Im Bus auf dem Weg von Greenpoint zur Brooklyn Bridge, irgendwo in Williamsburg, New York, an einem Mittwoch im Oktober 2018, nach Mittag…
Von Susanne Joos, Stuttgart
An einer Haltestelle steigt eine unauffällig gekleidete Frau unbestimmten Alters ein und setzt sich auf den eben freigewordenen Fensterplatz neben mir.
Ob sie zu den in diesem Stadtteil lebenden Chassidim gehört? frage ich mich.
Ich mache eine Bemerkung über die zahlreichen Schulbusse draußen. Die Frau steigt sofort auf den Smalltalk ein und fragt – vermutlich wegen meines holprigen Englisch – :
Where are you from ?
From Germany, sage ich.
Jetzt wendet sie sich mir ganz zu, sieht mich an und sagt rasch:
Da bin ich geboren.
Wo denn? frage ich.
Die Frau: Ohlom.
Ich rätsele eine Weile herum, welche Stadt das sein könnte, bis der Groschen fällt:
Meinen Sie Ulm?
Sie nickt heftig.
Seit wann sind Sie denn in New York?
Die Frau: Ich bin 1948 in Ulm geboren. Im selben Jahr, 1948, sind meine Eltern hierher gekommen. Ich habe keine eigenen Erinnerungen an Ulm.
Ob Sie in Ulm in einem DP Lager gelebt habe, frage ich. Sie bejaht.
Wo denn ihre Familie zuvor gelebt habe?
Jetzt spricht sie schnell.
Meine Familie ist in Auschwitz umgekommen. Jugoslawien.
Dann, unvermittelt: Is it peaceful now?
Die Frage überrascht mich, ich zögere, was soll ich antworten? Was meint sie genau?
Ich sage: Ja, es ist friedlich. Nicht alles ist gut. Aber insgesamt ist es friedlich.
Dann: Do you talk about it?
Ich ahne, was sie meint, wage nicht nachzufragen.
Ja, wir sprechen darüber. Es gibt Leute, die das nicht wollen. Aber viele tun es.
Der Verkehr staut sich, es geht nur langsam voran.
Der Bus ist eng, wir sitzen nah beieinander.
Ob es an der Stelle war oder erst später im Gespräch, kann ich nicht mehr sagen. Sie fragt: Are you Jewish?
Verblüfft verneine ich. Ich war nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie das annehmen könnte.
Dann auf einmal: Die Deutschen machen die besten Schuhe.
Ich muss mehrmals nachfragen, weil ich es nicht verstehe.
Salamander, sagt sie. Dort machen sie die allerbesten Schuhe.
The Germans are the most intelligent people!
Mir wird unbehaglich.
Das ist so! bekräftigt sie noch mal, und dann:
Deshalb begreife ich nicht, wie sie das tun konnten. Wie das zusammengeht. Solch kluge Philosophen und Künstler und Wissenschaftler! Ich verstehe es nicht.
Ja, es ist nicht zu begreifen, sage ich. Es ist schrecklich.
They lost their heart! sagt sie dann.
Ich nicke: Das ist es ja, was man nicht begreifen kann, dass viele am Tag gemordet haben und am Abend waren sie liebevolle Familienväter.
Brüsk fällt sie mir ins Wort: Das glaube ich nicht! They lost their heart.
Wir schweigen.
Es ist eine körperliche Nähe zwischen ihr und mir, die mich bewegt und beschämt.
Trauer steigt in mir auf, ein paar Augenblicke kämpfe ich mit den Tränen.
Mich streift das Bild, wie mein Großvater das Versteck einer jüdischen Familie in Polen entdeckt und preisgibt. Ob ich sagen soll, dass er bei der Wehrmacht war, dass auch er beteiligt war? Ich sage es nicht.
Noch mehrmals fragt sie eindringlich: Is it peaceful now?
Auch die andere Frage wiederholt sie: Do you talk about it?
Wieder sage ich: Ja, insgesamt ist es friedlich. Es gibt seit ein paar Jahren wieder mehr von denen, die so denken und sprechen wie damals, aber die allermeisten wollen das nie mehr.
Sie fragt nach Ulm.
Ich kenne Ulm gut, sage ich, es ist nicht weit entfernt von da, wo ich lebe.
Dann krame ich in meiner Tasche. Sie fragt, was ich da mache.
Ich suche eine Karte mit meiner Adresse. Wenn Sie einmal nach Deutschland kommen, dann können Sie gern bei uns sein.
Scharf entgegnet sie: Was soll ich mit einer Karte? Ich werde niemals dorthin kommen!
Erschrocken lasse ich von meiner Suche ab. Ob sie immer in Brooklyn gelebt habe?
Ja, ich war immer hier, sagt sie. Ich bin nie von hier weggekommen.
Dann, nachdenklich: Aber vielleicht meine Tochter?
Auch Ihre Tochter ist willkommen. Wie alt ist sie denn?
Noch einmal suche ich nach einer Visitenkarte, habe aber leider keine dabei.
Sie ist 35. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihr. Ich bin gleich da.
Der Bus hält bereits an. Rasch erhebt sie sich.
Wir verabschieden uns mit einem freundlichen Nicken. Dann ist sie weg.
Bis auch wir wenig später aussteigen, sitze ich da wie gebannt.
Bild oben: Williamsburg mit Blick auf die Williamsburg Bridge, Brooklyn, New York, (c) Martin Künzel, licensed under the Creative Commons Attribution 3.0 Unported