Trotz der Zusage, die staatlichen Hilfen für Menschen mit Behinderungen aufzustocken, gehen die Demonstrationen in Israel weiter…
Von Ralf Balke
Mit Rollstühlen, Krücken und Rollatoren auf die Barrikaden zu gehen, ist bekanntlich nicht ganz einfach. Also griffen Dutzende von Israelis mit Behinderungen zu anderen Mitteln, um auf ihre prekäre Situation aufmerksam zu machen. Weil sie je nach Grad der körperlichen Einschränkungen maximal nur 2.342 Schekel (ca. 560 Euro) staatliche Unterstützung erhalten, trugen sie ihren Protest im wahrsten Sinne des Wortes auf die Straße und blockierten in den vergangenen Monaten gleich mehrfach zentrale Verkehrsachsen des Landes.
„Seit Jahren bereits weigert sich die Regierung, die Sozialleistungen für uns aufzustocken“, so Eyal Cohen, Vorsitzender der Aktivistengruppe „Behinderte Panther“ und aufgrund einer massiven Herzschwäche selbst auf einen Rollstuhl angewiesen. „Sie interessieren sich einfach nicht für uns. Bis dato hatte nichts geholfen, weder Demonstrationen und Telefonate, noch die vielen Schreiben an die Knesset-Abgeordneten. Es war so, als würden wir einfach nicht existieren.“
Um das Gegenteil zu beweisen und sich Gehör zu verschaffen, fingen Cohen und seine Mitstreiter an, Straßen zu blockieren. Die Aktionen gingen im März los, nachdem ein Knesset-Ausschuß zum dritten Male sich geweigert hatte, die Hilfen für sie wenigstens auf das Level des Mindestlohns anzugleichen. Und sie produzierten mit ihren Aktionen genau die unschönen Bilder und Videos, die nötig waren, um sich in die Diskussion zu bringen und die Politik endlich zum Handeln zu zwingen.
Obwohl sie riesige Staus provozierten und der Verkehr vielerorts lahm gelegt wurde, zeigten die meisten Israelis viel Verständnis für die Verzweiflung der Behinderten. Schließlich sind dies nicht die ersten sozialen Proteste und jeder kennt die Probleme mit den exorbitanten Lebenshaltungskosten im Lande nur zu gut. „Ich bin deswegen nicht wütend oder sauer“, meinte beispielsweise die 25-jährige Nikola Rostobich aus Hadera, die auf der Stadtautobahn Ayalon fest hing, weil Rollstuhlfahrer auf der Keren Kayemet-Kreuzung demonstrierten. „Wenn es das ist, was ihnen hilft, bleibe ich halt so lange hier, wie es nötig ist – obwohl ich dringend zur Arbeit müsste.“ Auch der 64-jährige Taxifahrer Ilan Nisht aus dem Moschav Ahituv zeigt Sympathien für die Demonstranten. „Zwar erleide ich dadurch finanzielle Einbußen, aber ich stehe hinter ihrem Protest.“ Begleitet wurden die Proteste durch eine Kampagne des Gewerkschaftsverbands Histadrut. „Wir lassen die Behinderten nicht allein!“ Dieser Slogan stand auf Werbeflächen oder in Zeitungsanzeigen geschrieben.
Pünktlich vor Beginn von Yom Kippur kam es deshalb nach einer zwölfstündigen Marathonsitzung mitten in der Nacht zum Freitag auch zu einer Einigung zwischen Repräsentanten der Behinderten und der Histadrut auf der einen Seite sowie Professor Avi Simhon, Vorsitzender des Nationalen Wirtschaftsrates und damit Vertreter der Regierung, auf der anderen Seite. Die Sozialleistungen für diese Bevölkerungsgruppe von immerhin 880.000 Personen sollen nun endlich erhöht werden.
Der monatliche Höchstsatz soll künftig für Behinderte, die ständig medizinische Betreuung brauchen und arbeitsunfähig sind, 4.500 Schekel (ca. 1.130 Euro) betragen. Diesen erhalten natürlich nur die wenigsten. Wer noch einem Job nachgehen kann, und das sind die allermeisten, wird nunmehr abhängig vom Grad der Behinderung sowie dem Lohn zwischen 2.100 Schekel (ca. 500 Euro) und 4.050 Schekel (ca. 960 Euro) Transferleistungen im Monat beziehen können. Zuvor waren es zwischen 1.405 Schekel (ca. 330 Euro) und 2.343 Schekel (ca. 560 Euro). Auch haben Behinderte, die weniger als 4.300 Schekel (ca. 1.020 Euro) im Monat verdienen, fortan Anspruch auf finanzielle Hilfen, bisher lag diese Grenze bei 2.800 Schekel (ca. 660 Euro). So weit, so gut – zumindest auf dem ersten Blick.
„Das ist eine historische Übereinkunft, die das Leben von Menschen mit Behinderungen in Israel deutlich verbessern wird“, erklärte denn auch Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nach Yom Kippur. Seine Regierung wird dafür im kommenden Jahr, wenn die neuen Regeln gelten sollen, zusätzliche 4,2 Milliarden Schekel (ca. 1,0 Milliarden Euro) aus dem Staatshaushalt zur Verfügung stellen. Auch Avi Nissenkorn, Vorsitzender der Histadrut, reagierte euphorisch: „Wir haben Geschichte gemacht.“ Ebenso zeigte sich Alex Friedman, Journalist und einer der Hauptakteure bei den Protesten, überzeugt von den Ergebnissen.
Ob das alles nun wirklich historisch ist oder nicht, das wird sich noch herausstellen. Zum einen haben die Vertreter der religiösen Parteien bereits angekündigt, diesen Deal nicht mittragen zu wollen – sehr wahrscheinlich befürchten sie, dass die zusätzliche Belastung des Staatshaushalts auf Kosten von Transferleistungen für ihr Klientel gehen könnte. Zum anderen sehen Gruppen wie die „Behinderten Panther“ ihre Kernforderung immer noch nicht erfüllt. Sie wollten schließlich eine Anhebung der Hilfen für Menschen mit Behinderungen auf dem Niveau des Mindestlohns in Israel. Und der beträgt aktuell rund 5.000 Schekel (ca. 1.200 Euro) und keine 4.500 Schekel (ca. 1.130 Euro).
„Wir machen also weiter wie bisher“, kündigte deshalb Eyal Cohen unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Ergebnisse der Marathonsitzung, zu denen er nicht als Verhandlungspartner eingeladen war, an. „Das Abkommen, das um vier Uhr morgens unterzeichnet wurde, ist ein Verrat an allen Menschen mit Behinderungen. Niemand wurde darüber richtig aufgeklärt.“ Prompt blockierten sie am Sonntag die HaSira-Kreuzung nahe Herzelya auf der Küstenautobahn und erneut den Ayalon. Diesmal kam es auch zu Handgreiflichkeiten mit der Polizei.
Kritikpunkte gibt es in der Tat einige: Die Aufstockung erfolgt nicht etwa in einem Rutsch, sondern sukzessive in vier Phasen bis zum Jahre 2021. Auch weiss niemand, ob die Übereinkunft auch wirklich von der Knesset problemlos durchgewunken wird. „Zudem sind die größten Hindernisse, mit denen Behinderte zu kämpfen haben, wenn sie arbeiten wollen und sich damit in das Erwerbsleben zu integrieren versuchen, immer noch nicht beseitigt“, kritisiert Oren Helman, Aktivist einer NGO, die sich für entsprechende Maßnahmen einsetzt. „Wenn man nur ein paar Schekel mehr als die 4.300 Schekel im Monat verdient, verliert man sofort alle Ansprüche auf staatliche Hilfen.“ Und das können umgerechnet schnell einige hundert Euro sein.
Eine Entwarnung gibt es also für Israel ohnehin gestresste Autofahrer noch lange nicht. Protestierende Menschen in Rollstühlen oder mit Krücken und Rollatoren dürften auch in nächster Zeit für zusätzliche Staus auf den Straßen sorgen.
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