„Zehn oder zwölf Leute, alle in SA-Uniformen, sind reingestürmt, von einem Zimmer ins andere gegangen, haben Möbel umgeworfen und versucht, so viel wie möglich zu zerschlagen“…
80 Jahre Pogromnacht – Zeitzeugenberichte aus Nürnberg
Shlomo Schönthal wurde am 19. Januar 1921 als Fritz Schönthal in Nürnberg geboren. Er erinnert sich an eine normale Volksschulzeit. Erst als Schüler am Humanistischen Gymnasium erfuhr Fritz Ausgrenzung, Beschimpfung und Gewalt. Nach der Pogromnacht, Fritz stand kurz vor dem Abitur, wurde er der Schule verwiesen. In der jüdischen Schule in der Oberen Kanalstraße konnte er sich noch berufspraktische Kenntnisse aneignen, bevor er für ein knappes Jahr die Hachschara in Ahrensdorf besuchte. Mit einem Jugendtransport verließ er im Herbst 1940 Deutschland in Richtung Palästina. Endlich in Haifa angekommen, erfuhren die illegalen Einwanderer, dass sie von der englischen Mandatsmacht nach Mauritius deportiert werden sollten. Shlomo Schönthal hatte Glück, er durfte in Palästina bleiben, wurde aber für über ein Jahr in ein Internierungslager gesperrt. Anschließend lebte er in einem Kibbuz. Seine Eltern und seine Schwester Elsbeth wurden im November 1941 nach Riga-Jungfernhof verschleppt und dort ermordet.
Meine Kindheit habe ich in Mögeldorf (Nürnberger Stadtteil) verbracht. Wir wohnten in einer städtischen Genossenschaftssiedlung in der Wagenseilstraße. Ich bin in die örtliche Volksschule gegangen. Wir waren zwei oder drei Juden in der Klasse, genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Die meisten meiner Freunde haben in derselben Straße wie ich beziehungsweise in der näheren Nachbarschaft gewohnt, ich bemerkte zwischen uns keinen Unterschied. Erst 1933 veränderte sich dies. Ich war zu dieser Zeit schon auf dem Humanistischen Gymnasium. Die Schule war direkt an der Stadtmauer. Wenn man damals vom Hauptbahnhof rüber zu den Straßenbahnen und dann über die Brücke und durchs Tor gegangen ist, kam ein riesiger Bau, direkt hinter der Mauer, das war das Humanistische Gymnasium.
Wir mussten zur Pause immer runter in den Schulhof, im Klassenzimmer oder auf dem Flur bleiben, das gab es nicht. Bei jeder Gelegenheit hat man uns in der Pause – aber nur in der Pause – geschlagen; man hat uns in die Ecke gestellt und man hat uns angespuckt. Wenn wir versucht haben, uns zu wehren, war das dann der Grund, uns weiter zu schlagen. Wie viele Mitschüler daran beteiligt waren, weiß ich nicht mehr. Im Klassenzimmer selbst ist – soweit ich mich erinnere – nie etwas vorgekommen.
1934 gab es noch in allen Klassen Juden. Es sind dann im Laufe der Jahre immer weniger geworden. In der 7. Klasse bekamen wir einen Klassenleiter, der war ein Obersturmbannführer der SA. Als Anfang 1938 der Einmarsch in Österreich war, wurden die Schulen in Nürnberg geräumt, um Militär unterzubringen und er hat die Klasse einbestellt, sich in den zwei Tagen verschiedene Museen in Nürnberg anzusehen. Da bin ich am Tag vorher zu ihm gegangen und habe ihm gesagt, seit Jahren nehmen wir an nichts mehr teil außerhalb des Unterrichts. Darauf sagte er: »Bei mir gehören Sie zur Klasse und Sie machen alles mit, was die Klasse macht.« Wir sollten uns am Plärrer treffen; auf dem Weg dorthin sah ich meinen Lehrer. Glücklicherweise lief er auf der anderen Straßenseite, ich wollte auf jeden Fall vermeiden, dass ich ihn mit »Heil Hitler« begrüßen muss. Er hat mich jedoch entdeckt, ist auf meine Seite herübergegangen, und wir haben uns den ganzen Weg normal unterhalten. Dies gab es schon jahrelang nicht mehr. Die Klasse hat uns schon von weitem kommen sehen und mitbekommen, wie wir miteinander geredet haben. Von dem Moment an waren meine Mitschüler wie verändert. Keiner hatte die ganzen Jahre mehr mit uns Juden gesprochen. Ein bisschen abgeschrieben von uns haben sie noch, aber im Grunde genommen hat man uns nicht mehr gekannt. Bis zum 9. November 1938, wo man uns dann aus der Schule entfernt, ja rausgeschmissen hat, behandelte uns ein Großteil der Klasse so, als wenn wir zusammengehört hätten.
Nach der »Kristallnacht« durfte ich ja nicht mehr auf das Humanistische Gymnasium. Über die jüdische Gemeinde habe ich daher versucht rauszubekommen, ob es eine Möglichkeit gibt, das Abitur nachzuholen, schließlich stand ich damals kurz vor dem Abitur. Es gab aber keine jüdische Schule, die dem Humanistischen Gymnasium entsprach. Daher belegte ich in der jüdischen Schule in der Oberen Kanalstraße einen Kurs für technisches Zeichnen. Mein Lehrer sagte: »Es genügt nicht, wenn du nur technisch zeichnest: fang an, handwerklich zu arbeiten.« So habe ich dann eine Schlosserlehre begonnen. Ich lernte ein bisschen schweißen, an den Maschinen und an der Drehbank zu arbeiten, zu sägen, alles, was ein Schlosser können muss.
Nebenbei, ich weiß nicht mehr, wie viele Stunden das waren, habe ich freiwillig in der jüdischen Bibliothek gearbeitet. Ich hatte sogar meinen eigenen Stempel, Fritz Schönthal, mit dem ich die Rückgaben bestätigte.
Dass der Kontakt zu den christlichen Freunden abbrach, hat mich am Anfang nicht so sehr bedrückt. Denn ich hatte ja viele Freunde bei den jüdischen Pfadfindern. Das war eine unpolitische Gruppe, die sich nach der Machtübernahme Hitlers mit dem Habonim vereinigte. Meine Eltern wollten nicht, dass ich zionistisch beeinflusst werde und haben mich deshalb gezwungen, den Habonim wieder zu verlassen. Ich habe mich jedoch weiterhin mit einem großen Teil meiner zionistischen Freunde getroffen. 1935 oder 1936 haben wir in Nürnberg eine Gruppe des Makkabi Hazair gegründet. Unser Versammlungslokal war in einem Gebäude der jüdischen Gemeinde neben der Synagoge am Hans-Sachs-Platz. Da befand sich ein Raum, wo die ganzen Jahre der Jugendgottesdienst abgehalten wurde, und im ersten Stock waren einige Zimmer für die jüdische Jugendbewegung reserviert.
Um 1938 mussten wir aus der Wohnung in Mögeldorf raus und sind dann in die Bucher Straße 17 gezogen, in ein Haus, das in jüdischem Besitz war. Dort lebten noch zwei oder drei jüdische Familien. In der »Kristallnacht«, ich weiß nicht mehr, um wie viel Uhr das war, abends oder nachts, da wurde geläutet und stark an die Türe geklopft; da wussten wir, wie müssen aufmachen. Zehn oder zwölf Leute, alle in SA-Uniformen, sind reingestürmt, von einem Zimmer ins andere gegangen, haben Möbel umgeworfen und versucht, so viel wie möglich zu zerschlagen. Sie haben sich ziemlich beeilt und dabei laut geschrien: »Ihr Juden, ihr Saujuden«. Anschließend sind sie in das nächste Stockwerk in eine andere jüdische Wohnung, da haben sie das Gleiche gemacht. Am nächsten Morgen sind mein Vater und ich früh aus dem Haus und zum christlichen Friedhof in der Nähe, dem Westfriedhof, gegangen. Dort sind wir den ganzen Tag auf und ab gelaufen. Wir wollten beide nicht nach Hause. Wahrscheinlich hatten wir Angst, dass man uns verhaften und schlagen wird oder uns in ein Konzentrationslager bringen würde. Auf jeden Fall sind wir damals den ganzen Tag auf dem Friedhof geblieben. Ich weiß nur noch, dass wir immer darauf geachtet haben, dass man uns nicht entdeckt. Wir hatten ja keine Ahnung, was sich in der Stadt tat.
In dem Haus in der Bucherstraße 17 wohnte im ersten Stock der Besitzer eines Bekleidungsgeschäfts, er hat sich uns gegenüber sehr, sehr anständig benommen. Wie ich auf Hachschara ging, habe ich von ihm ein Paar Hosen bekommen. Denn direkt nach Kriegsausbruch durften Juden keine neuen Sachen mehr kaufen. Das waren braune Hosen, aber nicht wie die von der SA, sondern ein anderes Braun, und schwarze Schaftstiefel sowie schöne Decken, die es sonst gar nicht gab. Bevor ich nach Palästina gefahren bin, habe ich noch einen herrlichen Rucksack bekommen, neu, der sich in drei Teile öffnen ließ, und auf dem man sehr schön die Decken anschnallen konnte.
Um die Jahreswende 1939/40 wurde ich von der zionistischen Jugendorganisation nach Ahrensdorf auf Hachschara geschickt. Wir mussten bei den Bauern helfen. Fast alle haben uns sehr gut aufgenommen. Man gab uns gut zu Essen und das zu einer Zeit, wo die Juden schon weniger zu essen bekamen. Wir waren vielleicht 30 bis 35 Jungens, die dort gearbeitet haben. Wir sind jeden Tag auf der Hauptstraße durchs Dorf marschiert und haben laut hebräische Lieder gesungen. Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, dass man dies im 1. Kriegsjahr mit einer Selbstverständlichkeit tun konnte. Während unseres Aufenthalts kam zweimal die Gestapo. Aber es gab lediglich einen Appell: Sie riefen unsere Namen auf und wir antworteten. Dann sind sie wieder weggefahren. Deshalb konnten wir uns bei unserer Abreise im Herbst 1940 überhaupt nicht vorstellen, was in Deutschland noch alles passieren sollte. Meine Eltern wären allerdings auch bereit gewesen, nach Palästina zu gehen, nur um aus Deutschland raus zu kommen. Aber unser Transport war vom Hechaluz organisiert, von der jüdischen Jugendbewegung. Von den rund 500 Personen waren vielleicht 40 oder 50 älter, Erwachsene, aber nicht in dem Alter meiner Eltern. Das waren vermutlich auch Leute, die entsprechende Summen zahlen konnten. Denn so ein Transport muss enorm viel gekostet haben. Ich persönlich habe zwar nichts gezahlt, ich weiß nicht, ob die jüdische Gemeinde für mich bezahlt hat oder wie viel man von meinen Eltern verlangt hat.
Meine Eltern und ich dachten zu dieser Zeit, dass ich einem viel, viel gefährlicheren Schicksal entgegengehe als sie, die in Deutschland blieben. Denn die illegale Einwanderung nach Palästina, die Donau entlang, der weite Weg übers Schwarze Meer und Mittelmeer, dies fanden wir viel gefährlicher. Wir wussten ja auch nicht, in welchem Zustand die Schiffe waren. Das heißt, damals war ich der Bedauernswerte.
In Gruppen sind wir nach Wien gekommen, wo wir dann insgesamt etwa 4.000 Personen waren. Wir wurden in schöne Hotels einquartiert, in 2- oder 3-Bettzimmern. Aber auf einen Befehl Eichmanns mussten wir diese wieder verlassen und wurden auf Matratzenlager in jüdischen Schulen untergebracht. Nach etwa drei Wochen gingen wir auf die Donauschiffe, natürlich nicht in Kabinen. Man hat uns unter Deck zusammengepfercht, ein Großteil von uns hat oben auf dem Deck gelegen. Unsere Fahrt ging die Donau runter bis zum Schwarzen Meer. Dort warteten dann drei andere Schiffe auf uns, richtige seetaugliche Schiffe. Wir waren über 1.000 Menschen an Bord. Vor Bulgarien kamen wir durch einen Sturm vom Kurs ab. Dann fuhren wir über das Marmarameer, die Ägäis, dann Richtung Zypern und schließlich nach Erez Israel. Nach rund zwei Monaten sind wir im Hafen von Haifa angekommen. Die Stimmung auf dem Schiff war gut, denn wir wussten ja nicht, dass uns die Engländer schon längst, längst gesehen hatten und uns schon geraume Zeit verfolgten. Sofort ist britische Polizei auf das Schiff gekommen und die Boote der Polizei haben uns ständig umkreist, sodass wir keinerlei Kontakte nach außen aufnehmen konnten. Im Hafen selbst lag ein großes Schiff, die Patria, da hat man dann die Leute von unserem Schiff und von dem nächsten Schiff, das kam einige Tage später, mit kleinen Booten hingebracht. Das war ein Riesenschiff, mit Polizei und Militär, mit Luftabwehr usw. Interessant war, dass die britischen Soldaten uns sehr angenehm behandelt haben, sofern sie mit uns in Kontakt kamen, im Gegensatz zu den Mitarbeitern der englischen Mandatsbehörden. Dann hat sich herausgestellt, dass wir nach Mauritius deportiert werden sollten. Wir konnten dagegen nichts machen. Wir haben zwar demonstriert, wir haben gerufen, wir haben geschrien, aber wir hatten ja keinerlei Möglichkeiten. Inzwischen gab es Kontakt zwischen unseren führenden Leuten und der Hagana. Die Hagana hatte vor, das Schiff zu sprengen. Nicht um es zu versenken, sondern damit man uns nicht deportieren kann und in der Zwischenzeit sollte verhandelt werden. Die Bombe war jedoch viel zu stark, sodass bei der Sprengung, am 25. November1940, ein viel, viel größeres Loch entstanden ist als erwartet und das hat das Schiff zum Umkippen gebracht. Die Idee war eigentlich gewesen, das Schiff vorläufig am Auslaufen zu hindern; dabei sind dann über 200 Menschen umgekommen. Ich bekam mit noch vielen anderen die Anweisung, auf ein Zeichen hin über Bord zu springen, zehn Meter tief ins Wasser. Als ich die Explosion gehört habe, bin ich gesprungen. Ich hatte Angst, dass mich die offiziellen britischen Boote aufnehmen. Aber ich bin dann von einem arabischen Boot aufgefischt worden, das eigentlich Essen zum Schiff bringen sollte, wir sind aber erst an Land gebracht worden. Dort war dann kein Militär, aber Polizei. Man hat uns zu essen gegeben und uns dann für etwa ein Jahr in ein Internierungscamp gebracht. Diejenigen, die man als erste aus dem Wasser gefischt hat, brachte man vorher für ein paar Tage nach Haifa ins Gefängnis, weil man geglaubt hat, die wussten von der ganzen Sache: denn wieso sind die im Wasser gewesen, noch bevor das Schiff explodiert ist. Ich wurde 13 Monate interniert, aber aus einem ganz anderen Grund. Ich hatte bei den Verhören angeblich falsche Namen angegeben: einmal Schönthal und einmal Simontal, weil die Engländer das falsch aufgeschrieben haben. Jedenfalls war ich verdächtig.
Auf dem Schiff habe ich alle meine Sachen verloren, die Adressen, die Bilder, die ich von zu Hause mitgenommen hatte. Ich besaß nur noch 10 Dollar.
1942 bin ich mit anderen meiner Gruppe in einen Kibbuz gekommen, in dem überwiegend Polen waren. Als wir erste Informationen aus Deutschland über die Gräueltaten erhielten, haben wir das nicht geglaubt! Man konnte sich nicht vorstellen, dass so etwas wie die Shoa möglich sein könnte. Dass es 1938 schon die ersten Vertreibungen der nicht-deutschen Juden gab, das haben wir zwar gehört, aber wollten es nicht wahrhaben. Man hat sie eben zurückgeschickt nach Polen. Als ich mich von meinen Eltern verabschiedet habe, war ich mir sicher, dass wir uns nach dem Krieg wiedersehen würden. Man hat sich das, was dann später geschah, einfach nicht vorstellen können. Als alles ans Licht kam, das ganze Ausmaß der Shoa, da habe ich Trauer gefühlt, Trauer und Hass.
Ich hatte noch eine Zeit lang Briefkontakt mit meiner Familie. Zwei oder drei Rot-Kreuz-Briefe habe ich erhalten, ich weiß aber nicht, inwieweit meine Rot-Kreuz-Briefe die Eltern noch erreicht haben. Den ersten Rot-Kreuz-Brief, den ich in Palästina bekam, hatte mein Vater mit meinem Datumsstempel gekennzeichnet. So habe ich damals gewusst, dass mein Vater noch in der jüdischen Bibliothek arbeitet, denn ich hatte ihm – bevor ich wegging – dort eine Arbeit vermittelt.
Mein Vater Benno, meine Mutter Hedwig und meine Schwester Elsbeth wurden am 29. November 1941 deportiert. Das weiß ich erst jetzt seit 1998, seit ich das Gedenkbuch von der Stadt Nürnberg bekommen habe. Nach dem Krieg wusste ich nur, dass sie vertrieben wurden. Als ich das erste Mal 1965 in Nürnberg war, hat mir eine Tante aus der katholischen Verwandtschaft, die wir hatten, erzählt, dass sie meine Eltern noch zum Bahnhof gebracht hat.
Ich habe keine jüdischen Verwandten mehr, ohne Ausnahme. Meine Eltern, meine Schwester als auch die Geschwister meiner Mutter und meines Vaters sind alle umgekommen! Niemandem ist es gelungen, aus Deutschland herauszukommen. Das ist ein sehr, sehr schlimmes Gefühl, keinerlei Verwandte mehr zu haben. Wenn man noch Angehörige hat, dann kann man Erinnerungen austauschen, aber ich habe ja niemanden mehr, mit dem ich darüber sprechen kann. Und meine Kinder sind aufgewachsen mit dem Bewusstsein, dass sie keine Großeltern haben.
Das Interview wurde im Mai 1999 in Kiriat Bialik (Israel) geführt. Auszug aus dem von Jim G. Tobias herausgegebenen Lesebuch, »… und wir waren Deutsche!« Jüdische Emigranten erinnern sich, Nürnberg 2009.