Ich erinnere mich sehr gut. Es waren viele Abende, an denen wir uns in der Bürgerinitiative „Edelweißpiraten als Antifaschisten“ trafen, und es war ein bunter Haufen: dogmatische Kommunisten, überzeugte Liberale – unter ihnen ein Justizsenator aus Hamburg (Prof. Ulrich Klug (FDP) , ein enger Freund Peter Finkelgruens) – Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Mitglieder der jüdischen Gemeinde in Köln. Uns einte das Unverständnis über die starre Haltung des damaligen Regierungspräsidenten Franz-Josef Antwerpes, der jedwede Anerkennung der Edelweißpiraten als Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime mit dem Hinweis abtat, dass ihr Handeln eher krimineller als politischer Natur gewesen sei…
Von Matthias von Hellfeld
Es war der berühmte Kampf gegen Windmühlen, denn bei allen Aktionen der Bürgerinitiative gab es Widerstände und Widersprüche, heftige Debatten in der Bevölkerung oder kritische und unterstützende Zeitungsartikel. Vermutlich lag es an den Zielen der Bürgerinitiative, denn die wollte nichts weniger als eine Straßenumbenennung, ein Mahnmal und die Anerkennung der jugendlichen Edelweißpiraten als Widerstandskämpfer. Die weitreichendste Forderung war die Schaffung eines NS-Dokumentationszentrums in dem Haus, in dem einst die Gestapo wütete und Anfang der 1980er Jahre die Renten an jene bewilligt wurden, die während des Zweiten Weltkriegs in den Kellern diese berüchtigten El-De-Hauses gefoltert worden waren.
Initiator dieser Bürgerinitiative war maßgeblich Peter Finkelgruen, der in immer wieder neuen Versuchen die Anliegen vorbrachte, weitertrieb und dabei neue publizistische und politische Kanäle öffnete. Das lag zum einen daran, dass unter den jugendlichen Opfern der Mordtat des 10. November 1944, als Kripo und Gestapo öffentlich und ohne Gerichtsurteil 13 Menschen hinrichteten, Juden waren. Sie sollten rehabilitiert werden. Zum anderen aber legten die Aktivitäten der Bürgerinitiative auch den Finger in die offene Wunde der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft: Die fehlende Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit.
Vierzig Jahre später kann man festhalten: Es ist viel erreicht! Wer nach Köln-Ehrenfeld kommt, kann das Mahnmal an der Bartholomäus-Schink-Straße kaum übersehen. Jedes Jahr am 10. November erinnert ein Schweigemarsch durch Ehrenfeld an das Unrecht, das 1944 vor einer schaulustigen Menge ins Werk gesetzt wurde. Die Kölner Edelweißpiraten Jean Jülich und Bartholomäus Schink wurden 1984 von der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Und schließlich ist das Dokumentationszentrum im El-De-Haus mittlerweile eine international anerkannte Kölner Institution geworden, die jedes Jahr fast 100.000 Menschen anlockt.
Ich habe all das als junger Geschichtsstudent der Kölner Universität miterlebt und dabei das Thema meines Lebens gefunden. Die Zeit des Faschismus hat mich lange Jahre nicht losgelassen. Die erschreckende Transformation eines Teils der Gesellschaft in eine Horde mordlustiger Banditen, denen Menschen wie Barthel Schink oder Günther Schwarz zum Opfer fielen, ist immer noch ein kaum verstehbarer Fakt der deutschen Geschichte. Schwer verstehbar war für mich auch der Umstand, dass die drei von Yad Vashem Geehrten – Jean Jülich, Bartholomäus Schink und der ehemalige deutsche Botschafter in Rumänien Michael Jovy – in Israel anerkannt wurden, in Deutschland hingegen nicht. Eine wissenschaftliche Kommission war in Jerusalem nach intensivem Aktenstudium zu der Erkenntnis gelangt, dass es sich bei den Genannten um Widerstandskämpfer gehandelt hat – in der Bundesrepublik provozierte diese Entscheidung ein Gutachten, das zu gegenteiligem Ergebnis kam.
Besonders umstritten war die Frage, ob die Ehrenfelder Gruppe zwei jüdischen Frauen im Sommer und Herbst 1944 in den Kellerräumen der Schönsteinstraße in Köln-Ehrenfeld Unterschlupf und Versorgung gewährt hatte oder nicht. Ich hatte mich viele Jahre aus den Debatten um die Edelweißpiraten herausgehalten, als mich der damaligen Kölner Oberbürgermeister Jürgen Roters bat, auch jene Akten noch einmal zu studieren, die mir bei meinen Arbeiten Ende der 70er nicht zur Verfügung standen. Dabei entdeckte ich eine späte Rehabilitierung der Gruppe um den als „Bombenhans“ bekannt gewordenen Hans Steinbrück. Wenn wir den Akten der Gestapo trauen, dann hat sich Ende November 1944 – also etwa zwei Wochen nach der Hinrichtung der Edelweißpiraten – in den Räumlichkeiten der Kölner Kriminalpolizei Folgendes abgespielt:
Der ermittelnde Kommissar und Leiter der Sabotagekommission, Ferdinand Kütter, der die Ehrenfelder Gruppe hatte verhaften und schließlich umbringen lassen, ließ sich Ruth Krämer und deren Mutter, Friedel Krämer, geborene Rothschild, vorführen und befragte sie. Ob sie Geld hätten bezahlen müssen, damit sie von der Gruppe untergebracht und geschützt worden sind, wollte er wissen. Die Antwort notierte das Protokoll akribisch: Nein, sagte Friedel Krämer, darüber sei zwar gesprochen worden, aber angenommen habe das angebotene Geld niemand. Die beiden jüdischen Frauen hatten sich einige Tage in den Kellerruinen der Ehrenfelder Schönsteinstraße 7 aufgehalten, wo die Gruppe ein verzweigtes Versteck mit Bettenlager, Nahrungsmitteln und Waffen angelegt hatte. Aber die beiden Frauen wurden nicht nur versteckt, was im Herbst 1944 eine ebenso heldenhafte wie gefährliche Tat war. Nein, sie wurden ohne Gegenleistung vor ihren Mördern geschützt – wenigstens ein paar Tage. Anfang der 80er Jahre auf dem Höhepunkt der Debatten um die Ehrenfelder Gruppe hatten wir diese Dokumente nicht zu sehen bekommen – vielleicht wäre dann einiges anders gelaufen. Denn welch ein „Beweis“ einer widerständigen Handlung hätte noch beigebracht werden müssen?
Aber es gibt immer noch Menschen, die felsenfest davon überzeugt sind, dass sie es beim Ehrenfelder Fall mit einer kriminellen Bande zu tun haben, deren Antrieb persönliche Bereicherung, schlichte Mordlust oder ausufernder Alkoholismus gewesen waren. Dabei wäre es so einfach: Die Ehrenfelder Gruppe war sehr heterogen und bestand aus Angehörigen sehr unterschiedlicher Altersgruppen. Sie wollten in der Endzeit des Zweiten Weltkriegs überleben und haben sich der Mittel bedient, derer man sich als ausgestoßene, von den Behörden gesuchte Person ohne Lebensmittelmarken bedienen musste: Schwarzmarkt und kriminelles Milieu. Das erklärt einige ihrer Aktionen, aber sie waren Mittel zum Zweck und nicht Sinn der Sache.
Köln, 30.8.2019
„Soweit er Jude war…“
Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944…
Herausgegeben von Roland Kaufhold und Andrea Livnat
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Die Buches liegt auch in Druckversion vor:
Peter Finkelgruen, „Soweit er Jude war…“ Moritat von der Bewältigung des Widerstandes. Die Edelweißpiraten als Vierte Front in Köln 1944, Hrsg. v. Roland Kaufhold, Andrea Livnat und Nadine Englhart, Hardcover, 352 S., ISBN-13: 9783752812367, Euro 39,90, Bestellen?
Paperback, Euro 17,99, Bestellen?
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Bild oben: Das Konterfei von Bartholomäus Schink am Edelweißpiraten-Denkmal Köln, © R. Kaufhold
Einige Publikationen von Matthias von Hellfeld über die Edelweißpiraten:
Von Hellfeld, M. (1981): Edelweißpiraten in Köln. Jugendrebellion gegen das 3. Reich. Köln: Pahl-Rugenstein.
Von Hellfeld, M. & A. Klönne (1985): Die betrogene Generation. Jugend im Faschismus. Köln: Pahl-Rugenstein.
Von Hellfeld, M. (1987): Bündische Jugend und Hitlerjugend. Zur Geschichte von Anpassung und Widerstand 1930 – 1939. Köln: Verlag Wissenschaft und Politik.
Von Hellfeld, M. (2017): „Damit nicht alles vor die Hunde geht…“ Anfänge in der Bundesrepublik 1945 bis 1955, in: Peil Bothien, H.-P, M. von Hellfeld, S. Peil & J. Reulecke (2017): Ein Leben gegen den Strom. Michael Mike Jovy, S. 44-73.