Wie ‚Hitler‘ war eigentlich Österreich?

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Beschämende, die NS-Verbrechen verharmlosende und Nazinähe suggerierende Skandale sind in Österreich so häufig geworden, dass sie inzwischen als landestypisch gelten. – Aber – wie ’nazi‘ waren die Österreicher einst wirklich? – Wie stark war ihr Anteil an den Tätern und somit an den Verbrechen des Dritten Reiches? – Versuch einer Einschätzung…

Von Robert Schlickewitz

Soeben erregt ein neuer Fall um Texte eines Burschenschafter-Liederbuches die Gemüter der Alpenrepublik.

Kostproben:

„Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion: ‚Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million!“

„Polenmädchen sind verboten,
Judenschicksen sind tabu,
eine Stute zu besteigen,
lässt der Veterinär nicht zu.“

„Heil Hitler, ihr alten Germanen, ich bin der Tacitus.“

Politiker der lange Zeit über Mitregierungspartei, FPÖ, die sich von solchen Inhalten nicht distanzieren können oder wollen, sehen sich wieder einmal mit Vorwürfen des Antisemitismus, Rassismus und Sexismus konfrontiert, während der Rest des Landes darüber diskutiert wie schlimm oder nicht schlimm das Ganze sei. Selbst Staatsanwaltschaften sollen inzwischen schon eingeschaltet worden sein…

Tatsache ist, es fällt vielen Österreicherinnen und Österreichern bis heute schwer, Sprache, Gedankengut und Werte des NS kategorisch abzulehnen.

Ihr Land hat bekanntlich sehr lange am eigenen Opferstatus festgehalten und erst spät mit der Aufarbeitung seines Anteils an der Schuld (ja, Schuld!) begonnen. Es hat die Auseinandersetzung mit Mittäterschaft, Mitverantwortung und Mitschuld Jahrzehnte über kleinen Eliten vorbehalten.

Ganz dementsprechend mangelt es bis heute an allgemein anerkannten (online-) Infoquellen, in denen Interessierte aus Ex-Kakanien den Grad der Verantwortung ihrer Vorfahren für die Verbrechen des Dritten Reiches nachlesen können.

Wer auf die populäre Webenzyklopädie Wikipedia zugreift, stößt auf den ausführlichen Eintrag „Österreich in der Zeit des Nationalsozialismus“. Der enthält das hier relevante Kapitel „Österreicher als Täter“. – Von weit verbreiteten judenfeindlichen Ressentiments und Einstellungen der Österreicher aus der Zeit vor dem NS ist darin die Rede.
Außerdem seien 11% der KZ-Kommandanten, 40% der KZ-Aufseher, 14% der SS-Mitglieder, drei Viertel des Mitarbeiterstabs Adolf Eichmanns Österreicher gewesen – bei einem Bevölkerungsanteil am Reich von 8%. Zudem hätten überdurchschnittlich viele Österreicher SS-Einsatzgruppen, angehört, die an „Massenerschiessungen von Juden und anderen Zivilisten im Rücken der Ostfront“ teilgenommen hatten. Die Wiki-Autoren merken ergänzend an, dass der Zeithistoriker Bertrand Perz zu abweichenden Erkenntnissen gelangt sei; der ginge von einem österreichischen Täteranteil von ca. 13-20 % aus.
Wiki nennt auch Namen, z.B. die der österreichischen KZ-Kommandanten
Irmfried Eberl, Franz Stangl, Franz Reichleitner, Anton Burger, Karl Rahm, Siegfried Seidl, Amon Göth, Herbert Andorfer.
Weitere bedeutende Ö-NS-Täter waren:
Ernst Kaltenbrunner, Arthur Seyß-Inquart, Odilo Globocnik, August Eigruber, Wolfgang Abel, Heinrich Gross, Karl Josef Silberbauer, Alexander Löhr,  sowie die Gauleiter Hugo Jury, Franz Hofer, Tobias Portschy, Friedrich Rainer.

Im Kapitel „Aufarbeitung und Verdrängung“ fallen die Namen von NS-Tätern und höheren NSDAP-Funktionären, die in der Nachkriegszeit an Schaltstellen von Verwaltung und Politik saßen. So bei der SPÖ: Hans Öllinger, Oskar Weihs, Josef Moser, Erwin Frühbauer, Otto Rösch, Friedrich Peter sowie auf Seiten der Konservativen der langjährige Skandalhansl (Bundespräsident) Kurt Waldheim.

Eigene Recherchen auf Basis des Drittes-Reich-Lexikons von Friedemann Bedürftig ergaben, dass von den rund 180 dort verzeichneten Vordenkern, Unterstützern, Mitläufern, Mittätern und Tätern 14 Österreicher waren, was einem Anteil von ca. 8% entspricht. Bedürftig zählt auf:
Hans von Dohnanyi (NS-Richter, später im Widerstand)
Irmfried Eberl (Leiter mehrerer Tötungsanstalten)
Odilo Globocnik (Kriegsverbrecher, verantwortlich für den Massenmord an Juden)
Amon Göth (KZ-Kommandant, der persönlich mordete)
Adolf Hitler („Führer der Deutschen und Österreicher; für viele bis heute „Alleinschuldiger“)
Theodor Innitzer (Hoher katholischer Würdenträger; NS-Kollaborateur; „Judenretter“)
Ernst Kaltenbrunner (Kriegsverbrecher; Chef der Sicherheitspolizei und des Reichssicherheitshauptamtes)
Josef Lanz (=Jörg Lanz von Liebenfels; geistiger Wegbereiter Hitlers, völkischer Sektierer, „Ariosoph“)
Alexander Löhr (Als General der Flieger ließ er Warschau und Belgrad bombardieren; später verantwortlich für Judendeportationen)
Karl Lueger (Wiener Bürgermeister; radikaler Antisemit; bewundertes Vorbild Adolf Hitlers)
Walter Reder (SS-Sturmbannführer; ließ in Bologna ca. 2000 Zivilisten abschlachten)
Arthur Seyß-Inquart (SS-Obergruppenführer, Stellvertreter des Generalgouverneurs Frank, verantwortlich für Judendeportationen)
Otto Skorzeny (SS-Obersturmbannführer; „Befreier“ Mussolinis; zuständig für Spezialkommandos)
Franz Stangl (Kommandant der KZs Sobibor und Treblinka, davor im Judenreferat der Gestapo)

Auch nicht wenige Musik-, Bühnen- und Filmstars der Österreicher gelten als minder bis schwer belastet, darunter z.B. Attila und Paul Hoerbiger, Paula Wessely…
Nähere Informationen enthält das Kulturlexikon von Ernst Klee (siehe unten).

Es mit der Bildung nicht eben weit habende, und darüberhinaus denkfaule, Durchschnittsdeutsche machten und machen es sich gern bequem, indem sie jede „Schuld“ am Holocaust und am Krieg auf den „Österreicher“ Adolf Hitler schieben und damit das Thema Verantwortung für sich abhaken.

Damit blenden diese Leute jedoch auch aus,

dass der Auftrag zur Ermordung der 6 Millionen Juden von einem Deutschen erteilt wurde, von Hermann Göring,

dass die Initiative zu Errichtung und Betrieb von Dachau, Auschwitz und anderen Vernichtungslagern ein Deutscher ergriff, Heinrich Himmler,

dass der fanatischste antisemitische Einpeitscher und skrupelloseste Kriegshetzer des Reiches der Deutsche Joseph Goebbels war,

dass das auflagenstärkste Antijudenmagazin, „Der Stürmer“, von einem Deutschen, Julius Streicher, herausgegeben wurde,

und dass Hitlers Stellvertreter, seine Minister und sein vorgesehener Nachfolger sämtliche Deutsche waren.

Fazit:
In der Haupttäterriege des Dritten Reiches sind die Österreicher tatsächlich unterrepräsentiert. Dennoch – kein Freispruch.
Allein die oben genannten Namen von Österreichern
stehen für Hunderttausendfachen Mord an Juden und anderen Zivilisten im ganzen vom Deutschen Reich besetzten Europa bzw. für Prägung und Propaganda menschenverachtenden Gedankenguts.
Darüberhinaus machten sich Millionen Österreicher als Mitmacher, Mitläufer, Mittäter und Täter persönlich schuldig.

Nachtrag:
Hermann Frank Meyer, der die Verbrechen der Gebirgsjäger der Wehrmacht untersuchte, stellt in „Blutiges Edelweiß. Die 1. Gebirgs-Division im Zweiten Weltkrieg“ (Berlin 2008) fest, dass Österreicher in dieser Truppe, deren Verbrechen denen der SS nur wenig nachstehen, gemeinsam mit Süddeutschen deren überwiegende Mehrheit stellten.

Quellen und Literatur:

Zur Affäre Burschenschaften-Liedertexte, siehe

Kronenzeitung online, 01.11.2019, 06:00, Ermittlungen laufen. NS-Liederbuch: „Krone“ enthüllt weitere Strophen.
Von Sandra Schieder

DerStandard online, 31.10.2019, 11:11, Eric Frey: Die neue Liederbuchaffäre ist für den FPÖ-Chef ein Problem

DerStandard online, 31.10.2019, 13:28, Liederbuchaffäre: FPÖ sieht Schmutzkübelkampagne
(and, sefe, red, APA, 30.10.2019)

DerStandard online, 1.11.2019, 22:47, Sebastian Fellner: Neue Strophen des antisemitischen Liederbuchs veröffentlicht. Druck auf Zanger steigt.

Nachschlagewerke

Friedemann Bedürftig: Drittes Reich und Zweiter Weltkrieg. Das Lexikon. München und Zürich 2002.

Ernst Klee: Kulturlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. FfM 2009 (überarbeitete Ausgabe).

Ernst Klee: Auschwitz. Täter, Opfer und was aus ihnen wurde. Ein Personenlexikon. FfM 2018.

Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. FfM 2003 und Hamburg 2016.