Ein Denkmal für das jüdische Leben in Warschau um 1900

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Abraham Teitelbaums „Warszewer Hejf“ erstmals in deutscher Übersetzung…

„Mein erster Besuch bei I. L. Peretz ist schon über vierzig Jahre her“, schreibt Abraham Teitelbaum in den Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend und fügt nicht ohne Koketterie hinzu: „Da es mir vergönnt worden ist, dass ein paar Strahlen seiner leuchtenden Persönlichkeit auf mich fielen, steht es mir nicht zu, diese für mich zu behalten.“ Teitelbaum verehrte sein großes Vorbild, Isaak Leib Peretz, einem der Giganten der jiddisch-sprachigen Literatur, er schätzte ihn aber auch als Lehrer und nahm bei ihm Schauspielunterricht.

Schon in jungen Jahren zog es den 1889 in Warschau geborenen Teitelbaum zum Theater hin. Nach frühen Erfahrungen auf jiddischen Bühnen in Warschau trat er anschließend bei Gastspielen in Paris, London und Buenos Aires auf. Nach dem Ersten Weltkrieg verschlug es Teitelbaum in die USA, wo er die Leitung der „Peretz-Society Drama Studios“ übernahm. Obwohl er in zahlreichen Theatern in Chicago, Philadelphia oder New York spielte, führte ihn sein Weg immer wieder zurück in seine Heimat.  

Zum Anfang der 1930er Jahre entwickelten sich in Polen erste zarte Pflänzchen des jiddisch-sprachigen Tonfilms. Nachdem sich Jiddisch als Literatursprache etabliert hatte, war der Erfolg des jiddischen Kinos mehr oder weniger zwangsläufig. Auch in den USA, wo ausnahmslos Mameloschn in den jüdischen Einwanderervierteln von New York, Chicago oder Los Angeles gesprochen wurde, wartete ein großes Publikum ungeduldig auf „a jidisz Wort“ – auch auf der Leinwand. Teitelbaum ergriff die Chance und wurde mit Rollen in den Filmen „Tswaj Techter“ und „Der wandernder Jid“ belohnt. Nebenbei arbeitete er als Essayist und Theaterkritiker, verfasste einige literarische Schriften wie etwa „Fun mejne Wanderungen“ und die Biografie „Wiljam Szekspir“ über den weltberühmten englischen Schriftsteller.

Seine „Warszewer Hejf“ erschienen 1947 in der bedeutenden Reihe „Dos pojlisze Jidntum“, die ab 1946 vom Zentralverband der Polnischen Juden in Argentinien herausgegeben wurde. Da in der Hauptstadt Buenos Aires eine große jiddisch-sprachige Bevölkerung lebte, waren die Bände in nahezu allen jüdischen Haushalten zu finden, aber auch in New York und London – eben überall dort, wo jiddisch gesprochen wurde. Literaten und Journalisten wie Schalom Asch, Max Weinreich, Mordechaj Strigler, Elie Wiesel oder Isaak Leib Peretz veröffentlichten ihre Werke in dieser Edition. Abraham Teitelbaums „Warschauer Höfe“ erschien bereits als Nummer 23 der Reihe, die es bis zu ihrer Einstellung im Jahr 1966 auf insgesamt 175 Bände brachte.

70 Jahre nach seinem Tod am 16. Oktober 1947 im Alter von nur 58 Jahren, liegen Abraham Teitelbaums Jugenderinnerungen an seine Geburtsstadt Warschau nun endlich in deutscher Sprache vor. Ergänzend werden in einem umfangreichen Fußnotenapparat jiddische Begriffe sowie historische Personen und Sachverhalte sachkundig kommentiert.

Teitelbaums autobiografische Texte sind eine Hommage an das jüdische Warschau und die Blüte der jiddischen Kultur in Polen. In zehn Kapiteln erzählt der Autor vom Alltagsleben in den Straßen und Hinterhöfen der Stadt, er lässt das bunte Treiben von Händlern, Dieben, Schauspielern, Revoluzzern, Hausfrauen, Jugendbanden, Schriftstellern oder Rabbinern vor unserem geistigen Auge wieder entstehen. Ein Lichtstrahl in eine längst vergangene Zeit und ein Rückblick in eine für immer vernichtete Welt. Eine spannende Lektüre – nicht nur für lange Winterabende. – (jgt)

Abraham Teitelbaum, Warschauer Innenhöfe. Jüdisches Leben um 1900 – Erinnerungen, herausgegeben von Frank Beer, Wallstein Verlag Göttingen 2017, 234 Seiten, 10 historische Abb., 24,90 €, Bestellen?

Bild oben: Cover der jiddischen Originalausgabe von 1947, Repro: aus dem besprochenen Band