Was und für wen sind Gedenkstätten?

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Mein Kind geht in einem Zwangsarbeiterlager in den Kindergarten. Das ist völlig in Ordnung. Noch…

Von Ruth Zeifert

Natürlich ist es heute ein ehemaliges Zwangsarbeiterlager. Seit 1942 steht es in München. In den sechs Lagerbaracken waren über 300 Gefangene aus Russland, Weißrussland, der Ukraine, Polen, Italien, den Niederlanden und Frankreich unter katastrophalen Umständen inhaftiert, um bei der ‚Reichsbahn‘ Zwangsarbeit zu leisten. Nach dem Krieg wurde es zur Flüchtlingsunterkunft und schließlich, verkürzt beschrieben, siedelten sich seit den 1980iger Jahren Handwerker und Künstler, eine von der Stadt unterstützte Kinder- und Jugendfarm und eben jener Kindergarten dort an. In diesen letzten 40 Jahren entwickelte sich hier eine Gemeinschaft und eine grüne Oase, in der kreativ und friedvoll gewerkelt und gelebt wird.

Als der Kindergarten meiner Tochter einen Platz anbot, sass ich lange auf dem Gelände und überlegte vor der Kindergartenbarracke unter leuchtend grünen Bäumen in blauer Frühlingsluft mit viel Vogelgezwitscher, ob das reale Leben auf diesem Platz präsenter für mich würde sein können als die immer wieder aufkommenden szenischen Erinnerungen von etwa Zwangsarbeitern, die in ihren schmutzigen Häftlingsuniformen unterkühlt, hungrig und perspektivlos über den Schotterweg marschieren. Denn als Enkelin „der Verfolgten“ begegne ich ohnehin täglich den Gespenstern der nationalsozialistischen Vergangenheit und des Holocaust. Mit diesen Bildern dauerhaft meine Tage zu beginnen, wäre nicht auszuhalten. Auf diesem Gelände aber sind die Atmosphären einer Gemeinschaft, von sozialem Engagement, von Naturverbundenheit und Freigeist etwa vorherrschend. Auch nach intensiver Abwägung übertraf dieser Ort also für mich bemerkenswerterweise alle angesehenen Kindergärten. Seither gebe ich mein Kind täglich in einem ehemaligen Zwangsarbeiterlager ab. Und ich freue mich jeden Tag darauf!

Nun erwarb die Stadt München das Gelände und arbeitet mit dem NS Dokumentationszentrum daran. Das Gelände mit seinen Gebäuden wurde unter Denkmal- und Ensembleschutz gestellt. Auch, weil es in Deutschland nur ein weiteres, so vollständig erhaltenes ehemaliges Lager gibt: das ehemalige NS Zwangsarbeiterlager in Berlin Niederschöneweide. Bereits aus architektonischen Gesichtspunkten ist Neuaubing also erhaltenswert.

In seinem heutigen Zustand ist das sog. Ehrenbürggelände bislang ein Zeugnis der Versäumnisse der NS-Aufarbeitung im Nachkriegsdeutschland. Über 60 Jahre war das Ensemble nicht von Interesse. In den letzten 40 Jahre setzten sich lediglich jene, die auf dem Gelände wirken, mit dessen Geschichte auseinander. Im kleinen Rahmen. Heute gibt es eine recht ansehnliche Liste mit künstlerischen und sozialen Aktivitäten. Sogar eine Ausstellung über die NS Vergangenheit wurde selbständig erarbeitet, so dass bei Veranstaltungen vor Ort immer auch die Lagervergangenheit fundiert thematisiert werden konnte.

Die von den Bewohner/Innen erarbeitete Ausstellung über die NS Vergangenheit des Geländes

Die neuen Eigentümer, die Stadt München und das NS Dokumentationszentrum München, werden den Ort jetzt nach einem uns heute weitgehend unbekannten Konzept verändern. Sie haben bereits begonnen. Eine Barracke wurde aufwändig renoviert, ist aber aufgrund gesundheitlicher Bedenken seit ca. zwei Jahren von einem unansehnlichen Bauzaun umgeben. Glücklicherweise holt sich die Natur langsam ihren Grund zurück und umwuchert den Bauzaun. Seit einem Jahr prunken an eben diesem Bauzaun zwei riesige Plakate, die die Zerstörung des Jetzt ankündigen: der Lagercharakter soll wieder hergestellt werden. Gemeint für die interessierte Öffentlichkeit, erreichen die Plakate eigentlich nur jene, die hier einen Teil ihres Lebens verbringen.

Welchen Mehrwert kann die Stadt auf dem Gelände erzielen und für wen?, fragte ich bei der Stadt im Laufe des beginnenden Prozesses seiner Umgestaltung nach. Denn für mich, eine Nachfahrin der Verfolgten des Nationalsozialismus, haben die Zeit und die alternativen Bewohner/innen dieses Zwangsarbeiterlager zu einem Ort gemacht, der mir lieb und teuer ist, der mich mit Deutschland gar ein Stück versöhnt. Dieser Ort ist für mich eine Antithese zur Geschichte, der Zugehörigkeit und Verarbeitung ermöglicht.

Was und für wen also sind Gedenkstätten? Zunächst ist Gedenken ja die Erinnerung an- und für die Opfer. Von den Tätern bzw. eigentlich deren Nachfahren. Auch als Entschuldigung mit der Aussage, die Katastrophe (hebr.: Shoah) verstanden zu haben und hierfür Reue zu empfinde. Außerdem gibt es die museale Aufarbeitung der Geschichte, also als Dokumentation des Geschehenen. Möglichst objektiv dargestellt. Die moralische Schlussfolgerung und Botschaft ist hier in Deutschland natürlich immer auch: Nie wieder! Sie richten sich allgemein an ein interessiertes Publikum, wobei deutlich Juden aus Israel und der Welt zu den Besucher/innen gehören. Die Museen, Dokumentationszentren usw. werden meist von deutscher Seite betrieben. Sie können an authentischen, aber auch an anderen Orten entstehen. Nicht trennbar davon sind heute pädagogische Lernorte und Bildungsangebote. Diese vermitteln unter anderem die Lehre aus dem Holocaust, Menschenrechte global zu schützen, einzufordern und umzusetzen. Deutschland zeigt damit, dass hier die bloße Auseinandersetzung mit dem Damals nicht ausreicht. Mit großem Bewusstsein für die deutschen Verbrechen wird heute aktiv an deren Erinnerung und der Relevanz der Lehre aus Shoah und NS für unser aktuelles Leben gearbeitet. Das Geschehene ist nicht vergessen und die moralische Lehre daraus bleibt unsere deutsche Aufgabe. Auch wenn die Zeit weiter von der Erinnerung wegrückt, die ohnehin wenigen Zeitzeugen sterben und der Anteil in Deutschland lebender mit Migrationshintergrund, also jenen ohne einen Bezug zum NS, weiter steigt.

Parallel entwickeln sich neue Diskurse, wie jener einer Ablehnung, etwa russicher Juden, die zugeschriebene Opferrolle im „Gedächtnistheater“ einnehmen zu wollen (Max Czollek: Desintegration. In: Jalta 1/2017) oder der der Kritik eines entstehenden ‚Gedenknationalismus‘, indem sich Deutschland über das perfektionierte Gedenken zur moralischen Übermacht aufrüstet (»gruppe top berlin«: Freibier und Freiheit sind nicht dasselbe. In: Jungle World 2009/40 Disko.)

An der Entstehung dieses spezifischen Gedenk-, Erinnerungs- oder Bildungsort nehme ich nun -quasi- aktiv teil. Die neuerliche Aufbereitung ist mir dabei immer wieder eine emotionale Herausforderung. So kamen beispielsweise Schüler eines Gymnasiums, um einen Audioguide über den Ort zu entwickeln. Ein Schüler fragte eine Mutter allen ernstes, ob diese die Vergangenheit des Ortes „positiv“ bei der Entscheidung für den Kindergarten beeinflußt habe. Die Mutter antwortete, dass die Vergangenheit mit dem eigenen Leben nichts mehr zu tun habe. Deutlich wurde, dass weder die Schüler noch die Eltern für ihre Aufgabe adäquat qualifiziert worden waren. Das aber ist, was die Stadt und das NS-Dokuzentrum suggerieren: es soll ein qualifizierter und qualifizierender Ort werden.

Dann kam das Fernsehen und drehte eine Dokumentation über ‚böse Bauten‘. Meine Töchter kamen fröhlich aufgewühlt vom Drehtag zurück. Meine 4- und 6jährigen Mädchen mussten sich ob dieser Freude von mir anhören, was Menschen, an Orten wie diesem geschehen war. Eine Standpauke über ‚Herr Hitler‘ und den Nationalsozialismus für Kindergartenkinder? Ja, natürlich, wenn sie für´s Fernsehen ‚Glück im Bunker‘ vorspielen sollen. Wie unbedarft können die Produzenten gewesen sein, Kinder ohne pädagogische Vorüberlegungen in eine Dokumentation über ‚Hitlerbauten‘ einzubinden – in deren Ergebnis die Kinder dann noch nicht einmal wirklich auftauchten?

Von vielen Künstler/innen und Handwerker/innen sind mehr Informationen vor Ort tatsächlich gewollt, auch weil man den Ort in seiner historischen Relevanz wahrnimmt. Der Holzbildhauer Peter F. erzählte beispielsweise letzt, dass die Nachfahren eines Insassen aus der Ukraine aufgrund der neuen Öffentlichkeit zu Besuch kamen. Sie sprachen ihn an, auf der Suche nach dem Unbegreiflichen, das dem Vater geschehen war. Sie brachten original Papiere einer Deportation und Lagergeschichte und suchten das Gespräch. Rührend und gut.

Zu guter Letzt aber schwebt schlicht das Damoklesschwert der Ungewissheit der städtischen Veränderung über dem Gelände. Eine klare Aussage darüber, was zu erwarten ist, gibt es auch nach knapp zwei Jahren nicht. Ungemein freundlich sind alle im Umgang. Man wolle uns als Ort mit seinen Bewohner/innen erhalten, bekommt man von den immer wechselnden, nicht entscheidungsbefugten Mitarbeiter/innen der Stadt oder des NS-Dokumentationszentrums München zu hören.

Darüber, dass es in Deutschland – im Gegensatz zu osteuropäischen Ländern – dieses fast schon selbstverständliche moralische Bewusstsein für die Opfer und eine Lehre aus dem NS gibt, bin ich sehr froh. Aus obigen Erfahrungen aber wird klar, dass zweierlei Orte notwendig sind: Orte für jene, die über die Gräuel lernen sollen und Orte für Menschen, wie mich, an denen man lernen darf, zu vergessen und verarbeitet. Darüber hinaus muss klar werden, dass es nicht nur institutionalisierte Erinnerung und Lehre von Profis geben kann. Aktuell scheint mir, dass eine ‚Gedenkelite‘ das ‚dumme Publikum‘ belehrt, ohne zu bedenken, dass die Bevölkerung mit ihren persönlichen Erfahrungen, Erinnerungen und Emotionen maßgeblich für das Geschichtsgedächtnis unserer Gesellschaft ist und dieses nicht in erster Linie durch Gedenkinstitutionen gefüllt wird.

Pfingsten 2017 besuchte ich zum ersten Mal das NS Dokumentationszentrum München. Es war heiß, kaum 4 Leute im ganzen Museum. Alle mit dem Anliegen, sich hier und jetzt mit dem NS auseinanderzusetzen. Es ist, so empfand ich es, eine erstaunlich objektiv anmutende, sachliche Ausstellung. Etwas kühl und knapp: auf den Punkt gebracht. Im ersten Stock fragte ich, ob der Fülle der Ausstellung, den Mitarbeiter des Stockwerks, ob es evtl. auch etwas über das ehemalige Zwangsarbeiterlager in Neuaubing gäbe. Er hatte davon noch nie etwas gehört, verwies mich an die Information im EG. Die Dame an der Kasse war ebenfalls unwissend, der weitere Mitarbeiter sagte, dass das alles vernichtet wurde. Dass in dem Museum, das sich aufgrund seiner Expertise als wichtig genug ansieht, ‚unsere Existenz‘ zu bedrohen, die anwesenden Mitarbeiter nicht fachkundig in dessen Inhalt sind, machte mich als Bewohnerin des Geländes und Betroffene tatsächlich traurig und auch wütend.

Auf dem ehemaligen Zwangsarbeiterlagergelände lernen und leben die Menschen tatsächlich momentan nicht primär, weil es ein Bildungsort mit NS Bezug ist. Die Künstler und Handwerker aber leben und arbeiten auf- und befassen sich mit diesem Gelände. Vor wenigen Tagen, als Märchenerzähler in einigen Ateliers sprachen, führte ein Künstler in der warmen, spartanischen Atmosphäre den Abend damit ein, dass in dieser Barracke die Küche des NS Zwangsarbeiterlagers Neuaubing gewesen war. Der Anreiz zum Nachdenken erfolgt hier, wie so oft, neben dem eigentlichen Besuchsgrund, eine für Gäste oft bleibende Erinnerung: Umrahmt von Akkordeons sassen wir diesmal also in der Küche des Zwangsarbeiterlagers, vielleicht mit der Visualisierung kochender und essender Häftlinge, und hörten den Märchenerzähler seine Geschichte beginnen „Ich hoffe, sie haben etwas Zeit mitgebracht, denn ich bin eine Schildkröte…“

Die Handwerker/innen und Künstler/innen der Freien Ateliers und Werkstätten (FAuWE e.V.) des Geländes

Zukünftig erwarte ich auf dem Ehrenbürggelände NS-Geschichtskonsumenten: Schulklassen, deren Schüler einen Ausflug machen, Bildungsangebote zeitlich begrenzter Projekt oder etwa Exkursionen des NS-Dokumentationszentrum München, basierend auf Fakten und Konzepten, die sich Wissenschaftler/innen erarbeiten, präsentiert von Arbeitnehmer/innen der Gedenkmaschinerie.

So verlasse ich diesen Sommer schweren Herzen einen der für mich schönsten Orte Münchens. Mit seiner Führungsbaracke, an deren blauen Fenster ich jeden Morgen meine Tochter Golde verabschiede, in dessen Garten ich Unkraut rupfe, Kuchen esse und Gemeinschaft lebe. Ich gehe mit dem leeren Gefühl, dem nicht nachzutrauern zu können, weil der Einfluß des neuen Gedenkens diesen Ort für jemanden wie mich unbewohnbar macht. Die Rekonstruktion des Lagercharakters, so sagte ich der erstaunten Mitarbeiterin der Stadt, erschafft in mir das Gefühl, schnellstmöglich wegrennen zu wollen. Ihre Aufmerksamkeit aber galt nicht mir, als Betroffener, sondern wohl dem abstrakten Kollektiv der Erinnernden und künftig Lernenden.