Zwei Jugendliche befinden sich allein auf einer dunklen Straße; sie sind ein Liebespaar und laufen aus einem Musik-Camp davon. Nicht nur diesen Ort wollen sie hinter sich lassen. Sie wissen noch nicht ganz genau, was sie tun werden, aber sie wissen, dass sie einen ganz anderen Ort finden müssen, weit weg von all der Dummheit, den Vorurteilen und dem Hass, der um sie herum existiert. Sie müssen dort ankommen, wo man ihrer Liebe eine Chance auf eine gemeinsame Zukunft geben wird. Doch plötzlich hält ein Auto vor ihnen, sie werden über Lautsprecher aufgefordert, zum Wagen zu kommen, doch sie verstehen die Sprache nicht, die aus den Lautsprechern ertönt, sie können die Situation nicht deuten – sie rennen davon, doch sie werden ihren Weg nicht fortsetzen können…
Von Miriam N. Reinhard
Der Film „Crescendo“ von Dror Zahavi will von dem Potential der Musik in einer disharmonischen Welt erzählen. Damit kommt er passend zu Beginn eines Jahres, das Beethoven gedenkt; dieser hat der Musik zugesprochen, eine „höhere Offenbarung als jede Philosophie“ zu sein. Der Filmtitel „Crescendo“ kündigt eine steigende Intensität an, von der wir in der oben geschilderten Szene etwas spüren – der Untertitel „#makemusicnotwar“ lässt die hoffnungsvollen Klänge der Woodstocker „days of peace and music“, das „make love not war“, in die postmoderne Welt sozialer Netzwerke herüberziehen.
Tatsächlich steht „Crescendo“ in der Spannung eines schwelenden Konfliktes und der Utopie seiner Auflösung in eine entfernte Möglichkeit von Gemeinschaft. Er zeigt eine musikalische Ästhetik, in der etwas davon aufzuscheinen beginnt. Die Musik wird diesen Vor-Schein einer möglichen anderen Wirklichkeit allerdings nicht durch sich selbst konstituieren können – bedauerlicherweise braucht es zuvor ein Opfer dafür…
Doch zunächst erzählt der Film uns folgende Geschichte: Eine geschichtsträchtige Region in Südtirol, die Gemeinde Sterzing, ist als Ort ausgewählt worden, an dem es neue Friedensverhandlungen zwischen israelischen und palästinensischen Diplomaten geben soll. Für die Gestaltung eines kulturellen Rahmenprogramms beauftragt die EU die Stiftung für „effizienten Altruismus“; so sucht ihre Funktionärin Karla de Fries (Bibiana Beglau) den Musikprofessor und pensionierten Dirigenten Eduard Sporck (Peter Simonischek) auf. Sein Name soll israelische und palästinensische Jugendliche zusammenführen. Diese sollen gemeinsam ein Orchester bilden und unter seiner Leitung die Konferenz musikalisch begleiten.
Sporck ist ein Meister – ein Maestro aus Deutschland, und auf sehr spezifische Weise ist er mit deutscher Geschichte verstrickt. Von dem ihm angetragenen Projekt ist er zunächst wenig überzeugt, und auch die Geographie bereitet ihm Unbehagen, denn Sterzing ist auch Schauplatz in seiner eigenen Biographie: Seine Eltern waren als Ärzte im Konzentrationslager Birkenau nationalsozialistische Massenmörder; nach dem Krieg versteckten sie sich in Sterzing, wollten dann über Genua bis nach Südamerika gelangen – vielen prominenten Nationalsozialisten, etwa Adolf Eichmann, ist dies gelungen. Sporcks Eltern aber wurden auf der Flucht erschossen; er wurde als Kleinkind von einer Südtiroler Bäuerin gerettet. Ausgerechnet an dem Ort, an dem ihm eine Lebensaufgabe gleichsam in die Wiege gelegt worden ist, eine Aufgabe, die für die eigene Identität ständige Arbeit, einen permanenten inneren Konflikt bedeutet, soll er nun an der Potentialität einer neuen Zukunft mitwirken. Sporck hält das für nicht sehr aussichtsreich, lässt sich aber schließlich darauf ein.
Zunächst kann sein Name tatsächlich die erhoffte Anziehungskraft entfalten; die Konkurrenz bei einem in Tel Aviv angesetzten Vorspiel ist groß. Sporck gilt nun mal als der „Porsche“ unter den Dirigenten, das ist sogar auf den Straßen von Qalqiliya bekannt. Ein Kammerorchester wird zusammengestellt. Nachdem die in Tel Aviv angesetzten Proben wegen Dauerkonflikten innerhalb der Gruppe kaum gelingen, bricht er schließlich einige Wochen vor den Friedensverhandlungen mit seinem Orchester nach Sterzing auf, um die Arbeit dort fortzusetzen. Doch auch die idyllische Berglandschaft befriedet die Gruppe nicht – der Maestro muss fortan deeskalieren, bevor er mit den Jugendlichen musizieren kann, er muss den Zwischentönen Raum geben, damit im gemeinsamen Musizieren Harmonie möglich wird.
Um eine bessere Verständigung innerhalb der Gruppe zu erreichen, wendet er eine Reihe pädagogischer Übungen an; für einen gealterten Professor hat er ein recht erstaunliches Repertoire an gruppenpädagogischen Spielen und Übungen im Gepäck, für einen Musiker geht er zuweilen auch ein wenig einfallslos vor. Musik spielt keine Rolle, wenn die Jugendlichen – durch ein Seil voneinander getrennt – sich anschreien sollen, Hass und Wut ihrem Gegenüber entgegenschleudern können: „Mörder“, „Terrorist“ – das sind die Töne, die man in dieser Übung vernimmt.
Musik spielt auch keine Rolle, wenn die Jugendlichen durch den Raum gehen, sich in die Augen blicken und so lernen, den Anderen wahrzunehmen; und sie ist bei der Übung nicht von Bedeutung, bei der die Jugendlichen versuchen sollen, sich in den anderen einzufühlen, indem ein Muslim eine Kippa und eine Jüdin ein Kopftuch trägt.
Ohne Frage sind diese Episoden aufschlussreich; doch bei dem Raum, den sie im Film einnehmen, fragt man sich schon sehr bald, ob die erzählte Geschichte einen entscheidend anderen Handlungsverlauf nehmen würde, ginge es hier nicht um ein Orchester, sondern um die Zusammenstellung eines Basketballteams.
Musik ist auch dann nicht der Fokus, wenn die Jugendlichen im Kreis sitzend von ihren Familiengeschichten erzählen – manche dieser Geschichten gehen unter die Haut. Hier wechselt der Ton: Die Jugendlichen beginnen, einander zuzuhören, sie lernen, das Leid des Anderen auszuhalten, ohne es zu bewerten. Inmitten solcher gesprächstherapeutisch anmutenden Runden gibt dann auch der Maestro selbst Persönliches preis.
Vielleicht versucht er Hoffnung zu verbreiten, wenn er konstatiert, auch er habe es nie für möglich gehalten, dass es mal „Frieden zwischen Deutschen und Juden“ gibt. Man wundert sich über diese recht abenteuerliche Analogie, die die Frage aufwirft, welchen „Krieg“ es denn zwischen Deutschen und Juden gegeben haben soll, der mit „Frieden“ überwunden worden ist? Der Film kommentiert dieses sehr befremdliche Statement Sporcks jedoch nicht weiter, der nun seine Geschichte, die Geschichte seiner Eltern, die Bürde dieser Geschichte schildert und damit Vertrauen der Jugendlichen gewinnt.
Begegnung, Konfrontation, Achtung füreinander und Auf-Hören können, den richtigen Ton im Kontakt finden, damit man auch beim Musizieren dann einander vernimmt – Sporck gelingt es, in pädagogischer Feinarbeit sein Orchester zu formen. Bei den Proben gibt es erste Erfolge, so klingt im gemeinsamen Spiel von Dvořáks Sinfonie „Aus der Neuen Welt“, tatsächlich zaghaft so etwas wie eine Möglichkeit neuer Harmonien an.
Dennoch bleibt das Ensemble von grundsätzlichen Disharmonien begleitet. Der israelische Stargeiger Ron (Daniel Donnskoy) ist ein überkandidelter Macho und Unsympath. Das palästinensische Gegenstück zu Ron, die Geigerin Leyla (Sabrina Amali), ist zwar eindrucksvoll emanzipiert, aber kann so zur Furie werden, dass man in ihr eine Frau wahrnimmt, der man lieber nicht begegnen will, ohne Kampfsport zu beherrschen.
Überhaupt wirken die israelischen Musiker eher wie arrogante Elitisten, die palästinensische Seite wirkt dafür wütend und wild. Man kommt kaum auf die Idee, eine solche Kontrastierung für klischeehaft zu halten.
Doch beide Gruppen haben jeweils eine Person dabei, die sich so ganz anders ist, als die anderen, um sie herum verhalten: Sie sind ein wenig sonderlich, hochsensibel und schüchtern – der große Konflikt spielt keine Rolle für sie. Sie sind zwei, die befähigt sind, ineinander direkt ins Herz blicken.
Auf der palästinensischen Seite ist dies der schüchterne Omar (Mehdi Meskar), der Klarinette spielt, und auf israelischer Seite kommt der Hornistin Shira (Eyan Pinkovich) diese Rolle zu. Es ist also fast unausweichlich, dass die Beiden sich anzunähern beginnen.
„Ich habe so etwas noch nie zuvor gesehen“, sagt Omar und blickt dann erst auf das Horn in Shiras Händen und ihr dann tief in die Augen. Das „nie zuvor Gesehene“, das sich hier anbahnt, dürfte dem Publikum jedoch recht vertraut erscheinen.
Die nun folgende Liebesgeschichte ist rührend, auch wenn sie nicht ganz die Eleganz von „Romeo und Julia“ und auch nicht den Schmiss der „West-Side-Story“ hat. Sie ist rührend und bleibt dabei doch recht vorhersehbar und naiv erzählt. (Da hilft es auch nicht, wenn die Produzentin des Films, Alice Brauner, dem Vorwurf des Konstruierten nun mit dem Hinweis begegnet, dass es eine solche Beziehung in einem vergleichbaren Orchester in echt gegeben habe. Natürlich gibt es solche Beziehungen wirklich. Trotzdem stellt sich die Frage, wie und wieso man in einem Film von ihnen erzählt.)
Den Beiden wird schnell klar, dass ihre Liebe Anfechtungen ausgesetzt sein wird, und deswegen wollen sie ihre Zukunft sofort woanders suchen.
Dass Omar und Shira aus romantischen Impulsen und wegen der potentiellen Zukunftslosigkeit ihrer für immer unauflöslichen Verbindung, die sie in diesem Moment empfinden wollen, dann weglaufen – das mag ja realistisch sein. Auf der Realitätsebene einer betreuten Jugendreise würden solche – auch nicht unbedingt sehr außergewöhnlichen – Fluchtbewegungen dann recht pragmatische Schritte in Gang setzen: Man würde zum Beispiel eine freundliche Polizeibeamtin schicken, die mit altruistischer Effizienz – oder auch einfach mit routinierten Abläufen – die Jugendlichen aufhält und zurückbringt, und dann mit ihnen eine Perspektive entwickeln, die sich nicht im orientierungslosen Durchqueren fremder Landstriche erschöpft.
Eine solche Wendung wäre in dieser Banalität des Unaufgeregten vielleicht sogar noch eine ganz interessante Geschichte geworden; der Maestro hätte in gruppentherapeutischen Sitzungen mit den aufgebrachten Eltern Shiras seine psychologischen Fertigkeiten weiter ausbauen können.
Doch für Regisseur Zahavi, der auch Tatort-Episoden dreht, hat so ein Realismus vielleicht zu wenig Crescendo gehabt: So darf nämlich nicht eine durchschnittliche Polizistin das romantische Paar aufspüren und zurücktransportieren, sondern ein für das Orchester beauftragter Sicherheitsdienst muss nach ihm suchen; der agiert dann (in sehr konstruierter Weise) so unangemessen dabei, dass es schließlich zu einem Missverständnis mit tödlichem Ausgang kommt.
Mit dieser am Tag vor den Friedensverhandlungen sich ereignenden Katastrophe, sind die Proben beendet, das Konzert wird abgesagt; die Presse ist informiert und alarmiert über die Vorfälle, die als schlechtes Omen für die anstehenden Diplomatie gedeutet werden und sofort ein Politikum sind.
Bei der Rückreise am Flughafen teilt die Gruppe sich wieder in die zwei Blöcke auf, in denen sie angereist ist, und blickt sich feindselig an. Über einen Nachrichtenscreen wird ein Bild des Toten eingeblendet; und das bringt dann plötzlich eine Wende: Im Zwischenraum des Flughafens, mit dem über ihnen schwebenden Bild des Opfers, packen noch einmal alle ihre Instrumente aus und musizieren gemeinsam Ravels „Boléro“. Mit dieser Szene endet der Film und lässt einen doch recht befremdet zurück.
Was ist uns da eigentlich erzählt worden?
Gewiss klingt in der Musik zum Schluss die Hoffnung auf Gemeinsames an. Doch in der Erzählung des Films werden die Grenzen zwischen den Menschen, einem recht konventionellen Narrativ folgend, nicht durch die Musik, sondern durch die Liebe gesprengt. Die Gemeinschaft am Schluss wird ebenfalls nicht durch die Musik, sondern durch das Opfer konstituiert.
Doch wieso braucht es denn ein Opfer, um die Gruppe zu vereinen, den völlig sinnlosen Tod eines Menschen, der herzensgut und die personifizierte Liebe und Unschuld ist?
Dass durch das Opfer die Gemeinschaft der Musizierenden in einer von Widersprüchen geschüttelten Welt zusammenfinden kann und damit für Momente all diese Widersprüche in Harmonie sich versöhnen – das wirkt, als stamme es aus dem Libretto einer Oper, die könnte in Südtirol zwischen Karfreitag und Ostern ein Straßenfeger sein.
Wenn der Film ein Plädoyer für aufgeklärtes, humanistisches Denken sein möchte, so gelingt ihm dies mit dieser Geschichte nicht – oder bestenfalls in höchst ambivalenter Weise. Mit seiner durch das Opfer begründeten und geläuterten Gemeinschaft als utopischem Hoffnungsschimmer verfängt er sich selbst in jener dialektischen Bewegung der Aufklärung, von der Adorno feststellte, sie schlage in die Mythologie zurück, von der zu befreien ihr Anspruch sei.
Es ist sicher gut, dass „Crescendo“ nicht plakativ behauptet, man müsse nur gemeinsam ein wenig Musik spielen, damit lege sich dann Frieden über die ganze Welt. Aber mit dem, was er uns stattdessen zu erzählen versucht, kann er, trotz seines beeindruckenden Schauspielensembles, auch nicht so recht überzeugen.
Zudem ist es irritierend, einen solchen Film zu sehen, der fast die Unausweichlichkeit des Scheiterns eines solchen musikalischen Projektes vorführt, während in der Realität Daniel Barenboim mit dem von ihm und Edward Said 1999 gegründeten „West-Eastern Divan Orchestra“ erfolgreich ist. Sein Orchester soll den Film inspiriert haben, doch es mutet dann recht seltsam an, wenn es in der im Film gezeigten Wirklichkeit zwar Christoph von Dohnányi, Herbert Blomstedt und Zubin Mehta gibt, Daniel Barenboim dafür aber nicht existiert – und die Idee eines gemeinsamen Orchesters präsentiert wird, als sei dies eine zuvor nie dagewesene Erfindung einer effizient-altruistischen Stiftungsfrau.
Daniel Barenboim schätzt die Möglichkeiten seines Orchesters realistisch ein.
Im Vorwort des von der Cellistin Elena Cheah herausgegebenen Sammelbandes „Die Kraft der Musik“, in dem Musiker des West-Eastern Divan Orchestra ihre Geschichten erzählen, formuliert er, dass das Orchester keinen Frieden im Nahen Osten bringen kann, aber eine menschliche Lösung aufzeigen will, wo die Politik immer wieder versagt.
Hört man die Orchestermitglieder von ihren Erfahrungen sprechen, so berichten auch sie nicht von einer durchgängig einfachen und konfliktfreien Begegnung miteinander; aber doch auch von musikalischen Schlüsselerlebnissen, in denen die Musik eine besondere, integrative Kraft entfaltet hat.
Vielleicht kann die Musik Versöhnung nicht immer von alleine erreichen, sondern braucht einen Dirigenten, der sie immer wieder neu – in Kontakt mit der Tradition – in die Lebenswelt der Spielenden und Hörenden übersetzen kann und so ihre subversive Kraft zu entfalten vermag; und sie braucht ein Orchester, das den Mut besitzt, dann standzuhalten, wenn diese Musik auch an eigenen Gewissheiten zu rütteln beginnt.
In „Crescendo“ werden diese Möglichkeiten jedoch von Liebe und Tod übertönt.
Bild oben: Eyan Pinkovich (SHIRA) und Mehdi Meskar (OMAR) sollen sich jeweils in die andere Religion hineinversetzen © CCC Filmkunst