Rund 35.000 Flüchtlinge aus dem Sudan und Eritrea leben in Israel. Dort werden sie als „Eindringlinge“ bezeichnet und sollen nun verstärkt abgeschoben werden…
Von Ralf Balke
Wer durch den kleinen Levinsky Park oder die Neve Sha’anan Straße nahe des alten Busbahnhofs im Süden Tel Avivs geht, kann sich selbst ein Bild von der Situation machen. Innerhalb weniger Jahre hat sich die Gegend zu einem Hotspot für Flüchtlinge aus Afrika entwickelt. Überall sind kleine Geschäfte für Billig-Mobiltelefone, Second-Hand-Möbel oder Internet-Cafés entstanden, die gleichfalls von Migranten betrieben, auf die Bedürfnisse und begrenzten Mittel von Flüchtlingen ausgerichtet sind. Darüber hinaus buhlen zahlreiche Sexshops und als Massage-Salons camouflierte Mini-Bordelle um Kundschaft. Und die kommt aus der ganzen Stadt samt Umland.
Schon früher galten die südlichen Stadtteile Shapira oder Hatikvah als die Problemviertel von Tel Aviv. Kriminalitätsrate und Arbeitslosigkeit waren für israelische Verhältnisse relativ hoch. Die Polizei dagegen zeigte lange kaum Flagge und der Wohnraum ist immer noch vergleichsweise günstig – optimale Bedingungen also für Menschen, die möglichst wenig Kontakt mit staatlichen Behörden haben wollen, weshalb sich sich viele Flüchtlinge und Migranten aus Afrika oder Asien auch dort niederließen. Das verschärfte die ohnehin schwierige Situation und nicht wenige der ursprünglichen Bewohner von Shapira oder Hatikvah gehen mittlerweile auf die Barrikaden. Sie machen die Zuwanderer für die weitere Verslumung des Südens Tel Avivs verantwortlich, beklagen sich über steigende Kriminalität und fühlen sich generell verunsichert. In zahlreichen Demonstrationen trugen sie in der Vergangenheit ihren Unmut bereits in die Öffentlichkeit, wobei oft auch rassistische Töne fielen. Auf einer davon tauchte 2012 die jetzige Ministerin Miri Regev auf und sagte: „Die Eindringlinge sind wie ein Krebs in unserem Körper.“
Genau diese Stimmung versucht jetzt die Politik für ihre Ziele zu instrumentalisieren. Denn nun sollen so viele Flüchtlinge wie möglich abgeschoben werden. Erst im September stellte sich Ministerpräsident Benjamin Netanyahu vor Ort mit einer älteren Israelin, die in Shapira lebt und erklärte, aufgrund der vielen Afrikaner nun Angst zu haben, abends das Haus zu verlassen, medienwirksam vor die Kameras. „Wir werden den Süden Tel Avivs den Bürgern Israels zurückgeben“, versprach er und fügte hinzu, dass es sich bei den meisten Menschen dort „nicht um Flüchtlinge, sondern um illegale Eindringlinge“ handeln würde.
Damit benutzte er gleichfalls das Wort, mit dem alle Politiker seit Jahren die ungeliebten Flüchtlinge bezeichnen: Eindringlinge. Faktisch mag es stimmen, dass die Mehrheit von ihnen die Grenze – zumeist mit Hilfe von beduinischen Schlepperbanden – illegal überschreitet. Und anders als in Europa kommen nicht wenige dieser Menschen aus Staaten, mit denen Israel entweder keine diplomatischen Beziehungen pflegt oder sich wie im Falle des Sudans sogar offiziell im Kriegszustand befindet. Das macht die Sache nicht einfacher.
Am 19. November beschloss das Kabinett einstimmig die Schließung von Holot, einem Internierungscamp im südlichen Negev, wohin man viele der Flüchtlinge zwangsweise untergebracht hatte – teils unter katastrophalen Bedingungen und ohne Asylverfahren, was immer wieder zu Protesten seitens der Insassen als auch israelischer Menschenrechtsorganisationen geführt hatte. Im August erst hatte der Oberste Gerichtshof auf einen Antrag zweier Asylbewerber aus Eritrea sowie zahlreicher NGOs entschieden, dass niemand für länger als 60 Tage dort untergebracht werden darf. Nach geltender Rechtsprechung war es bis dahin möglich, ausländische Staatsangehörige so lange in Gewahrsam zu halten, bis sie überzeugt worden sind, das Land „freiwillig“ zu verlassen. Damit schränkten die Obersten Richter die Möglichkeiten des Staats ein, all jene los zu werden, die sich gegen eine langfristige Internierung zur Wehr setzen. Aber gegen eine Abschiebung in ein Drittland hatte das Gericht keinerlei Einwände. Und die Regierung reagierte auf das Urteil, in dem sie Holot kurzerhand dicht machen will und auf die Flüchtlinge weiteren Druck ausübt. Und dafür gibt es bereits einen Plan.
Bis Mitte März sollen die allermeisten Afrikaner das Land verlassen. „Die Eindringlinge habe die Option, freiwillig zu gehen oder ins Gefängnis zu kommen“, droht Gilad Erdan, Minister für öffentliche Sicherheit. Dabei geht es vor allem um zwei Gruppen von Flüchtlingen, und zwar den offiziell zum 30. Juni 2017 registrierten 27.494 Eritreärn und 7.869 Sudanesen. Sie sollen – wenn es nach dem Wunsch der Regierung geht – zum Teil Richtung Ruanda abgeschoben werden. Auf seinem Treffen mit afrikanischen Staatschefs dieser Tage in Nairobi hatte Netanyahu nach einer Begegnung mit Präsident Paul Kagame angekündigt, in der Hauptstadt Kigali eine Botschaft Israels zu eröffnen. Auch von einer direkten Flugverbindung ist die Rede. Zudem soll ein Deal zustande gekommen sein, in dessen Rahmen Ruanda für die Aufnahme von jedem aus Israel abgeschobenem Flüchtling 5.000 Dollar erhält. Eine Zahl von 10.000 Personen wäre ihr Land bereit zu akzeptieren, so Ruandas Außenministerin Louise Mushikiwabo.
Wie das Ganze in die Realität umgesetzt werden soll, darüber gibt es noch keine konkreten Vorstellungen. Bereits 2014 hatte Israel einmal Asylbewerber nach Ruanda abgeschoben. Dort angekommen, erfuhren sie keinerlei Unterstützung, sondern wurden teilweise direkt weiter nach Uganda vertrieben, wie eine Recherche von Haaretz zutage förderte. „Sowieso sollte kein Mensch ohne vorheriges Asylverfahren aus Israel wieder vertrieben werden“, fordert Melanie Nezer, Vizepräsidentin der jüdischen Hilfsorganisation HIAS in New York. Ob das eine gute Idee ist, darf bezweifelt werden. Laut United Nations High Commission for Human Rights hat das Land seit 2009 gerade einmal acht Personen aus Eritrea sowie zwei Sudanesen offiziell als Asylanten anerkannt. 200 weiteren Personen aus der Bürgerkriegsregion Darfur bekamen ein Bleiberecht aus humanitären Gründen. Ganz offensichtlich hat man das Verhalten von Netanyahus Vorgänger im Amt, Menachem Begin, vergessen. Als dieser in den 1970er Jahren von dem Schicksal der vietnamesischen Boat People hörte, orderte er aus reiner Empathie heraus sofort die Aufnahme von fast 400 Flüchtlingen an. Sie alle wurden Israelis.
So mancher Gastronomiebetrieb in Tel Aviv wird wohl vor Probleme gestellt, wenn die Afrikaner, die die unterbezahlten Jobs in der Küche übernommen haben, plötzlich alle weg sind. Auch in Shapira und Hatikvah gibt es kritische Stimmen. „Die Viertel waren schon lange vernachlässigt worden, bevor sich hier überhaupt ein Afrikaner blicken ließ“, so Inbal Egoz, die in Shapira geboren und aufgewachsen ist und sich seit langem in einer NGO für die Verbesserung der Lebensbedingungen dort einsetzt. „Und nun tut die Regierung so, als ob die Flüchtlinge für die schlimme Situation alleine verantwortlich seien.“ Für sie wie auch viele andere ist das propagandistischer Unfug. Kaum einer glaubt, dass sich die Region plötzlich in eine Idylle verwandeln wird, so bald die Afrikaner verschwunden sind. Allenfalls droht danach die Gentrifizierung.
Bild oben: Demonstration von Flüchtlingen am Rabin Platz in Tel Aviv, Januar 2014, (c) BlueHorizon