Der Riss durchs Geschlecht

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Geschlechtlichkeit bleibt ein Thema trotz der vielbeschworenen Fortschritte in den modernen Gesellschaften: Der individuelle, jedem Menschen ganz eigene Konflikt mit der Entdeckung des eigenen Körpers beim Erwachsenwerden, mit dem Begehren nach und von Anderen und mit dem Erleben von Nähe und Distanz ist umgeben von einem dichten Netz von Werten und Normen mit ihren entsprechenden Sanktionen, welche wiederum selbst Gegenstand gesellschaftlicher Konflikte sind…

Es geht ein Riss durchs Geschlecht, wie auch das Geschlecht Risse durch das Subjekt schlägt. Ein irreduzibler Rest bleibt übrig und reibt sich fortwährend an den gesellschaftlichen Konventionen.
Aus der Einleitung

Von Max Rudel

In dem heutigen spürbaren Backlash brüskieren sich Rechte, Konservative, Antifeministen und Maskulinisten offen über die erworbenen Freiheiten von Frauen oder Homosexuellen, kritisieren Gender-Forschung an Universitäten und proklamieren eine Rückkehr zu traditionellen Geschlechtervorstellungen. Auf der anderen Seite greifen die verschiedenen Ausprägungen von Feminismus ebenfalls in vielfältiger Weise auf das Geschlecht zu und regen den öffentlichen Diskurs an. Ob das Familienbild der rechten Parteien, die Forderung nach dem Verbot von Abtreibungen der Organisatoren des Marsches für das Leben oder die #MeToo-Debatte „es wird laut und nicht selten hitzig diskutiert über Mütter, Frauenquoten, Toilettenzeichen oder Unterstriche.“

Es ist eben dieser individuelle und doch gesellschaftliche Konflikt, der die Herausgeber*innen motiviert hatte, an der Universität-Frankfurt eine Veranstaltungsreihe zu diesem Thema zu organisieren und mit dem Rückgriff auf die zeitgenössische – und leider universitär-marginalisierte – feministische Freud-Rezeption einen reflektierten Einblick auf das Wechselspiel zwischen Individuum und Gesellschaft zu erhalten, welcher sich klar von den aktuellen reaktionären Tendenzen unterscheidet. Das Buch soll diese Beiträge einem größeren Publikum zugänglich machen und den heutigen Stand der beinahe hundertjährigen Auseinandersetzung mit dem freudianischen Geschlecht in drei Teilen abbilden.

Im ersten Teil zum Thema Sozialisationprozesse geht es um Vergeschlechtlichung aus psychoanalytischer Perspektive und wie Psychoanalyse und feministische Anliegen gegenseitig fruchtbar gemacht werden können. So zeichnet Barbara Rendtorff die Missverständnisse und sinnvollen Verbindungen zwischen Feminismus und Psychoanalyse nach, Nadine Teuber liefert in Anlehnung an Laplanche einen Überblick zur Vergeschlechtlichung während Charlotte Busch sich mit psychoanalytischen Ansätzen in der pädagogischen Mädchenarbeit beschäftigt. Der zweite Teil „Positionsbestimmungen“ beleuchtet das Zusammendenken der beiden heterogenen und sich selbst jeweils im Wandel befindenden Theorietraditionen Feminismus und Psychoanalyse. Hier schreiben neben der Adorno-Schülerin und Gründerin des Hannoveraner Ansatzes Regina Becker-Schmidt noch Tove Soiland, Julia König und Nora Ruck über verschiedene feministische Rezeptionen von Freud und tragen zu einer Reaktualisierung der feministischen Psychoanalyse bei: Becker-Schmidt liest unter anderem mit Luce Irigarays die patriarchalen Strukturen der heutigen Gesellschaft, Soiland fragt warum sich eine neo-patriarchale Herrschaft in einer vermeintlich postödipalen Situation weiter erhält, König setzt Alfred Lorenzer und Judith Butler in ein produktives Verhältnis und Ruck fordert das Konzept der Intersektionalität in die psychologische Forschung aufzunehmen. Teil drei „Normierungen“ setzt sich mit konkreten Geschlechterkonventionen und deren gesellschaftlichen Praktiken und Diskursen auseinander wie Sebastian Winter über Vaterschaft, Ann-Madeleine Tietge über heteronormativ-kritische Paare, Mira Kaszta und Simon Reutlinger über ihre Forschung zu intergeschlechtlichen Menschen und Tom Uhlig und Max Rudel über den Essenzialismus des Antifeminismus.

Charlotte Busch, Britta Dobben, Max Rudel, Tom David Uhlig (Hg.), Der Riss durchs Geschlecht. Feministische Beiträge zur Psychoanalyse, Psychosozial-Verlag 2018, 237 S., Euro , Bestellen?

INHALT UND LESEPROBE