Seitdem bekannt wurde, dass die Generalstaatsanwaltschaft Anklage gegen Benjamin Netanyahu erhebt, rumort es gewaltig in seiner Partei, dem Likud. Während interne Rivalen wie Gideon Saar bereits die Führungsfrage stellen, bringen sich die Verbündeten des Ministerpräsidenten gleichfalls lautstark in Stellung…
Von Ralf Balke
Wenn es in Israel schon kein Gesetz gibt, das einen Ministerpräsidenten, der demnächst vor Gericht erscheinen muss, zum Rücktritt zwingen kann, dann werde ich diesen Job wohl machen müssen. Genau das scheinen die Überlegungen von Gideon Saar gewesen zu sein, als er unmittelbar nach Bekanntgabe der Generalstaatsanwaltschaft, gegen Benjamin Netanyahu Anklage zu erheben, verkündete, den Job an der Spitze des Likuds übernehmen zu wollen und parteiinterne Wahlen einforderte. Schon lange galt der ehemalige Bildungs- und Innenminister als einer der potenziellen Anwärter auf die Nachfolgerschaft an der Spitze des Likuds, die seit nunmehr 14 Jahren fest in der Hand Netanyahus ist. Doch im Unterschied zu den anderen hat er als erster den Sprung ins Haifischbecken gewagt und getwittert: „Ich bin bereit.“ Nun will er „das Land retten“.
Dass sich Saar mit dieser Ankündigung keinesfalls nur Freunde machen sollte, war ihm von Anfang wohl klar. Und genau deshalb ist das Wort „Putsch“ derzeit reichlich inflationär in aller Munde. Zuerst sprach Netanyahu am Donnerstag von einem „Putschversuch“ der Ermittlungsbehörden gegen seine Person. Diese hätten keinerlei Interesse an der Wahrheit, sondern würden allein aus politischen Gründen seinen Kopf fordern. Für diese Justizschelte gab es sofort Contra von Saar. „Das ist kein Putschversuch“, kritisierte er die Wortwahl des Ministerpräsidenten. „Es ist nicht nur falsch, so etwas zu behaupten, sondern geradezu unverantwortlich. Es ist auf jeden Fall völlig daneben.“ Am Samstag legte er dann noch eine Schippe nach: „Ich kenne keine einzige Person, die allen Ernstes glaubt, das nach einem dritten oder vierten, oder vielleicht sogar fünften und sechsten Wahlgang Ministerpräsident Netanyahu in der Lage sein könnte, eine Regierung zu bilden.“ Sollte er aber an der Spitze des Likuds bleiben, warnte Saar weiter, dann wäre das eine völlig „irrsinnige Krise“, die letztendlich das ganze Land politisch paralysiere. Zudem habe die Partei mit ihrem Festhalten an der Person Netanyahu „sich in eine Sackgasse manövriert“. Der einzige Ausweg: Vorwahlen im Likud, um einen dritten Urnengang innerhalb von zwölf Monaten zu vermeiden. Denn genau der steht an, wenn bis zum 11. Dezember es kein einziger Knesset-Abgeordneter schaffen sollte, eine funktionierende Koalition auf die Beine zu stellen. Ganz offensichtlich sieht sich Saar nun selbst in der Rolle desjenigen, der den Langzeit-Premier irgendwie beerben kann. Und mit ihm an der Spitze würde einer Koalition der Nationalen Einheit mit der Konkurrenz von Blau-Weiß wohl nichts mehr im Wege stehen – so seine Rechnung.
Seither ist auch viel von einem Putsch gegen Netanyahu in der eigenen Partei die Rede. Dabei werden die internen Diskussionen ganz nach dem Motto geführt: Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht. So attestierte Saar Netanyahu erst einmal „Panik“, weil plötzlich das Thema Vorwahlen im Spiel gebracht wurde. Zugleich beklagt er sich über Angriffe, die nicht nur gegen seine Person, sondern gegen die gesamte Familie Saar gerichtet sind. Vor allem Yair Netanyahu, der Sohn des Ministerpräsidenten, kenne da offensichtlich keine Grenzen mehr und pöbele auf Twitter hemmungslos gegen Saars Tochter Alona, die mit dem aus der TV-Serie „Fauda“ bekannten arabischen Schauspieler Amir Khoury verheiratet ist. Aber auch Gattin Geula Even-Saar wurde für ihre angeblich linken Ansichten bereits massivst beleidigt. „Mit jedem Tag erreichen die Beschimpfungen ein neues Niveau“, so Saar. „Das Privatleben meiner Tochter geht Yair Netanyahu einfach nichts an. Der Ministerpräsident fordert ständig, dass man seine Familie, vor allem seine Frau, in Ruhe lassen solle, und wenn schon, dann nur ihn allein persönlich angreifen möge.“ Offensichtlich gelte das Heraushalten Unbeteiligter aus der Familie nicht für seinen Sohn. Zudem würde Netanyahu Senior den offiziellen Twitter-Account des Likuds benutzen, um gegen mobil in jeder Form mobil zu machen.
Pro-Netanyahu-Aktivisten nennen Saar bereits einen „Verräter“ und namentlich ungenannte Personen aus dem Umfeld des Ministerpräsidenten erklärten auf dem TV-Sender Arutz 13: „Der Likud ist eine Familie – und man verrät seine Familie nicht einfach so.“ Doch Saar lässt nicht einfach locker. Weil für Dienstagabend eine große Solidaritätskundgebung unter dem Motto „Protest gegen den Putsch“ für Netanyahu in Tel Aviv geplant ist, wurde auch sein Ton bereits schärfer. „Ich an seiner Stelle würde endlich Verantwortung übernehmen und zurücktreten. Auf diese Weise könnte sich die Partei endlich wieder den politischen Prozessen annehmen“, erklärte er am Dienstagmorgen gegenüber dem Sender Kan und äußerte zugleich seine Befürchtungen, dass der Likud ernsthaften Schaden nimmt, wenn er weiterhin in einer Art Nibelungentreue zu Netanyahu halte.
Und Saar ist nicht alleine. Auch der innerhalb der Partei recht einflussreiche Außenminister Israel Katz signalisierte ganz vorsichtig Interesse am Posten als Likud-Boss. Ex-Justizminister Dan Meridor meldete sich gleichfalls zu Wort und forderte Netanyahu zum Rücktritt auf. Einige namentlich ungenannte Personen aus der Spitze Likuds erklärten darüber hinaus, dass sie an der für Dienstagabend geplanten Pro-Netanyahu-Kundgebung wohl fernbleiben würden – auch das ist ein Signal. Kulturministerin Miri Regev dagegen steht fest an der Seite des Ministerpräsidenten und hofft, dass Saar „Netanyahu nicht weiter in den Rücken fällt.“ Kurzum, im Likud ist das große Hauen und Stechen losgegangen. Zum einen wittern seine alten und neuen Rivalen Blut, weil Netanyahu durch die Anklage definitiv politisch angeschlagen ist. Auf der anderen Seite darf man den Durchhaltewillen des Ministerpräsidenten auch nicht unterschätzen, weshalb er weiterhin mit der Unterstützung von großen Teilen der Partei rechnen kann, die wohl eher seine Rache fürchten, falls er an der Spitze bleiben sollte und es dann zu einer Abrechnung mit den Gegnern im Likud käme.
Ein erstes Stimmungsbild vermittelt eine aktuelle Umfrage von Direct Polls unter 1513 Personen mit einem Likud-Parteibuch, die Anfang dieser Woche veröffentlicht wurde. Demnach würden 53 Prozent weiterhin Netanyahu unterstützen, aber immerhin 40 Prozent seinen Herausforderer Gideon Saar – doch sind die Ergebnisse mit Vorsicht zu betrachten, wie die Jerusalem Post schreibt. Denn der Inhaber von Direct Polls heißt Shlomo Filber und gilt in dem Verfahren gegen den Ministerpräsidenten als Kronzeuge der Staatsanwaltschaft. Auf die weitere Frage, wer denn nach Netanyahu den Likud führen solle, nannten 39,4 Prozent Gideon Saar, gefolgt von Jerusalems Ex-Bürgermeister Nir Barkat mit 23,6 Prozent, Israel Katz mit 6,2 Prozent und Yuli Edelstein mit 4,4 Prozent. Schlusslicht war interessanterweise die ehrgeizige Kulturministerin Miri Regev mit gerade einmal 2,3 Prozent.
Was die Sache nicht unbedingt einfacher macht, ist der Faktor Zeit. Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit erklärte am Montag noch, dass Netanyahu seinen Posten als amtierender Regierungschef trotz der Anklage gegen ihn behalten könne. Die Rechtslage würde das durchaus erlauben. Wozu er sich aber ausschwieg, war die Unklarheit darüber, ob er in dieser Situation als Angeklagter überhaupt noch das Mandat erhalten darf, eine neue Regierung zu bilden oder nicht. Zudem beschäftigt sich eine ganze Mannschaft von Top-Juristen mit dem Problem, was eigentlich mit den zahlreichen Ministerposten ist, die Netanyahu parallel zum Amt des Ministerpräsidenten bekleidet. „Genau deshalb ist unter den gegebenen Umständen die Frage nach einem temporären Rücktritt eher in der politisch-öffentlichen Sphäre angesiedelt“, hieß es dazu in einem Statement Mandelblits am Montag. „Es gibt im Moment keinerlei Rechtfertigung dafür, warum der Generalstaatsanwalt entscheiden solle, dass der Ministerpräsident seinen Pflichten nicht nachkommen kann.“ Bereits am Sonntag hatte der Oberste Gerichtshof eine entsprechende Petition der Movement for Quality Government abgewiesen. Es war die erste ihrer Art, die einen Rücktritt Netanyahus fordert. Die Arbeiterpartei will die Tage eine weitere nachlegen.
Zudem unternimmt Netanyahu alles, um weiter im Amt zu bleiben. So gab er am Montag grünes Licht für eine Gesetzesinitiative, die auf eine Änderung der Wahlmodalitäten für eine neue Regierung abzielt. Die Idee dazu stammt von Shlomo Kori, einem Knesset-Abgeordneten seiner Partei. „Der Grundgedanke dahinter ist folgender“, erklärte dieser der Presse. „Wenn es wieder einmal keine Mehrheiten für eine Koalition gibt, soll der Wähler noch einmal entscheiden können, und zwar durch die direkte Wahl zwischen den beiden Spitzenkandidaten.“ Ob dieser Vorschlag sich durchsetzen kann, mag dahingestellt sein. Ganz offensichtlich aber glaubt Netanyahu weiterhin ziemlich unerschütterlich an seine Popularität, die ihm im Falle eines erneuten Patts zwischen den beiden großen politischen Blöcken dann zum Sieg verhelfen könne.
Erwartungsgemäß halten sich auch die politischen Gegner nicht mit Kommentaren zur Anklage gegen Netanyahu und den parteiinternen Rangeleien um die Führung im Likud zurück. Benny Gantz vom oppositionellen Bündnis Blau-Weiß warnte bereits vor einem „Bürgerkrieg“, falls Netanyahu am Sessel des Ministerpräsidenten klebe und mit seinen Verbalattacken gegen Justiz und Kritiker weiterhin das politische Klima vergifte. „Der Mann, der damals eine gnadenlose Kampagne gegen Ministerpräsident Yitzchak Rabin angeführt hatte, eine Kampagne, die in einem schrecklichen nationalen Desaster endete, sollte nur allzu gut wissen, dass aus gefährlichen Worten ganz schnell tödliche Kugeln werden können.“ Vielleicht klingt das alles ein wenig dick aufgetragen und pathetisch. Doch Fakt ist, dass die Diskussionen um Netanyahus politische Zukunft derzeit alle anderen Themen – angefangen von den neuen Demonstrationen der Palästinenser bis hin zur Verschärfung der Sicherheitslage durch den Iran – überlagern. Inwieweit das alles nicht auf die Verantwortlichen zurückfällt und zu einen massiven Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Spitzen der großen Parteien, allen voran dem Likud, führt, das werden die nächsten Wochen zeigen.
Bild oben: Gideon Saar während einer Rede in der Likud Zentrale, 2010, (c) Yaakov, wikicommons