haifa importierten Fertighäuser deutlich, den Friedrich von Borries und Jens-Uwe Fischer gemeinsam verfassten. Sie lesen diese Häuser als „Heimatcontainer“, als „in Kisten verpackte Heimat“, wobei hier zunächst noch das deutschsprachige Herkunftsland gemeint ist. Inwieweit aber konnte die neue „Heimat“ Israel in diese Häuser Einzug halten? Hier bieten sich diese importieren, sogenannten Kupferhäuser auch als Metapher an, die in der Umkehrung gelesen werden können: als Konservendosen für verklärte Nostalgie.

Abgerundet wird die Sammlung der Aufsätze von einem weiteren Beitrag Caroline Jessens über die deutschsprachige Bücherkultur in Haifa, der eine schöne Ergänzung zu ihrem unlängst erschienen Buch zu diesem Thema darstellt. Auch Sebastian Schirrmeisters Beitrag über einen in Haifa spielenden Roman von Alice Schwarz bildet eine wertvolle Ergänzung zu seinem ebenfalls gerade erschienenem Buch. Sein Forschungsansatz ragt dadurch heraus, dass er Wechselbeziehungen zwischen der deutschsprachigen und hebräischen Literatur in seiner Analyse von Schwarz’ Buch nachgeht, das nur in einer hebräischen Version vorliegt und hier dem deutschsprachigen Diskurs schier meisterhaft zugänglich gemacht wird.

„Was bleibt von den Jeckes?“ fragt Anja Siegemund im Nachwort und definiert mit ihrer Frage zugleich ein zentrales Merkmal der „Jeckes“, da sie ihnen eine Zukunft nur dann einräumt, wenn „das Sinnbild der Bindestrichidentität“ als „Kernmerkmal des früheren deutschen Judentums“ auch als ihr Erbe gelte. Aus dieser Perspektive versteht sich die Literatur der „Jeckes“ als palästinensisch-israelische Variante deutsch-jüdischer Literatur, mithin als exterritorialisierte Zwischenphase jenes mehrsprachigen Bindestrich-Schrifttums, in dessen Kontinuität sie steht. Im Moment der Immigration nach Palästina erfährt diese Literatur ihre spezifische Ausdifferenzierung durch die Geschichte, die sie nun an ihren Herkunftsort zurückführt: die deutschsprachigen Leser*inner und Forscher*innen, für die dieser in Israel sich zumeist selbst überlassene Erfahrungsschatz nur langsam geborgen wird und die ihn nun, dank dieser Sammlung detaillierter und engagierter Forschungen, wie kaum zuvor schätzen dürften.

Anja Siegemund (Hg.): Deutsche und zentraleuropäische Juden in Palästina. Kulturtransfers, Lebenswelten, Identitäten. Beispiele aus Haifa. Berlin: Neofelis 2016.

Jan Kühne forscht am Martin Buber Society of Fellows und Rosenzweig Minerva Zentrum der Hebräischen Universität Jerusalem.