Die hundertjährige Shoa-Überlebende Lena Goldstein – ein Portrait…
Von Jim G. Tobias
„Das einzige Gute was wir erlebten – denn es gab nichts Gutes während des Krieges – das brachte uns nach Australien“, schwärmt Lena Goldstein und blickt von ihrem Wohnzimmerfenster auf die Skyline von Sydney. „Wir verliebten uns in Australien. Und unsere Liebesaffäre besteht immer noch – bis heute!“
Als Jüngste von vier Geschwistern wurde Lena als Chaja Helena Midler am 31. Januar 1919 in Lublin geboren. Später verzog sie mit ihrer Familie nach Warschau. Lena wollte dort Jura studieren; aber schon nach einem Semester wurden sie und ihre jüdischen Kommilitonen diskriminiert und letztlich von allen Prüfungen exkludiert. Lena entschloss sich, in Brüssel weiter zu studieren, doch der Einmarsch der Deutschen machte auch diesen Plan zunichte. Ein Jahr später errichteten die Nationalsozialisten das Ghetto, in dem alle jüdischen Bewohner auf engstem Raum zusammengepfercht wurden – auch Lena und ihre Familie. Vater, Mutter und Lena mussten in der Wäscherei des deutschen Textilfabrikanten Fritz Emil Schulz Zwangsarbeit leisten. Zu den Brüdern bestand kein Kontakt, da sie in einem anderen Teil des Ghettos lebten. Der Schwester war die Flucht in den russisch besetzten Teil Polens gelungen, von wo aus sie nach Sibirien deportiert worden war. Die Eltern und die Brüder wurden im Rahmen der vielen „Aktionen“ in den Osten verschleppt, wo sich ihre Spuren verlieren. Lena gelang es, kurz vor dem jüdischen Aufstand, im April 1943 dem Ghetto zu entkommen; sie fand Unterschlupf bei einem christlichen Polen und später Zuflucht in einem Kellerversteck. Dort harrte sie mit einigen Leidensgenossen monatelang in Dunkelheit und quälender Enge aus. Während dieser Zeit verfasste Lena ein Tagebuch, das sie sarkastisch „Bunker-Nachrichten“ nannte. Über den 16. November 1944 schrieb sie: „Ich sehne mich nach dem Plätschern des Herbstregens. Ich sehne mich nach der monotonen Musik der Regentropfen, dem Nieselregen, nach dem grauen, melancholischen, trüben Novemberhimmel. Und ich sehne mich nach Gedanken, die nicht mit den Worten ,wenn ich überlebe‘ beginnen und die Last des Zweifels beinhalten, weil ich werde sowieso nicht überleben.“
Aber Lena hatte Glück, sie entkam dem Tod, obwohl er jahrelang ihr täglicher Begleiter war. Im Januar 1945 konnte sie endlich ihr Versteck verlassen und nach Monaten wieder frische Luft atmen und die Sonne sehen. Wenig später lernte sie den Shoa-Überlebenden Alex (Oleg) Goldstein kennen, den sie kurz darauf heiratete. In ihrer Heimat sahen sie für sich jedoch keine Perspektive. Das junge Paar sehnte sich nach Freiheit und Sicherheit. „Mit dem Namen Goldstein konnte man in Polen nicht leben“, erinnert sich Lena. Aufgrund pogromartiger Ausschreitungen flüchteten die Eheleute 1946 nach Deutschland, in die Sicherheit der US‐Besatzungszone. Nach einer jahrelangen Odyssee durch verschiedene Displaced‐Persons‐Lager bestiegen sie und ihr Mann Alex schließlich in Genua den Überseedampfer „Continental“, mit dem sie im März 1949 Australien, ihre neue Heimat Sydney, erreichten.
Waren die Wohnverhältnisse anfänglich auch sehr ärmlich und beengt, so änderte sich das bald. Zumal die australische Wirtschaft händeringend nach Arbeitskräften suchte. „Als wir hier ankamen, arbeiteten wir in einer Textilfabrik, zwölf oder vierzehn Stunden am Tag“, notierte Lena in ihren Erinnerungen. „Es war nicht leicht, aber es machte uns nichts aus.“ Nach Feierabend gingen Alex und Lena regelmäßig ins Kino und sahen sich oft dieselben Filme mehrmals an. „Für uns war es so, als würden wir zur Universität gehen, so haben wir Englisch gelernt.“ Später gründeten die Goldsteins ihre eigene Textilfabrik und eröffneten ein Schuhgeschäft. Nachdem sich das Paar etabliert hatte, wurden die beiden Söhne Stanley und Martin geboren.
Lange Zeit behielten Lena und Alex ihre schlimmen Erinnerungen für sich. Wie viele Shoa-Überlebende schwiegen sie: „Wir sprachen nicht über die Verfolgung. Ich kann mich nicht mal erinnern, dass ich jemanden fragte wie er überlebte“, berichtet Lena. Erst in den 1990er Jahren meldete sie sich zu Wort und gab zunächst der „Survivors of the Shoah Visual History Foundation“ ein Interview. Anschließend engagierte sich Lena ehrenamtlich im Sydney Jewish Museum. Sie führte Besuchergruppen durchs Haus, hielt Vorträge und sprach vor Studenten und Schulklassen. „Damit die Shoa niemals vergessen wird, muss die zukünftige Generation wissen, was passiert ist,“ war ihr Credo und diese selbst auferlegte Pflicht hielt sie jung.
Bis ins Alter von 98 Jahren lebte Lena alleine in ihrem Haus in Dover Height, einem östlichen Suburb vom Sydney – Alex starb bereits 2007. Dann zog sie in eine Seniorenresidenz; doch ihre Aktivitäten schränkte sie nicht ein, auch nicht nach ihrem 100. Geburtstag. Noch zwei Wochen vor ihrem Tod, entzündete sie im Rahmen einer Gedenkfeier an Jom haShoa im Sydney Jewish Museum eine Kerze für die sechs Millionen Ermordeten. In der Nacht auf den 14. Mai 2019 ist Lena friedlich in ihrem Bett eingeschlafen. Vor 75 Jahren hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben: „Wir träumen von Freiheit: Es ist unser Ziel und unser Traum. Es ist der Himmel über uns, die Sonne und die Sterne und der Boden unter unseren Füßen und die Luft für unsere Lungen. Das ist Freiheit, denn Freiheit bedeutet für uns Leben.“ 70 Jahre durfte Lena diese Freiheit genießen – in ihrer neuen Heimat, weit weg von Europa!
Zur Serie:
Neue Heimat am Ende der Welt
Australien und Neuseeland, die beiden Länder auf der anderen Seite unseres Erdballs ziehen seit ihrer Besiedlung durch Europäer vor über 200 Jahren viele Einwanderer magisch an. Auch Juden suchten dort Zuflucht, sei es etwa vor zaristischen Pogromen, der NS-Vernichtung oder vor den alltäglichen antisemitischen Anfeindungen in ihren Heimatländern…