Organspende und Judentum

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Zur aktuellen Diskussion über Organspenden…

Rabbiner Dr. Tom Kučera

In der Tora lebten die bekannten Persönlichkeiten ziemlich lange. Welches Alter erreichte Adam? Ein Tausend minus die durchschnittliche talmudische Lebensspanne, die auf 70 geschätzt wird, also 1000 minus 70 sind 930 Lebensjahre für Adam. Das höchste Alter überhaupt, um fast 40 Jahre mehr, genoss jedoch Metuschelach, auch als Methusalem bekannt. Er war Großvater von Noach und lebte nach der Tora 969 Jahre. Es ist der Tora-Rekord. Heute ist der Name Methusalem mit langlebigen Kiefern verbunden, die im Inyo National Forest in der Region der White Mountains zwischen Nevada und dem Death Valley wachsen und auf mehr als 4800 Jahre geschätzt werden.

Zurück zur Tora: Noah schaffte es immerhin auf 950 Jahre, mit den Patriarchen ging es dann herunter: Awraham 175, Jizchak 180, Jaakow 130 und Mosche 120 Jahre. Deswegen gratulieren wir bis heute „ad me’a we’essrim“, bis 120, obwohl viele sagen: „ad mea ke’essrim“, bis 100 wie 20. Wenn alle Patriarchen zu unserer Zeit gelebt hätten, hätten sie sich, genauso wie wir seit dem 1.11.2012, mit einem Thema beschäftigen müssen. Seit diesem Datum müssen alle Krankenkassen jedem Versicherten ab dem 17. Lebensjahr Informationen über die Organspenden zukommen lassen. 

Kommt dieses ethische Thema für die jüdische Tradition infrage?

Noch Ende der 1980er-Jahren war es tabu. Jetzt gibt es in Israel Organspendeausweise und die HODS, Halachic Organ Donor Society, die vom Oberrabbinat unterstützt wird. Wir finden nicht so viele Themen, die diesen Verlauf vom Verpönt-Sein bis zum Angenommen-Sein gemacht hätten. Die meisten Rabbiner stimmen den Organspenden zu, einige immer noch nicht. Warum? Weil jede Organspende die schwierige Frage der Definition des Todeszeitpunktes streift.

Lassen wir uns für einen Augenblick auf einen theoretischen halachischen Diskurs: Der Augenblick des Todes wird im Judentum aufgrund zweier Parameter definiert: Atemstillstand und Herzstillstand. Das erste Parameter basiert auf dem Tora-Ausdruck ruach nischmat chajim, der Odem des Lebenshauchs (Gn 7:22), der in der Sintflutgeschichte das Ende des Lebens, der Atmung, beschreibt. Das zweite Parameter basiert auf dem Tora-Ausdruck ki nefesch habassar badam hi, denn das Blut ist der Lebensgeist (Dt 12:23) und mit dem Herzen eindeutig verbunden. (Es erklärt auch das Blutverbot als die grundlegende Kaschrut-Regel.) Die Existenz der zwei Lebenskriterien, Atmung und Herzfunktion, rufen automatisch die halachische Diskussion hervor, ob beide Parameter zusammen oder nacheinander und in welcher Reihenfolge stattfinden sollen. 

Man einigt sich auf der folgenden Behauptung: Halachisch gesehen ist der Mensch tot, wenn das Herz aufhört zu schlagen. Erstaunlicherweise wurde dies im Frühling 2012 überholt, als dem tschechischen Kardiochirurgen Jan Pirk in Prag ein genialer Streich gelungen ist: eine Installation zweier Pumpen statt eines Herzens, das vom Karzinom betroffen und herausoperiert wurde, damit der Patient die Zeit bis zu seiner Herzspende überhaupt erleben kann. Der Patient lebte monatelang ohne das Herz: das Blut lief kontinuierlich durch, ohne jeden Herzschlag, ohne jeden Puls. 

In Bezug auf die Organspende ist es unbedingt notwendig, dass der Hirntod als der Todeszeitpunkt angenommen wird. Sonst wäre keine Organtransplantation und dementsprechend keine Organspende (in Bezug auf Nieren, Dünndarm, Lunge, Leber) möglich. Der Hirntod fällt aber nicht unter die beiden traditionellen Todeskriterien (Herz- und Atemstillstand). 

Die erfindungsreiche Halacha hat eine Lösung gefunden. Die Medizin lokalisiert das Atemzentrum in der Medulla oblongata des Hirnstammes. Darum stellt der Tod des Hirnzentrums das Aufhören der Atmung als ein halachisches Todeskriterium an. Ein neues Phänomen (Hirntod) wurde der alten Erklärung (Atemstillstand) zugeschrieben. Dies ist ein Beispiel des innovativen halachischen Denkens. Im September 2009 erklärten das aschkenasische und sephardische Oberrabinat Israels, dass der Hirntod im Einklang mit der Halacha ist, und dass Organspenden aufgrund dessen zulässig sind.

Allerdings steht in Israel fast die Hälfte der Bevölkerung der Organspende kritisch gegenüber, hauptsächlich aus dem gleichen Gedanken, der auch uns beschleichen mag: dass wir (im letzten Augenblick unseres Lebens) früher für tot erklärt werden. Auch die Gefahr des illegalen Organhandels ist real. Dazu kommt noch der Organspendeskandal von 2011, bei dem in den vier Transplantationszentren Göttingen, Leipzig, München Rechts der Isar und Münster schwerwiegende Richtlinienverstöße festgestellt wurden, um die Wahrscheinlichkeit der Leber-Organvergabe an Patienten des eigenen Zentrums zu erhöhen, die auf eine  Lebertransplantation warteten. Trotzdem muss ich auf die alte Weisheit von Cicero zurückgreifen, abusus non tollit usum, der Missbrauch hebt den Gebrauch nicht auf.

Organe dürfen nur dann entnommen werden, wenn zwei Ärzte unabhängig voneinander den Hirntod des potentiellen Spenders festgestellt haben, bzw ein Arzt den Herz-Kreislauf-Stillstand (abgesehen von der Organspende). Wegen der geringen Bereitschaft in Israel, Organe zu spenden, werden nach dem Gesetz vom Jahre 2008 diejenigen Transplantationskandidaten auf der Warteliste bei der Vergabe von Organen bevorzugt, deren nächste Angehörige (Eltern, Geschwister, Kinder oder Partner) einen Spenderausweis unterschreiben, die selbst noch am Leben eine Niere oder ein Leberlappen gespendet haben oder nach deren Tod ein Organ gespendet haben.

Die jüdische Tradition hilft dieser Tendenz. Ein Tora-Gebot sagt zwar, dass ein Mensch nach seinem Tod möglichst schnell beigesetzt und in Ganzheit beerdigt werden soll. Dahinter steht mehr oder weniger das Konzept von techiat hametim, der Auferstehung der Toten. Ein anderes Gebot dagegen, das das erste überwiegt, sagt, dass man am Blut des Nächsten nicht stehen darf (al ta´amod al dam re´echa), d.h., man darf nicht passiv bleiben, wenn Blut fließt, auch im übertragenen Sinne des Wortes.

Dieses Gebot fällt schwerer ins Gewicht, weil es zur Aufrechterhaltung des Lebens (pikuach nefesch) dient. Nach diesem Prinzip kann jede Mizwa umgangen werden, wenn dadruch ein Mensch gerettet wird. Oft wird dem progressiven Judentum vorgeworfen, dass wir ein Gebot gegen ein anderes ausspielen (zum Beispiel das Gebot, den Schabbat zusammen in der Synagoge zu feiern gegen das Verbot, Verkehrsmittel am Schabbat zu benutzen). Wir sehen jedoch, dass die Tradition selbst mit einer Hierarchie der Mizwot rechnete, genauso mit der Tatsache, dass ein Gebot ein anderes unter Umständen übertrumpfen kann.

Heutzutage wird im Zusammenhang mit den Organspenden noch ein anderes Konzept hervorgehoben: Schutafut, unsere Partnerschaft mit Gott in seinem Werk der Schöpfung und deren Vervollkommnung. Diese Schutafut findet sich zum Beispiel in der Pflicht des Arztes, zu heilen (scheniten reschut lerofe lirpot).

Schon im Jahre 2008 erschien der Film „Seven pounds“, auf Deutsch als „Sieben Leben“ bekannt. Er ist einer der Filme, an die man sich jahrelang erinnert. Der Stardarsteller Will Smith spielt einen Charakter, der von Anfang an geheimnisvoll wirkt. Er mischt sich in das Leben anderer, um ihnen finazniell zu helfen, sie psychisch zu unterstützen oder ihnen eine Lebensperspektive anzubieten. Manchmal geschieht es auf eine ungewöhnliche Weise, wenn er im telephonischen Gespräch mit dem Customer Service den blinden und anscheinend jüdischen Mitarbeiter Esra wüst beschimpft und auf Äußerste erniedrigt, nur um zu sehen, wie Esra reagieren wird, um festzustellen, ob er eine gute Person ist, weil er unbedingt nur den wirklich guten Leuten helfen möchte, die auch im geheimen gute Sachen tun. Nur diese Gerechten sollen von ihm auf eine wesentliche Weise und zukunfstorientiert belohnt werden. Er sammelt seine sieben Namen der guten Leute und im Laufe dieses sowohl geheimnisvollen als auch tief emotionalen Film fangen wir an langsam zu verstehen, dass es wesentlich um die Organspende geht. Auch, wenn die Filmumstände fiktiv und nicht unkritisch sind, wird am Ende das Leben von sieben Fremden für immer verändert.

Ich möchte mit einigen Zahlen abschließen. Derzeit warten in Deutschland mehr als 10.000 Patientinnen und Patienten auf ein Spenderorgan, etwa 8.000 auf eine Niere (Stand Oktober 2016, www.dso.de, in Europa sind es 63.000 und 50.000, Stand Dezember 2012). Das Durchnittsalter der Empfänger von Organen beträgt europaweit zwischen 40 (Bauchspeicheldrüse) und 55 Jahren (Niere, Leber). Je nach Organ sterben zwischen 5% (Niere) und über 30% (Bauchspeicheldrüse) der Patienten auf den Transplantationslisten, bevor sie ein Spendeorgan erhalten können (in Deutschland sind es drei Menschen täglich). Nur zehn Prozent Israelis haben einen Organspendeausweis. In Europa ist es ungefähr 30 Prozent der Bevölkerung.

Meinen Organspendeausweis trage ich in meinem Portmonee und möchte dazu gerne auch andere auffordern.

Dr. Tom Kučera ist Rabbiner der Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom in München.

Bild oben: Der israelische Organspendeausweis, die Adi-Karte, benannt nach Ehud Ben Dor, der starb bevor er die notwendige Nierenspende erhielt, Screenshot Adi Webseite