Widerstand und Verrat

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Gestapospitzel im antifaschistischen Untergrund 1938 – 1945…

Von Andrea Hurton

Dem zeitgeschichtlich interessierten Leser im deutschen Sprachraum ist der in Wien und Berlin lebende österreichische Historiker Hans Schafranek seit Jahrzehnten als Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zu Themen bekannt, mit denen er stets wissenschaftliches Neuland betreten hat. Zu seinen größeren Forschungs- und Publikationsschwerpunkten zähl(t)en u.a.: Vergleichende Diktaturforschung, Stalinismus, Exil in der UdSSR, Spanischer Bürgerkrieg, SA und SS, Widerstand gegen das NS-Regime, Nachrichtendienste im Zweiten Weltkrieg. Auch in seinem gerad ein zweiter Auflage erschienen Werk „Widerstand und Verrat“ hat Schafranek keine ausgetretenen Pfade beschritten, denn die zentrale Frage, wie es der Gestapo im 1938 annektierten Österreich und darüber hinaus im sogenannten „Altreich“ angesichts einer sehr dünnen Personaldecke (etwa im Vergleich zur Staatssicherheit der DDR) gelang, fast alle Gruppen des organisierten Widerstandes zu unterwandern, „aufzurollen“ und zu zerschlagen, hat die zeitgeschichtliche Forschung bisher nur am Rande interessiert.

In seinem Buch, das sich vornehmlich mit den V-Leuten (Vertrauensleuten) der Gestapo in Österreich befasst, aber auch immer wieder Beispiele aus dem Deutschen Reich insgesamt heranzieht, beantwortet der Autor diese Schlüsselfrage mit einem immensen Forschungsaufwand und einem ebenso stark ausgeprägten quasi-kriminalistischen Spürsinn, der ihm auch in früheren Arbeiten wiederholt bescheinigt wurde. Ohne den gezielten, systematischen Einsatz von V-Leuten (Spitzeln), die Schafranek analytisch deutlich von den „einfachen“, auf eigene Faust tätigen Denunzianten abgrenzt, wäre es niemals gelungen, den antifaschistischen Widerstand in seiner gesamten politischen Bandbreite zu infiltrieren.

Der erste Abschnitt informiert sehr detailliert über die institutionellen Rahmenbedingungen und die „Rekrutierungslinien“ der Gestapo, was auch insofern von Bedeutung ist, weil die Wiener Gestapo bei der Zentralisierung des „Spitzelwesens“ durch die Schaffung eines eigenen Nachrichten-Referats (N-Referat) im Oktober 1938 im gesamten Reichsmaßstab eine Vorreiterrolle spielte.

Schafranek tritt  einer nach 1945 „unterhalb“ der (kaum existierenden) historischen Forschung weit verbreiteten Vorstellung entgegen, der zufolge die Bespitzelung von Untergrundorganisationen unter dem NS-Regime vor allem ein Problem der kommunistischen Bewegung gewesen sei. Minutiös wird die Geschichte von etwa 15 Widerstandsgruppen (aus kommunistischen, sozialistischen, katholisch-konservativen, legitimistischen und überparteilichen Mileus) dargestellt, die durch Gestapo-Spitzel ausgespäht und unterwandert wurden. Dabei gewinnt der Leser zugleich tiefe Einblicke in die organisatorischen Binnenstrukturen und persönlichen Konstellationen dieser Widerstandsnetzwerke. Dies wurde durch ein intensives Quellenstudium (Gestapo-Vernehmungsprotokolle, Gerichtsverfahren nach 1945) ermöglicht, aber auch durch biographische Tiefeninterviews, die der Verf. bereits in den 1980er Jahren mit zahlreichen überlebenden Widerstandskämpfern durchführte.

Um eine Vorstellung von der „Effizienz“ einzelner Gestapo-Spitzel zu gewinnen, sei darauf verwiesen, dass durch Kurt Koppel („Ossi“, „Glaser“), einen früheren Spanienkämpfer, 1940/1941 mehr als 800 (!) kommunistische Aktivisten der Gestapo verraten wurden. Otto Hartmann, ein Burgschauspieler, gab über 300 Widerstandskämpfer aus drei legitimistischen Gruppierungen preis.

Schafranek entdeckte bei seinen langjährigen Forschungen, dass sich die Gestapo nicht damit „begnügte“, in bereits bestehende Widerstandszirkel einzudringen. Im April 1942 konstituierte sich das so genannte „Vierte Zentralkomitee der KPÖ“ (nach dem „Anschluss“ 1938), das aus drei Gestapo-Spitzeln und fünf „echten“, arglosen KP-Sympathisanten bestand, sodass der NS-Repressionsapparat a l l e Aktivitäten dieses Leitungsgremiums von Begann an steuern konnte. Die Zerschlagung der von diesem „Fake-ZK“ geschaffenen Organisationsstrukturen (Wien, Niederösterreich, Steiermark) zog mehrere große Verhaftungswellen nach sich, die bis Herbst 1943 annähernd 1500 Personen umfassten.

Ein langer Abschnitt der Studie widmet sich auch dem Versuch einer „Typologisierung“ und den Motiven jener Menschen, die sich für ein derart schmutziges Handwerk hergaben. Der Autor betont anhand einer Reihe von Einzelfällen, dass aufgrund sehr komplexer individueller Voraussetzungen eine „griffige“ Typologisierung kaum möglich ist, unterscheidet letztlich aber doch zwei Gruppen nach einem Grobschema, wobei verschiedene Motivationsstränge sich vielfach überlappten:  Auf der einen Seite Kriminelle, die zumeist schon während des „Ständestaates“ (1934 – 1938) für die österreichische Staatspolizei gespitzelt hatten und nach 1938 von der Gestapo „übernommen“ wurden. Dies war umso leichter möglich, als der langjährige Leiter des N-Referats (Lambert Leutgeb) bereits nach 1934 als Mitarbeiter des österreichischen Polizeiapparats teilweise dieselben „Konfidenten“ (so der in Österreich geläufige Terminus für Polizeispitzel) betreut hatte. Auf der anderen Seite politische Oppositionelle und Widerstandskämpfer, die während oder nach der Haft „umgedreht“ wurden und  in einem besonderen Maße erpressbar waren, weil über ihnen häufig das Damoklesschwert einer neuerlichen Inhaftierung oder von Repressalien gegen Familienangehörige schwebte.

Der letzte Abschnitt (S.392 – 474) enthält 21 zumeist sehr dramatische Biografien, überwiegend von V-Leuten, in einigen Fällen von Gestapo-Beamten. Auch in diesem Schlussteil bilden fast ausschließlich unbekannte Dokumente aus deutschen, österreichischen, slowenischen und russischen Archiven (teilweise aus dem früheren KGB-Archiv) die Quellenbasis.

Die hier besprochene Studie ist nicht nur eine wertvolle Bereicherung der zeitgeschichtlichen Forschung in einem bisher stark vernachlässigten Bereich, sondern zugleich auch ein Lehrstück über menschliche Niedertracht in einem totalitären Regime.

Hans Schafranek, Widerstand und Verrat. Gestapospitzel im antifaschistischen Untergrund 1938 – 1945. Wien (Czernin-Verlag) 2020, 504 Seiten, Bestellen?