Die EUMC-Arbeitsdefinition Antisemitismus in der Kritik

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Anmerkungen zu fehlender Trennschärfe und Vollständigkeit…

Von Armin Pfahl-Traughber

Was ist Antisemitismus und inwieweit geht es dabei um eine Einstellung gegenüber Israel? Diese Frage wird immer wieder heftig diskutiert. Als Antwort kursiert seit Jahren die EUMC-Arbeitsdefinition. Gemeint ist damit eine von dem damaligen European Monitoring Center on Racism and Xenophobia (EUMC) – heute die Fundamental Rights Agency (FRA) – verabschiedete Working Definition of Antisemitism. Diese Arbeitsdefinition wurde in den folgenden Jahren von vielen Behörden, Einrichtungen, Gremien und Wissenschaftlern in vielen Ländern übernommen.[1] Allgemein lässt sich von einem kontinuierlichen Anstieg der Akzeptanz sprechen. Eine kritische Diskussion ging indessen mit dieser Entwicklung nicht einher, sieht man einmal von den erwartbaren ideologisch-politischen Unterstellungen ab. Gleichwohl bedarf es einer solchen Betrachtung, können doch fehlende Trennschärfe und Vollständigkeit konstatiert werden. Die folgenden Ausführungen wollen diese Kritikpunkte benennen und damit für eine grundlegende Überarbeitung plädieren.

Zunächst muss aber noch der Anspruch referiert werden. Es heißt dazu: „Dieses Dokument soll als praktischer Leitfaden für die Erkennung und Dokumentation antisemitischer Vorfälle sowie für die Erarbeitung und Umsetzung gesetzgeberischer Maßnahmen gegen den Antisemitismus dienen.“[2] Demnach bestand ein praktischer, kein wissenschaftlicher Anspruch. Gleichwohl gilt es auch eine solche Begriffsbestimmung hinsichtlich der Klarheit, Trennschärfe und Vollständigkeit kritisch zu prüfen. Die eigentliche Definition lautet dann: „Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtung.“ Anerkennend hervorgehoben werden muss, dass sich danach Antisemitismus auch gegen Nicht-Juden richten kann. Kritikwürdig wäre, dass jüdische Gruppen ohne einen religiösen Bezug nicht genannt werden.

Die allgemeine Definition bedarf darüber hinaus noch einiger inhaltlicher Einwände: Was soll genau gemeint sein mit „eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann“. Es mag hier an der Übersetzung liegen, aber es besteht schon eine Unklarheit. Denn so muss die gemeinte Wahrnehmung sich ja nicht notwendig in Hass ausdrücken. Darüber hinaus wird auch nicht deutlich, worin genau die „bestimmte Wahrnehmung“ bestehen soll. Wäre sie, so könnte weiter gefragt werden, wenn sie sich nicht „als Hass gegenüber Juden“ ausdrückt, auch nicht antisemitisch? Bereits dieser erste Satz der allgemeinen Definition ist so diffus, dass er zur Erfassung des gemeinten Phänomens kaum taugt. Es geht doch um eine Feindschaft – nicht Kritik, das ist etwas anderes – „gegen Juden als Juden“[3] Dieser Aspekt kommt hier nicht vor. Erst bei den Ausführungen über die Straftaten wird darauf hingewiesen, heißt es dort doch: Diese seien antisemitisch, „wenn die Angriffsobjekte … jüdisch sind“ oder „als solche wahrgenommen“ werden.

Auch die jeweiligen Erscheinungsformen und nicht nur die konkreten Inhalte kommen in der allgemeinen Begriffsbestimmung nicht vor. Zumindest erfolgen keine klare Benennung und auch keine klare Differenzierung. Als bedeutsam gilt hier folgendes: Es gibt erstens Bilder in öffentlichen Diskursen, welche die Juden herabwürdigen. Dazu gehört beispielsweise die Gleichsetzung mit „Geldgier“ und „Wucher“. Es gibt zweitens Einstellungen von konkreten Personen, welche die Juden schmähen. Hierzu zählt etwa die Behauptungen der „Illegitimität“ oder der „Verschwörung“. Und es gibt Handlungen im sozialen Raum, welche negative Folgen für Juden haben. Diese können von der Beleidigung über die Diskriminierung und Verfolgung bis zur Vernichtung reichen. Die EUMC-Arbeitsdefinition spricht im ersten Teil aber nur von einer „Wahrnehmung“, im zweiten Teil dann aber von „Wort oder Tat“. Eine systematische Aufarbeitung und inhaltliche Strukturierung liegt demnach der gemeinten Begriffsbestimmung angesichts dieser Diffusität nicht zugrunde.

Es folgen dann Ausführungen, die primär auf den antizionistischen  Antisemitismus bezogen sind. Dies ist begrüßenswert, artikuliert sich doch die Judenfeindschaft der Gegenwart häufig genug über den Umweg der Israelfeindschaft. Der Aspekt fehlt meist bei anderen Begriffsbestimmungen. Dafür wird er in der EUMC-Arbeitsdefinition überbetont bzw. kommen die anderen Ideologievarianten nur am Rande vor. Es wird etwa als Kriterium genannt: „das Verwenden von Symbolen und Bildern, die mit traditionellem Antisemitismus in Verbindung stehen (z. B. der Vorwurf des Christusmordes oder die Ritualmordlegende), um Israel oder die Israelis zu beschreiben.“ Dies trifft zu. Dann müssen die anderen Antisemitismus-Ideologievarianten, gerade wenn die Definition als „praktischer Leitfaden“ dienen soll, aber auch ausdifferenziert genannt und exemplarisch erläutert werden. Dies geschieht nur fragmentarisch. Es gibt aber entwickelte Typologien: religiöser, sozialer, politischer, kultureller, nationalistischer oder rassistischer Antisemitismus.[4]

Die jeweils erwähnten Beispiele beziehen sich aber meist nur auf den israelfeindlichen Antisemitismus. Dabei weisen die ersten sechs Genannten auch die nötige Trennschärfe auf. Es kann hierbei nicht die Behauptung aufgestellt werden, die Definition diene der Delegitimation von „Israelkritik“. Dabei geht es um den „Aufruf zur Tötung oder Schädigung von Juden im Namen einer radikalen Ideologie“, um „entmenschlichende, dämonisierende oder stereotype Anschuldigungen gegen Juden“, um das „Verantwortlichmachen der Juden als Volk für das … Fehlverhalten einzelner Juden“, um das „Bestreiten der historischen Tatsachen, des Ausmaßes … sowie der Vorsätzlichkeit des Völkermordes an den Juden“, den „Vorwurf gegenüber dem jüdischen Volk …, den Holocaust übertrieben darzustellen oder erfunden zu haben“ oder den „Vorwurf gegenüber Juden, sie fühlten sich dem Staat Israel … stärker verpflichtet als den Interessen ihrer jeweiligen Heimatländer“. Allenfalls kann bei diesen Erläuterungen die fehlende inhaltliche Struktur kritisiert werden.

Ähnlich verhält es sich dann mit Beispielen wie „das Abstreiten des Rechts des jüdischen Volkes auf Selbstbestimmung“ oder „das Bestreben, alle Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich zu machen“. Keineswegs eindeutig ist aber die „Anwendung doppelter Standards, indem man von Israel ein Verhalten fordert, das von keinem anderen demokratischen Staat erwartet und verlangt wird“. Ein solcher Anspruch ist sicherlich falsch, muss aber nicht antisemitisch motiviert sein. Es bedarf hier des Blickes auf die konkrete Motivation. Darüber hinaus ist es schwer, formuliert man Einwände gegen die Politik der israelischen Regierung, dabei immer die Politik von anderen rechtsstaatlichen Demokratien mit zu kritisieren. Auch bei „Vergleiche“ – gemeint ist wohl eine Gleichsetzung – „der aktuellen israelischen Politik mit der Politik der Nationalsozialisten“ kann es andere Motive geben. Denn derartige Gleichsetzungen findet man in verschiedenen thematischen Kontexten, dann jeweils als Ausdruck einer ahistorischen und dramatisierenden Kritik.

Differenziert heißt es dann in der EUMC-Arbeitsdefinition: „Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden.“ Diese Aussage haben die meist ideologisch-politisch motivierten Gegner der Begriffsbestimmung ignoriert oder überlesen. Es geht bei der Rede von einem antizionistischen und israelfeindlichen Antisemitismus nicht darum, die gelegentlich kritikwürdige Politik der israelischen Regierung gegenüber den Palästinensern zu verteidigen. Vielmehr wird darauf aufmerksam gemacht, dass sich die in Deutschland etwa durch einen öffentlichen anti-antisemitischen Konsens geächtete Judenfeindschaft eben im Lichte einer pauschalen Verdammung des Staates Israel artikuliert. Darauf macht die EUMC-Arbeitsdefinition zutreffend aufmerksam. Gleichwohl geschieht dies in einer Form und mit einem Inhalt, die in der Gesamtschau nicht zu überzeugen vermögen. Es bedarf daher einer kritischen Auseinandersetzung und grundlegenden Überarbeitung.[5]

Prof. Dr. phil. Armin Pfahl-Traughber, Politikwissenschaftler und Soziologe, hauptamtlich Lehrender an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl und ebendort Herausgeber des „Jahrbuchs für Extremismus- und Terrorismusforschung“.

[1] Vgl. Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus (Hrsg.) Antisemitismus in Deutschland – aktuelle Entwicklungen, Berlin 2017, S. 23f.

[2] Die Abhandlung bezieht sich auf folgende Übersetzung: EUMC Arbbeitsdefinition Antisemitismus, in: www.antisem.eu/eumc-arbeitsdefinitin-antisemitismus (gelesen am 28. Juni 2017).

[3] Brian Klug, The Collective Jew: Israel and the new Antisemitism,in: Christina von Braun/Eva Maria Ziege (Hrsg.), Das „Bewegliche orurteil“.Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg2004, S. 221-239,hier S. 224.

[4] Vgl. Armin Pfahl-Traughber, Antisemitismus als Feindschaft gegen Juden als Juden. Ideologieformen, Definitionen und Fallbeispiele, in: Der Bürger im Staat, 63 (2013) 4, S.252-261.

[5] Damit nicht der Eindruck entsteht, der Autor würde nur destruktiv kritisieren, erfolgt hier der Hinweis auf seine Definition: Armin Pfahl-Traughber, Antisemitismus in der deutschen Geschichte, Berlin 2003, S. 9. Zur Differenzierung von Einstellungen vgl. Armin Pfahl-Traughber, Antizionistischer Antisemitismus, antiimperialistische Israelfeindlichkeit und menschenrechtliche Israelkritik, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 24 (2015), S. 293-318.