Der Weg nach Basel – 120 Jahre Zionistischer Kongress

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Am 29. August 1897 wurde in Basel der Erste Zionistenkongress eröffnet. Mit der Einberufung des Kongresses sollte es Theodor Herzl gelingen, den Grundstein für das politische Gebäude des Zionismus zu legen. Seine Bemühungen hielt Herzl ausführlich in seinen Tagebüchern fest. Zum 120. Jahrestag des Ersten Kongresses dokumentieren wir Ausschnitte aus den Tagebüchern aus dem Jahr 1897, die den schwierigen Weg zum Ersten Kongress zeigen – sowie der Rückblick vom 3. September 1897

3 September Wien

Die letzten Tage, die wichtigsten seit der Empfängniss der Idee damals in Paris, sind nun vorübergerauscht. Ich war in Basel u. auf der Rückreise zu erschöpft, um Aufzeichnungen zu machen, die doch nöthiger sind als je weil auch Andere schon merken, dass unsere Bewegung in die Geschichte eingetreten ist.

Fasse ich den Baseler Congress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. 

Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es Jeder einsehen. Der Staat ist wesentlich im Staatswillen des Volkes, ja selbst eines genügend mächtigen Einzelnen (L’état, c’est moi Ludwig XIV) begründet. Territorium ist nur die concrete Unterlage, der Staat ist selbst wo er Territorium hat immer etwas Abstractes. Der Kirchenstaat besteht auch ohne Territorium, sonst wäre der Papst nicht souverän.

Ich habe also in Basel dieses Abstracte u. darum den Allermeisten Unsichtbare geschaffen. Eigentlich mit infinitesimalen Mitteln. Ich hetzte die Leute allmälig in die Staatsstimmung hinein u. brachte ihnen das Gefühl bei, dass sie die Nationalversammlung seien.

Einer meiner ersten Ausführungsgedanken schon vor Monaten war es, dass man im Frack u. weisser Halsbinde zur Eröffnungssitzung kommen müsse. Das bewährte sich ausgezeichnet. Die Feiertagskleider machen die meisten Menschen steif. Aus dieser Steifheit entstand sofort ein gemessener Ton – den sie in hellen Sommer- u. Reisekleidern vielleicht nicht gehabt hätten – u. ich ermangelte nicht, diesen Ton noch ins Feierliche zu steigern.

Nordau war am ersten Tag in der Redingote erschienen u. wollte durchaus nicht heimgehen u. den Frack nehmen. Ich zog ihn bei Seite, bat ihn, es mir zu Liebe zu thun. Ich sagte ihm: heute ist das Präsidium des Zionisten-Congresses noch gar nichts, wir müssen Alles erst etabliren. Die Leute sollen sich daran gewöhnen, in diesem Congress das Höchste und Feierlichste zu sehen. Er liess sich umstimmen, wofür ich ihn dankbar umarmte. Nach einer Viertelstunde kam er im Frack wieder.

! Ueberhaupt war es während dieser drei Tage meine beständige Sorge, Nordau vergessen zu machen, dass er auf dem Congress der zweite war, worunter sein Selbstgefühl sichtlich litt. Ich betonte bei jeder Gelegenheit, dass ich nur aus rein technischen Gründen der Personen- u. Sachkenntniss den Vorsitz führe, dass ihm vor mir sonst unter allen Umständen der Vortritt gebühre. Das besserte seine Stimmung einigermassen, auch hatte zum Glück seine Rede mehr Erfolg als meine rein politische u. ich ging überall herum u. rief seine Rede als die beste des Congresses aus.

So hatte ich noch einige andere Empfindlichkeiten, die im Gedränge zerknittert worden waren, glattzubügeln. Steiner war bei den Bureauwahlen übergangen worden u. ging schwerbeleidigt herum. Ich machte ihn in aller Eile zum Präsidenten des Commerses und zum Obmann der Organisationscommission, worauf er sich auf der Rednertribüne ansiedelte u. die Redner nicht mehr hinaufliess. Sie mussten von ihrem Platze sprechen, während er auf der Tribüne auf einem Sessel sass. Beleidigt waren auch Mintz u. einige Andere, die ich zu barsch angerufen hatte, weil sie am Präsidialtisch regungslos träumten, statt Protocoll zu führen u. mir in der Leitung zu helfen. Alles ruhte auf meinen Schultern, u. das rede ich mir nicht nur ein, es wurde erwiesen, als ich am dritten Tage Nachmittag vor Müdigkeit abging u. das Präsidium Nordau übertrug. Da ging Alles drunter u. drüber, u. man erzählte mir später, dass es eine wüste Sitzung war.

Auch bevor ich den Vorsitz übernahm klappte die Sache nicht.

Der gute Dr. Lippen aus Jassy führte als Alterspräsident den Vorsitz. Es war abgemacht, dass er nur zehn Minuten höchstens sprechen solle. Im grossen Rummel hatte er mir seine Rede nicht vorgelegt, u. als er nun oben stand, sprach er unaufhaltsam eine halbe Stunde u. beging Fehler über Fehler. Ich sass unten an der Tribüne neben Nordau u. schickte viermal zu Lippe hinauf u. bat u. drohte endlich, dass er aufhören solle. Die Sache nahm schon einen Stich ins Komische.

Dann bekam ich das Wort. Ich wurde mit Beifallsstürmen empfangen, war u. blieb aber ruhig u. verbeugte mich absichtlich nicht, um von vornherein die Geschichte nicht zur Cabotinage oder Conférence werden zu lassen. Dann wurde das Präsidium mit Acclamation gewählt. Wir gingen hinauf. Der Congress jubelte.

Ich gab Nordau das Wort. Er sprach herrlich. Seine Rede ist u. bleibt ein Denkmal aus unserer Zeit. Als er wieder zum Präsidialtisch hinaufkam ging ich ihm entgegen u. sagte ihm: Monumentum aere perennius!

Dann spielten sich die Referate programmgemäss ab. Und jetzt erwies es sich, wozu ich hatte vier Jahre lang ins Palais Bourbon gehen müssen. Ich war im Unbewussten voll von Eleganzen der Geschäftsordnung. Ich war zuvorkommend u. energisch nach dem Muster Floquets u. bemühte mich in kritischen Momenten mots présidentiels zu machen.

Am ersten Tag beging ich noch mehrere Fehler, am zweiten war ich nach dem allgemeinen Urtheil schon auf der Höhe der Situation. Kritische Momente waren es, als z. B. ein gewisser Mandelkern aufstand u. den Dank des Congresses an Baron Edmund Rothschild beantragte. Ich wies diesen Antrag a limine ab, weil wir über die Prinzipienfrage der Infiltration nicht so abstimmen dürften. Ich zermalmte den Mandelkern, indem ich sagte, dass er den Congress in die Verlegenheit bringe, zwischen Undankbarkeit für ein wohlthätiges Werk u. Aufgeben der Prinzipien zu wählen. Der Congress jubelte mir zu.

Anderer kritischer Moment, als der Scandal Birnbaum kam. Dieser Birnbaum, der schon drei Jahre lang vom Zionismus zum Socialismus abgefallen war, als ich auftrat, spielt sich aufdringlich als mein »Vorgänger« auf. In seinen dreisten Bettelbriefen, die er mir u. Anderen schrieb, stellt er sich als den Entdecker u. Begründer des Zionismus auf, weil er eine Brochure wie viele andere seit Pinsker (den ich ja auch nicht gekannt hatte) geschrieben hat.

Er liess nun durch einige junge Leute den Antrag lanciren, dass der Generalsecretär des Actionscomites vom Congress direct gewählt u. dotirt werden solle. Und dieser Mensch, der in der ersten Nationalversammlung der Juden keinen anderen Gedanken hat, als sich eine Pfründe aussetzen zu lassen, wagt es sich mit mir zu vergleichen. Und wie in seinen Schnorrbriefen auch hier neben dem Bettel die Dreistigkeit. Der Generalsecretär solle als Vertrauensmann des Congresses den übrigen 22 Mitgliedern des Actionscomites gegenüberstehen.

Ich erklärte, dass ich mir nicht vorstellen könne, wie irgend Jemand ein Mandat in das Comite unter solchen Umständen annehmen würde.

Der Antrag fiel mit Schimpf und Schande durch. Es war der einzige Misston des Congresses, provocirt durch Schalit, einen jungen Menschen den ich mit Wohlwollen überschüttet hatte.

Mrs Sonnenschein von der American Jewess sagte mir während dieses Zwischenfalles – Ich hatte das Präsidium an Nordau abgegeben – »Sie werden Sie noch kreuzigen – u. ich werde Ihre Magdalena sein.«

Sonst ging Alles recht glatt. Da ich während der Colonisationsdebatte nicht im Congress war, wagte sich Bambus auf die Tribüne u. schlüpfte in eine Commission. Ich liess auch den Schurken Scheid ungeschoren, da der Congress inzwischen eine solche Wendung ins Grosse genommen hatte, dass ich durch diese Miseren den Eindruck nicht mehr stören wollte. Qu’ils aillent se faire pendre ailleurs. Prinzipiell der wichtigste, vielleicht ganz unbemerkt geblieben, war der Zwischenfall, wo ich das repräsentative System, also die Nationalversammlung einführte. Der nächste Congress wird nur noch aus Delegirten bestehen.

Beim Abschied sagte ich Nordau: »Im nächsten Jahre werden wir die Sache weiter differenziren. Sie werden Präsident des Congresses, ich der Executive.«

Er wollte aber keinerlei Engagement nehmen.

Kleine Zwischenfälle zahllos. Alle erkundigten sich bei mir nach allen wichtigen u. gleichgiltigen Dingen. Es sprachen immer 4-5 Leute gleichzeitig mit mir. Eine ungeheure Gehirnanstrengung da man Jedem eine definitive Erledigung geben musste. Mir war, wie wenn ich 32 Schachpartien gleichzeitig spielen müsste.

Und der Congress war grossartig. Während Nordau präsidirte ging ich einmal von hinten in den Saal hinein. Der lange grüne Tisch auf der Estrade mit dem erhöhten Sitz des Präsidenten, die grün verhangene Tribüne, der Stenographen u. Journalistentisch machten einen so starken Eindruck auf mich, dass ich rasch hinausging, um nicht befangen zu werden. Ich hatte später in mir die Erklärung, warum ich so gelassen war, während alle Anderen aufgeregt u. betäubt waren.

Ich wusste nicht, wie grossartig der Congress in diesem ernsten Concertsaal mit den schmucklosen grauen Wänden aussah. Ich hatte keine Vorbilder davon, sonst wäre wol auch ich ergriffen gewesen.

Und die beste Erinnerung aus diesen Congresstagen sind mir ein paar Plauderviertelstündchen Nachts auf dem Balkon des Hôtel trois rois, mit dem alten feinen Banquier Gustav G. Cohen, dem ich nach dem kleinen französischen Wein den er bei Tische trank, »Beaujolais fleuri« zubenannt hatte.

30 August Morgens Basel

Die Geschichte des gestrigen Tages brauche ich nicht mehr zu schreiben, die schreiben jetzt bereits andere. Ich war ruhig u. sah auch gestern die kleinsten Details. Ich muss jetzt in die Sitzung u. werde erst unterwegs auf der Rückreise die intimen Einzelheiten notiren: Nordaus Verstimmung in der Vorconferenz weil er nicht Präsident wurde, u. wie ich ihn allmälig in mildere spirits brachte.

Viele waren gestern tiefbewegt – ich war ganz ruhig, wie man beim Eintreffen der vorbereiteten Ereignisse sein soll. Nur als ich gleich nach meiner Acclamation zum Präsidenten den erhöhten Sitz bestieg u. im Briefeinlauf den ersten Brief meines Hans fand, da war ich sehr gerührt. Ich schrieb vom Präsidialtisch – den ich in seiner heutigen Bedeutung nicht überschätze der aber in der Geschichte wachsen wird – an meine Eltern u. Frau u. an jedes meiner Kinder, Pauline, Hans u. Trude eine Congress-Correspondenzkartes. Das ist vielleicht die erste Kinderei die ich in der ganzen Bewegung seit zwei Jahren beging.

24 August

Im Coupe unterwegs nach Zürich.

Heute Morgens als ich im Tiroler Hof die Treppe herunterkam, wer trat mir entgegen? Hechler! Er war schon gestern Abends da und hatte im Salon einen Vortrag über mich u. meine Bewegung gehalten, während ich einen einsamen Nachtspaziergang durch die Strassen Innsbrucks machte und Alles eher gedacht hätte, als dass die upper tens im Tiroler Hof jetzt von einem clergyman über den Zionismus belehrt wurden.

Hechler stöhnte ein bischen aber verständlich über die Mühsal seiner Reise dritter Klasse.

Ich werde ihm von Buchs aus telegraphisch 25 fl anweisen, womit er sein Billet in zweite Klasse umwandeln kann.

Curios, eine der heimlichen Curiositäten, dass in Basel die meisten Fäden, die ich bisher spann zusammenlaufen werden. Da ist Hechler, da wird Newlinski sein u. Tutti quanti, welche die Volksbewegung unter meiner Direction mitmachen halfen. Es wird eine meiner Aufgaben sein, sie nicht zuviel voneinander merken zu lassen, denn sie würden wol etwas vom Glauben an die Sache und an mich verlieren, wenn sie sähen mit wie geringen Mitteln ich den bisherigen Bau aufgeführt habe. Das Ganze ist eines jener Kunststücke des Gleichgewichts, die nach der Beendigung ebenso selbstverständlich scheinen, wie vorher unwahrscheinlich.

Eine Sorge ist mir Newlinski — sowol was er von meinen Leuten sagen wird, wie meine Leute von ihm. Ich muss trachten ihn à l’écart zu halten, ich halte es für durchaus möglich, dass die Bambusse, kleinen Köhne, selbst Dr. Landau dem ich eine Position gemacht habe u. in dem ich schon einen Treulosen und Undankbaren wittere, sich an Newlinski heran und mich heruntermachen.

Ich werde Newlinski une fidélité absolue abverlangen ihm rundweg erklären, dass er keinen Anderen zu kennen hat als mich. Er möge sich mit Niemandem einlassen, von Niemandem aushorchen lassen. Ich werde ihn eventuell vor ein enges Comite laden, aber dies nur wenn es eine hohe Opportunität ist.

Andererseits muss ich schon Newlinskis wegen dem Congress eine gewisse Tournüre geben.

Die Leitung dieser Verhandlung wird überhaupt ein wie ich glaube seltenes Kunststück sein, das keinen anderen Zuschauer haben wird als den der es aufführt. Ein Eiertanz zwischen allen unsichtbaren Eiern.

1.) Ei der N[euen] Fr[eien] Pr[esse] die ich nicht compromittiren darf u. der ich keinen Anlass geben darf, mich hinauszubugsiren.

2.) Ei der Orthodoxen

3. ) Ei der Modernen

4. ) Ei des österreichischen Patriotismus

5. ) Ei der Türkei, des Sultans

6. ) Ei der russischen Regierung, gegen die nichts Unliebsames gesagt werden darf, obwol man die deplorable Lage der russischen Juden doch erwähnen muss

7. ) Ei der christlichen Confessionen wegen der heiligen Stätten. Kurz, es ist eine gedrängte Uebersicht aller Schwierigkeiten, mit denen ich mich bisher herumschlug. Hiezu kommen noch ein paar andere Tanzeier

Ei Edmund Rothschild

Ei Chowewi Zion in Russland

Ei der Colonisten, denen man Rothschilds Hilfe nicht verderben darf, tout en considérant leurs misères.

Dann die Eier der persönlichen Differenzen.

Ei des Neides, der Eifersucht. Ich muss die Sache unpersönlich machen und kann doch die Zügel nicht aus der Hand lassen.

Es ist eine der Arbeiten des Herkules – ohne Ueberschätzung denn ich habe ja keine Lust mehr dazu.

23 August

Wieder einmal im Coupe, diesmal unterwegs nach Basel zum Zionisten Congress. Die Arbeit der letzten Zeit war enorm. Der befürchtete Krach mit Bacher hat bisher nicht stattgefunden. Er war sogar in den letzten Tagen vor meiner Abreise liebenswürdig.

Ich arbeite viel für die N[euen] Fr[eien] Pr[esse] um ihn gutzustimmen. Als ich meinen Nachtragsurlaub verlangte, that er ein bischen brummig, entliess mich aber doch bis 2 September. Dabei kam er auf meine Bewegung zu sprechen. Die Mitarbeiterschaft an der »Welt« müsse aufhören.

Ich entgegnete: »Ich habe überhaupt nur einen Artikel in der Welt signirt.«

Er sagte: »Was machen Sie denn noch? Sie wollen doch kein Wanderprediger werden?«

»Nein«, sagte ich, »ich will kein Berufspolitiker sein. Wenn ich das gewollt hätte, hätte ich eine der mir angebotenen Candidaturen für den Reichsrath angenommen.« Serenissimus, wie wir ihn in der Redaction nennen, scherzte beinahe gnädig: »Was das schon für ein Vergnügen wäre. Da bin ich beinahe noch lieber auf dem Zionistencongress als im Reichsrath. – Aber Sie sollten jetzt aufhören. Sie sind doch ein Schriftsteller. Sie sind doch ein gescheiter Mensch.« »Jawohl, weil ich ein gescheiter Mensch sein will, bringe ich meine Arbeit unter das Dach des Congresses. Sonst wäre alles Bisherige Unsinn gewesen. Ich habe den Juden einen Congress gemacht, und von da aus soll das Volk sich weiterhelfen, wenn es wirklich will. Ich selbst habe die Geschichte schon manchmal bis da hinauf satt.«

Und so ist es auch. Ich habe in der letzten Zeit viel Ekel gehabt. Ich will mich, wenn der Congress keine ernsten Ergebnisse zeitigt, von der Action zurückziehen u. nur noch in der »Welt« das Feuer wachhalten.

Bacher machte dazu ein zufriedenes Gesicht. Und als ich Samstag mich von ihm verabschiedete, sagte er schmunzelnd: »Grüssen Sie mir die Zionisten!«

»Schön« sagte ich – »natürlich nicht officiell.«

Wir werden also sehen, was der Congress bringt. Hat er zur Folge, dass die politischen Mächte die Sache in Erwägung ziehen, dass mich beispielsweise der deutsche Kaiser rufen lässt, so werde ich fortarbeiten. Wenn nicht, und wenn auch keine Bereitwilligkeit seitens der geldkräftigen Juden sich zeigt, die von mir mit so grossen persönlichen und materiellen Opfern so weit gebrachte Action fortzuführen, so werde ich mich zur Ruhe begeben.

Wird mir das Präsidium des Congresses angeboten, so nehme ich es jedenfalls nur für dieses eine Mal an. Auch wenn ich die Action weiterführe, will ich nicht mehr Congresspräsident sein.

Thatsache ist, was ich Jedermann verschweige, dass ich nur eine Armee von Schnorrern habe. Ich stehe nur an der Spitze von Knaben, Bettlern und Schmocken. Manche beuten mich aus. Andere sind schon neidisch oder treulos. Die Dritten fallen ab, so wie sich ihnen eine kleine Carriere eröffnet. Wenige sind uneigennützige Enthusiasten. Dennoch würde dieses Heer vollkommen genügen, wenn sich nur der Erfolg zeigte. Da würde es rasch eine stramme reguläre Armee werden.

Wir werden also sehen, was die nächste Zukunft bringt.

Wien 14. August

Die Arbeiten für den Congress u. die »Welt« neben der Neuen Fr[eien] Pr[esse] erschöpfen jetzt meine Kräfte, so dass ich nicht einmal die Energie aufbringe Eintragungen in dieses Schiffsbuch der neuen Mayflower zu machen.

Ich war auf einen Zusammenstoss mit Bacher bei meiner Rückkehr vom Urlaube gefasst gewesen. Indessen schwieg er u. machte mich sogar vorgestern witzelnd auf den Leitartikel in der »Deutschen Zeitung« über den Zionisten-Congress aufmerksam. Er wartet möglicherweise auf Benedikts Rückkehr um die »Welt«frage zu liquidiren. Vielleicht kommt auch der Krach, wenn ich Ende dieser Woche wieder wegwill.

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Die Geschäfts- u. Wohlthätigkeits-Zionisten nähern sich mir jetzt wieder, nachdem sie eingesehen haben, dass sie den Congress nicht vereiteln können.

Bambus soll die Absicht haben, nach Basel zu kommen. Er kriegt keine Mitgliedskarte. Der kleine Dr. Kohn von der »Gruppe Kohn-Rappoport« auch Gruppe Korah genannt, der in Wien versuchte unter den Zionisten ein Schisma herbeizuführen, hat sich als Mitglied angemeldet. Er bekommt höchstens eine Journalistenkarte. Oberst Goldsmid schreibt mir einen von Freundschaft strotzenden Brief. Dem antworte ich, er möge noch kommen, sonst sei er für immer aus der nationalen Bewegung ausgeschaltet; ich will ihm eine goldene Brücke bauen. Scheid endlich, der Intrigant, der Missbräuchemann, kommt nächster Tage nach Wien angeblich wegen des »Weingeschäfts«, ich bin aber überzeugt, dass es geschieht, weil er sich mir aus Furcht vor dem Congress nähern will. Er hat auch gleizeitig ein Jahresabonnement auf die »Welt« angemeldet u. luxuriös mit 20 francs statt mit 17 bezahlt. Der Ueberschuss soll ihm mit einer ironischen Bemerkung zurückgeschickt werden.

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Newlinski kommt nach Basel, um dem Sultan zu berichten. Er behauptet in seinen Briefen aus Etretat, dass er dazu Auftrag habe. Ich stelle mich als ob ich es glaube. Offenbar will er nur sehen, ob an der ganzen Geschichte etwas ist. N schreibt, es sei Aussicht vorhanden, dass der Sultan unsere Begrüssungsdepesche beantworten werde. In einem späteren Brief heisst es wieder es seien Schwierigkeiten aufgetaucht. Folglich war das Ganze nicht wahr. Aber Newlinski kann mir dennoch in Konstantinopel nützen. Je vais le soigner.

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Gestern schickte ich einen kleinen silbernen Aufsatz für den Verwundetenbazar nach Konstantinopel.

22. Juli

Wieder im Coupé, wieder unterwegs nach Ischl. In den Wochen seither hatte ich keinen Augenblick für die Eintragungen in dieses neue »Logbuch der Mayflower« wie es der Correspondent der Londoner Pall Mall Gazette nannte, der mich gestern in Reichenau über den Congress u. den Zionismus interviewte.

Ich weiss nicht einmal mehr was ich Alles einzutragen versäumte. Die Zeit ist vorbei wo ich die kleinen Peripetien des Tages notiren konnte. Die »Welt« wird späterhin meinem Gedächtniss zu Hilfe kommen müssen, wenn ich meine Memoiren schreiben werde. Die »Welt« gibt mir eine ungeheure Arbeit.

Das Interessanteste seit meiner letzten Coupéeintragung war die nothgedrungene Verlegung des Congresses von München nach Basel. Ich ging nicht gern nach München, das mir von jeher als ungeeignet erschienen war u. das ich nur der Majorität der »vorbereitenden Commission« gehorchend acceptirt hatte. Darum benützte ich die kläglichen patriotischen Proteste der Münchener Cultusvorsteher dazu, den Congress nach der Schweiz zu verlegen. Basel wurde nach Erhebungen die ein neuer wackerer Mitarbeiter Dr. Farbstein aus Zürich anstellte, bestimmt. Indessen liess ich doch durch den Fürsten Wrede bei der bayrischen Regierung vertraulich anfragen, ob sie denn etwas gegen den Congress gehabt hätte. Minister Feilitzsch antwortete Wrede vertraulich, dass die Regierung nichts gegen den Congress hatte (scil auch nichts für.)

Von Newlinski bekam ich aus Etretat einen günstiger gestimmten Brief. Er war wol schon weg von der Sache. Der Congress scheint ihm zu imponiren. Er erklärt wieder, dass er nie aufgehört habe, »der heiligen Sache u. ihrem Propheten zu dienen«

Endlich ein famoser Brief von Széchényi Pascha aus Konstantinopel als Antwort auf das Exposé (steht im Copirbuch) das ich ihm schickte.

Es wird in Yildiz Kiosk wieder von meinem Project gesprochen. Schon das ist etwas werth.

Was wäre noch »Intimes« zu verzeichnen pro futuro?

Dr. Kokesch war neulich tiefbeleidigt, weil ich im Arbeitsprogramm (das ich gemacht) des Congresses (den ich mache) der Zionisten (die ich mache) einen Aenderungsvorschlag der »vorbereitenden Commission« (die gar nichts thut), nicht berücksichtigte. Er sagte: »Wir sind nicht nur der geheime Rath eines absoluten Monarchen.«

24. Juni

Im Coupé. Unterwegs nach Ischl.

Ich habe soeben in Linz auf dem Bahnhof Bacher gesehen, der offenbar von Karlsbad kommt und auch nach Ischl fährt. Da ich in den letzten Tagen mit Benedikt in Wien genug Aufregungen hatte, wich ich Bacher aus, that als ob ich ihn nicht gesehen hätte und stieg rasch wieder in mein Coupe ein. Vielleicht hat er mich nicht bemerkt. In Ischl werden wir wahrscheinlich dennoch zusammentreffen u. dort möglicherweise streiten. Mein Nervenzustand lässt mich allerdings wünschen, jetzt keine aufregenden Discussionen zu führen.

Der gestrige Tag war interessant. Ich hatte mich entschlossen, von Benedikt Urlaub zu verlangen, um diesen alltäglichen Herzbeklemmungen in den erregten Gesprächen mit ihm ein Ende zu machen.

Als ich gestern auf meinem Rad in die Redaction fuhr, sagte ich mir: das ist wahrscheinlich das letztemal, dass ich in die Neue Freie Presse gehe, um die ich mich so viele Jahre so heiss bemüht habe. Diese schweren Differenzen müssen ja endlich zu meinem Austritt führen, da ich unmöglich auf die Forderung Benedikts eingehen kann: die »Welt« zu sistiren. Und merkwürdigerweise empfand ich bei dem Gedanken, diese vielbeneidete Stellung bei der N Fr Pr, die anerkannt erste literarische Stellung in Wien zu verlassen, eine Art von Abiturienten-Erleichterung. Aehnlich war mir beim Abschied von der Schule zu Muth.

Ferner dachte ich mir: so muss der Tod sein. Schmerzhaft – mehr psychisch als physisch schmerzhaft – ist wol nur die Agonie. Der Tod selbst mag dem Sterbenden wirklich eine Erlösung sein.

Ganz heiter räumte ich dann meine Feuilletonladen ein, machte Ordnung wie eine gute Hausfrau noch den Schlüsselbund an den Haken hängt, bevor sie sich den Tod fühlend niederlegt. Dennoch war u. ist mir ganz klar, dass ich durch meinen Abschied von der N Fr Pr von einem Tag auf den anderen ein Declassirter sein kann.

Die letzte Unterredung mit Benedikt gestaltete sich ruhiger als ich gedacht hatte. Ich sagte ihm:

»Mit Ihrer Zustimmung will ich jetzt auf Urlaub gehen. Ich kenne jetzt Ihren Standpunkt in der Frage der »Welt« und werde Ihnen bis zum ersten Juli meine Antwort schreiben.«

Er antwortete schnell: »Schreiben Sie mir nicht! Ich bin überzeugt, Sie werden mir folgen. Ich spreche als Ihr wahrer Freund – zwar auch in meinem Interesse, aber nicht ohne das Ihrige zu berücksichtigen. Sie schaden sich, wenn Sie als Jude auf treten.«

Ich sagte: »Schaden? Das kann man nur, wenn man eine Lumperei begeht.«

Er rief: »Ueber Charakter brauchen doch wir zwei nicht zu sprechen. So etwas wird Niemand von Ihnen sagen oder glauben.«

Ich schloss: »Ich gehe jetzt auf Urlaub. Feuilletons werde ich Ihnen schicken. Hier konnte ich nichts arbeiten. Diese Gespräche mit Ihnen haben mich zu stark aufgeregt.«

Er entgegnete: »Mich auch! Also beherzigen Sie meinen Freundesrath. Sie versprechen mir, dass Sie die »Welt« eingehen lassen, nicht wahr?«

Ich versprach ihm aber nichts, sondern schüttelte nur stumm den Kopf.

Dennoch schieden wir »als Freunde«.

Nachmittag telephonirte Bloch an Steiner u. bat um eine Unterredung. Steiner möge mir einen »Friedensschluss« antragen. Bloch fürchtet, dass seine Wochenschrift zu Grunde gerichtet werden könne u. ist bereit, mit der »Welt« zu fusioniren. Er bittet um Frieden. Er will zum Zionismus übertreten, nur am Leben möge man ihn lassen.

Er will unserer Partei sein Blatt ganz zur Verfügung stellen. Wir sollen die Redacteure anstellen, er will sie bezahlen. Oder wir sollen die Welt der Wochenschrift beilegen.

Natürlich lehne ich diesen verspäteten Antrag ab. Ich lasse ihn nur so fest formuliren, dass wir ihm später die Nase in seinen Dreck stecken können, wenn er uns im Solde der reichen Juden angreifen wird.

Blochs Antrag ist das erste Beispiel von blitzartiger Panik, die wir auf unserem Wege wol noch öfter sehen werden.

Die vorgestern verbotene Versammlung der Zionistischen Studenten konnte uns bei den feigen Philistern sehr schaden.

Es war widriger Wind, ich beeilte mich, unser Schiff sofort wieder durch andere Segelstellung vor den Wind zu bringen. Das Verbot zionistischer Versammlungen konnte unsere Bewegung umbringen. Heute ist sie noch zu schwach, um zu widerstehen. Auch war ich in der Sorge, dass man uns den Zionsverband in Folge von Denunciationen der Cultusjuden auflösen könnte.

Ich schickte darum Landau ins Ministerrathspräsidium u. liess etwas Unmögliches verlangen: die Wiedergestattung der verbotenen Versammlung. Das, wusste ich, würden wir nicht durchsetzen – aber die Stimmung für oder gegen uns erforschen und gerade durch die Unbescheidenheit des Verlangens nach einem besonderen Vorzug uns als Leute (26) erscheinen lassen, die etwas verlangen dürfen.

Und so geschah es, wenn ich durch Landau recht berichtet bin. Er bekam die freundlichsten Zusicherungen von Dr. Rosner (der »Nichte der Coalition«) und Badeni gestattete, dass eine Versammlung mit der verbotenen Tagesordnung abgehalten werde – nur dürfte sie nicht von Studenten einberufen werden.

Zugleich nahm Badeni durch Rosner Kenntniss von der anti-socialistischen »Welt« und Regierungsrath Wohl im Polizeipräsidium machte Augen, als Landau ihm den »Wink von oben« übermittelte.

In der Politik muss man die Schwierigkeiten zum Vorwärtskommen benutzen.

17. Juni

Da die Münchener Cultusgemeinde gegen die Abhaltung des Congresses protestirt, haben wir heute im Actionscomite beschlossen, den Congress nach Basel zu verlegen ev nach Zürich. Vorher soll ich durch Wrede bei der bayerischen Regierung anfragen, ob sie etwas gegen den Congress einzuwenden hat. Ich schicke Wrede den folgenden Brief zur Weiterbeförderung an den Minister Crailsheim:

Fw. Excellenz,

als Vorsitzender der vorbereitenden Commission des Zionisten-Congresses, der für den 25 August nach München einberufen worden ist, beehre ich mich ergebenst anzufragen, ob die Königlich bayerische Regierung den Congress freundlich zu dulden gewillt ist. Ueber den Zweck des Congresses habe ich mich in dem Leit-Artikel der »Welt« geäussert, den ich zur Information hier beizulegen mir gestatte. Am Congress werden nur solche Personen theilnehmen können, die bis 15 August angemeldet sind und zur – geschlossenen – Versammlung eine Eintrittskarte erhalten haben. Der Zionismus will die Judenfrage in friedlicher Weise lösen, u. zw. durch Besiedlung Palästinas mit Juden, unter Zustimmung der Mächte, nach erfolgter Verständigung mit der Kaiserlich türkischen Regierung. Der Zionismus ist selbstverständlich eine vollkommen gesetzliche Bewegung und will seine menschenfreundlichen Ziele nicht anders als unter der wohlwollenden Aufsicht der Regierungen verfolgen. Der vorbereitenden Commission gehören auch mehrere deutsche Staatsbürger an.

Genehmigen Ew. Excellenz den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hochachtung.

Dr. Th H.

8. Juni

Erster Gang des Duells mit Benedikt.

Er fragte mich heute à brule pourpoint, als ich etwas beklommen ins Lesezimmer kam um das tägliche Feuilleton zu besprechen, u. während er sich wie immer nach Schluss des Abendblattes das Gesicht wusch:

»Haben Sie mit Bacher über die Welt gesprochen?«
»Nein«, sagte ich kampfbereit.
Er antwortete: »Das ist uns sehr unangenehm.«
»Wegen des Artikels in der Reichswehr?« fragte ich.
»Nein, ich habe den Artikel erst heute gelesen, er hat mich nicht genirt. Aber schon als ich das Inserat in unserer Pfingstnummer sah war ich wüthend. Es hätte gar nicht ins Blatt kommen dürfen. Es ist die Liste unserer Mitarbeiter.«
Ich zuckte die Achseln u. ging im Zimmer auf u. ab.
Er wischte sich das Gesicht ab: »Sie haben uns in eine Verlegenheit gebracht.«
Ich sagte mit lauter Stimme: »Der Artikel in der Reichswehr strotzt von den gemeinsten Lügen.«
Dann kam Goldbaum ins Zimmer – ich glaube, er hatte gelauscht – u. das Gespräch wurde abgebrochen. Wir redeten Gleichgiltiges.

8. Juni Nachts

An dieser Stelle bin ich vorgestern Nachts vor Müdigkeit eingeschlafen.

Die Administration der N[euen] Fr[eien] Pr[esse] nahm das Inserat »ungern«, wie telephonisch meiner Administration mitgetheilt wurde. Die Aufnahme einer Notiz in den Text der N[euen] Fr[eien] Pr[esse] wurde aus »politischen Gründen« abgelehnt.

Mir war’s auch gar nicht darum zu thun, dass die Notiz ins Blatt käme. Ich wollte nur Benedikt ein faire part vom Erscheinen der »Welt« zuschicken, auf das er mir nicht mit einem Verbot antworten könnte. Darum wählte ich den Geldweg. Die halbe Seite im Annoncentheil der N[euen] Fr[eien] Pr[esse] kostet 75 fl. Es sprach einige Wahrscheinlichkeit dafür, dass Benedikt diesen Betrag nicht refüsiren würde.

Und so ist die »Welt« in der N[euen] Frfeien] Pr[esse] angezeigt erschienen

Samstag vor Pfingsten, 5 Juni, sah mich Benedikt mit gar curiosen Augen an. Wir verkehrten wie sonst in der Redaction, aber es lagen bereits zwei Administrationen zwischen uns. Ich glaube, er hätte gern mit mir eine scharfe Auseinandersetzung gehabt, aber er hing in diesem Augenblick von mir ab: ich hatte mein Pfingstfeuilleton noch nicht abgeliefert, u. er brauchte es dringend für die Pfingstnummer.

Am Pfingstsonntag, vorgestern, erschien in der officiösen »Reichswehr«*» ein grimmiger zweiter Leitartikel gegen die »Welt« unter dem Titel »Benedictus I König von Zion.« Benedikt wird darin als Zionist behandelt. Ich glaube, er wird bis an die Decke springen, vor Wuth.

Wenn ich heute in die Redaction komme, muss ich wieder, vielleicht zum letztenmale zum Gefecht klar machen. Die Auseinandersetzung ist heute fällig. Ich weiss nicht, wie sie enden wird. Vielleicht werde ich in den nächsten 24 Stunden, so lange noch die Blätter dieses Buches reichen, von der N[euen] Fr[eien] Pr[esse] entlassen?

Ich blicke dieser Eventualität gefasst entgegen. Herzklopfen habe ich allerdings dabei, aber das ist nur eine Schwäche dieses Muskels, nicht meines Willens.

Sollte mich die N[eue] Fr[eie] Pr[esse] wegjagen, so habe ich meine Stellung, die ich mir in zwanzig Jahren der Arbeit schwer erwarb, auf eine Weise verloren, deren ich mich auch nicht schämen muss.

Das englische »Hauptquartier« der Chowewe Zion hat sich officiell vom Münchener Congress losgesagt und das in einer trockenen bösartigen Notiz verlautbart. Jewish Chronicle brachte diese Anzeige am 4 Juni

The Proposed Zionist Conference at Munich.

A meeting of Headquarters Tent of the Chovevi Zion Association was held on Monday last, the Chief, Colonel GOLDSMID, presiding. It was resolved that the Association should take no part in, nor send any delegates to, the Congress convened by Dr. Herzl which is to meet at Munich in August next.

Gleichzeitig macht Hildesheimer die amerikanische Bewegung herunter. »Es dürfen sich nur wenige einflusslose Kreise aus Amerika am Congress betheiligen.«

6. Juni – Nachts

»Die ︎✡️ Welt« ist erschienen. Ich bin recht sehr erschöpft. Diese Pfingstwoche 1897 werde ich mir merken. Neben der Weltarbeit auch noch die Stimmung erzwingen für ein Pfingstfeuilleton der N[euen] Fr[eien] Pr[esse]. Dazu die Aufregung im Bureau, dass es jetzt u. jetzt zum Krach u. Bruch mit Benedikt wegen der »Welt« kommen müsse. Mehrmals war ich daran, ihm wenigstens das fait accompli mitzutheilen. Er fährt mich in seinem Wagen jetzt öfters aus der Redaction nach Hause. Dabei wäre die beste Gelegenheit, über Alles zu reden. Aber ich entschloss mich endlich, ein Inserat gegen Bezahlung einfach der N[euen] Fr[eien] Pr[esse] zuzuschicken. Das Inserat nahm die Administration.

26. Mai

Ich arbeite bis zur Erschöpfung, bis zum Zusammenbrechen, an der neuen Zeitung.

Zwei Abonnenten haben sich gemeldet. Auf viele hundert verteilte Agitationsanzeigen der „Welt“ sind überhaupt erst drei briefliche Antworten gekommen.

Meine näheren Parteifreunde glauben an den Mißerfolg.

23. Mai

Heute war „Pater Paulus“ Tischmann bei mir. Wunderliche Gestalt von den Grenzen der Religionen. Verwahrlost aussehendes Jüdlein mit schwerem polnisch-jüdischem Akzent, vor kurzem noch katholischer Geistlicher. Er erzählte mir, wie er im Alter von 15 Jahren eingefangen, getauft und später ordiniert wurde, wie er es auf die Dauer nicht aushielt und in Siebenbürgen auf der Kanzel eine Gotteslästerung beging. Er wurde angeklagt und freigesprochen, nachdem er zum Judentum zurückgekehrt war. Eine Romanfigur. Jetzt hospitiert er wieder bei Rahbinern. Ich glaube, er schnorrt auch ein bißchen. Ich gab ihm eine Kleinigkeit. Kurios, daß er für seine „Rückkehr“ wohl keinen Dank bei den Juden findet. Früher, unterm Krummstab, ging’s ihm gut.

Er sagt aber doch mit glänzenden Augen: „ich habe aber die innere Befriedigung.“

Das ist das kostspieligste aller Vergnügen, ich weiß es.

Haas schreibt, daß man in Amerika wünscht, ich möge drüben eine „Vortragstournee“ machen.

23. Mai

Die Bewegung beginnt in Amerika.

Michael Singer, Herausgeber einer neuen Wochenschrift „Toleranz“ schickt mir Berichte über Meetings in New- York usw. Eine Babbinerkonferenz mit Dr. Gottheil an der Spitze hat sich für unsere Bewegung erklärt.

„New York Sun“ brachte am 10 Mai Artikel über den Zionismus.

Als ich gestern die Sun-Spalte Benedikt zeigte, sagte er wohlwollend; „Die ganze Welt machen Sie verrückt. Der reine Rattenfänger von Hameln.“

Ich erwiderte: „An Ihnen werde ich eine Genugthuung erleben, wenn Sie gezwungen sein werden, den Bericht über den Münchener Congress aus der Kölnischen Zeitung zu nehmen, nachdem Sie durch 1 1/2 Jahre Gelegenheit hatten, am besten von allen unterrichtet zu sein.“

Worauf er entgegnete.

„Nein. Wir werden einfach am 26 August einen Bericht aus München im Blatt haben.“

Und diese hingeworfenen Worte, die er eher halten wird, als seine Versprechungen — weil er muß, weil das Blatt nicht „zurückbleiben“ darf — diese kurze Erklärung stellt, wenn ich nicht irre, schon meinen Sieg über die N[eue] Fr[eie] Pr[esse] vor. Der Sieg kann nur bis zum August noch wiederholt entrissen werden — gestern hielt ich ihn in Händen.

 

13. Mai

Gestern Abends Prof. Kellner u. Dr. Kokesch von meinem Entschluss Mittheilung gemacht. Sie waren überrascht. Kellner sagte: »Sie verblüffen Einen durch das Tempo Ihres Marsches, der reine Moltke.« Die Herren wolten zunächst eine Comiteberathung provociren. Ich machte Kellner den Antrag, als Herausgeber oder verantwortlicher Redacteur aufs Blatt zu gehen. Er lehnte das Wagniss im Hinblick auf seine Stellung ab. Kokesch erklärte sich bereit, als Herausgeber zu figuriren.

Ueber Nacht fiel mir der Titel des Blattes ein: »Die Welt« mit dem Mog’n David, in das ein Globus hineinzuzeichnen wäre mit Palästina als Mittelpunkt.

Landau kam u. stellte plötzlich höhere Forderungen, als er sah, dass es mit dem Blatt, um das er mich 1 1/2 Jahre gebeten, Ernst werden solle. Er müsse »seinen Zeitverlust berechnen, Entgang anderen Erwerbs etc.« Worauf ich ihn einlud, seine Wünsche schriftlich zu formuliren. Er brachte Nachmittags ein Document, worin er ausser dem Fixum von 50 fl. das ja bescheiden wäre, 20% vom Reinertrag verlangte. Steiner, dem ich eine Betheiligung am Reinertrag anbot, hatte für sich abgelehnt u. rieth mir auch Landaus Begehren abzulehnen, da es ja meine Absicht ist, den eventuellen Reinertrag zur Vergrösserung der Agitation zu verwenden.

Nachmittags waren Kellner, Steiner, Schnirer, Kokesch, Landau bei mir versammelt. Steiner brachte einen reizend entworfenen Titel »Die ︎✡️ Welt« mit, der allgemeinen Beifall fand.

Im Uebrigen schien sich merkwürdigerweise eine Gegenstimmung bei den Herren gegen das Blatt zu regen. Sie wurde zuerst nicht ausgesprochen, ich fühlte sie nur. Kellner sprach gegen die Gründung des Blattes als eine verfrühte.

Schnirer empfahl die Gründung.

Steiner meinte, man sollte vielleicht früher eine »Synagogentour« machen u. zuerst Abonnenten in den verschiedenen Ländern werben.

Ich bemerkte, dass ich schon vor Monaten proponirt hatte, sich durch vorläufige Sammlung von Abonnenten einer Basis für das von Allen dringend gewünschte Organ der Bewegung zu versichern. Dies war ebensowenig geschehen, wie Anderes, was ich empfahl, wenn ich es nicht selbst that. Also habe ich mich entschlossen, das Blatt einfach selbst zu schaffen, mit meinem Geld und mit meiner Arbeit.

Hierauf gingen die Herren, die soeben noch zu wenig erwartet hatten, mit einem Sprung in zu grosse Erwartungen über. Kellner kaute ein bischen an dem Gedanken herum: dass ich als Unternehmer ja meine Arbeit gratis in das Blatt hineinstecken könne, dass aber Andere doch auf dem Honorarstandpunkte stehen müsste[n].

Darauf bat ich die Herren, sich doch in das Verhältniss des Miteigenthums zum Blatte zu stellen, indem sie entweder Geld oder Arbeit darin anlegen. Geld wollte Keiner dazu geben, Kellner aber versprach, seine Arbeit gegen eine Gewinnbetheiligung beizusteuern, womit ich sehr zufrieden war.

9. Mai

Die Berliner »sagen sich vom Congress los«
Ich vermuthe, dass dahinter eine Scheid’sche Intrigue steckt.
Bambus u. Hildesheimer desavouiren meine Congressanzeige in den Berliner jüdischen Blättern.

Jüdische Presse vom 7 Mai 97

Deutschland.

Berlin, 5. Mai. Vor einigen Wochen veröffentlichte Herr Dr. Theod. Herzl in Wien eine Vorankündigung, wonach am 25. August d.J. in einer Stadt Süddeutschlands ein »Zionistenkongreß« stattfinden soll. Unter den als Referenten genannten Rednern figurirte auch der Herausgeber dieses Blattes, welcher über das Thema »Die Aufgaben der jüdischen Wohlthätigkeit in Palästina« sprechen sollte. Eine hiesige jüdische Zeitung druckte diese Anzeige nach, brachte aber bereits in der darauffolgenden Nummer nachstehende Zuschrift des Herrn W. Bambus, welcher selbst Mitglied der mit der Vorberathung des geplanten Kongresses betrauten Kommission ist:
„Es finden in der That Berathungen über die Einberufung des großen Kongresses statt, der sich mit allgemeinen jüdischen Fragen, wie die Auswanderung der russischen Juden etc., zu beschäftigen haben wird. Ob derselbe nach den von Herrn Dr. Herzl mitgetheilten Vorschlägen ein Zionisten-Kongreß sein wird, oder nach den von anderer Seite gemachten Propositionen eine Konferenz der Palästina-Vereine, oder ob er noch andere Form erhalten wird, ist heute noch nicht zu entscheiden, denn die ganze Angelegenheit befindet sich noch durchaus im Stadium der Vorberathung. Damit fallen auch alle an den Plan des Herrn Dr. Herzl geknüpften Folgerungen hinweg.«

Da Herr Dr. Herzl trotzdem mit der Versendung seiner Vorankündigung fortfährt, sieht sich der Herausgeber dieses Blattes zu der Erklärung gezwungen, daß er selbstverständlich nie die Absicht gehabt hat, an einem »Zionisten-«Kongreß theilzunehmen, sondern seine Anwesenheit und seine Mitwirkung einzig und allein für den Fall in Aussicht gestellt hat, daß die geplante Versammlung einer Besprechung der mannigfachen Aufgaben des palästinensischen Hilfswerks, insbesondere der Kolonisation, gewidmet sein würde. Die Theilnahme an einer Versammlung, welche »zionistische« Theorien und Zukunftspläne diskutirt, glauben wir – von unserem prinzipiell völlig abweichenden Standpunkte abgesehen – um so nachdrücklicher ablehnen zu müssen, weil dieselbe unserer Ueberzeugung nach anstatt des erhofften Nutzens nur schweren Schaden zu zeitigen und näherliegende, realisirbare Bestrebungen zu kompromittiren und ernsthaft zu schädigen droht. Es darf noch immer die Hoffnung gehegt werden, daß die bessere Einsicht siegen und der Aufwand an Kraft und Mitteln in den Dienst derjenigen Aufgaben gestellt werden wird, welche, wie von uns, selbst von Männern, die den Standpunkt des Herrn Dr. Herzl grundsätzlich theilen, als die nächstliegenden betrachtet werden. Nur in diesem Falle kann die zweifellos in bester Absicht geplante Veranstaltung wirklich Segen bringen.

Gleichzeitig theilt mir Landau einen Brief mit, worin Hildesheimer ihm vertraulich schreibt, er müsse mich desavouiren, um seine Autorität bei seiner Spender-Clientel nicht zu verlieren.

Meine Antwortet auf Hildesheimers Bubenstreich steht im Copirbuch S. 16 fg

 

24. April

Eine Perfidie von Bambus.

Ich erhalte heute von ihm die Anzeige, dass er an einige jüdische Blätter eine Berichtigung meiner Congressanzeige gesendet habe.

Der Zweck ist klar: er will mich als einen Hableur hinstellen, den Congress untergraben, vielleicht schon im Aufträge Scheids.

Als Vorwand gibt Bambus an, dass die Münchener Juden ausser sich seien u. gegen die Abhaltung des Kongresses in München protestiren.

Wie weit das wahr ist, ob nicht auch da die Intriguen des sich bedroht fühlenden Scheid dahinter sind, werden wir noch herauskriegen.

Vielleicht ist es nur platte Eifersucht der Berliner, die fürchten, dass ich die ganze Leitung in die Hand bekomme.

Ich schreibe sofort an Bambus u. verlange die Revocation der Berichtigung, sonst würde ich mich von ihm trennen. Gleichzeitig schreibe ich an Bodenheimer-Köln, verständige ihn von der Intrigue u. verlange die Zusicherung seiner Standhaftigkeit. Eventuell wird Köln der Hauptort des deutschen Zionismus.

Wenn man in München Miseren macht, gehe ich mit dem Congress nach Zürich

(…)

14. April

62 Geburtstag meines theuren Vaters.

* * *

Für den Congress:
Die reichen Juden brauchen nur so viel jährlich herzugeben, als sie sonst für Wohlthätigkeit budgetieren. Dafür setzen wir die Armen nach Palästina.

* * *

Kundmachung an Buchhändler, die das stenographische Protokoll des Congresses verlegen wollen. Anträge an Zion in Wien zu richten.

* * *

Ich werde alle grossen Blätter zum Congress einladen. Aber wer Platz reservirt haben will, muss früher anmelden. Dadurch erzwinge ich vielleicht, dass Alle vom Congress reden – aus Concurrenzfurcht. 
Auch die N[eue] Fr[eie] Pr[esse].

(…)

4. April

Die hiesige „Union“ lud mich zu einer Vorbesprechung über den Antrag, eine große Versammlung einzuberufen, worin die Lage der Juden in Österreich erörtert werden solle. 

Ich setzte es durch, daß die Abhaltung der Versammlung beschlossen wurde. Zur Vorbereitung wurde ein Komitee eingesetzt — und dieses Komitee beschloß, sich zu vertagen.

Ich habe zweimal drei Stunden in Argumentationen verloren, die Steine weich gemacht hätten.

In der ersten Besprechung Dienstag sagte ich, daß Graf Badeni bald einem klerikaleren Ministerpräsidenten Platz machen werde. Ein Advokat, namens Dr. Elias, lächelte überlegen: „Badeni wird den Reichsrat auflösen, wenn er keine Majorität hat.“

Vorgestern, Freitag abend, war die Komiteesitzung, die ich am Dienstag erkämpft hatte. Und Freitag mittag hatte Graf Badeni seine Demission überreicht — zur allgemeinen Überraschung.

* * *

Aus Schaulen in Rußland zwei Briefe einer Kolonistin von Rischon le-Zion erhalten. Sie heißt Helene Papiermeister und schildert in grellen Farben die Mißstände und Unterschleife des Rothschildschen Direktors Scheid. Ich schicke die Anklagen an Bentwich, der sie, wenn möglich, bei Gelegenheit seiner Palästina-Pilgrimage untersuchen soll.

Der Papiermeister schreibe ich, sie möge die Beschwerden gegen Scheid in beglaubigter Weise vor den Münchner Kongreß bringen.

Mit diesem Kongreß wird ein Forum für die armen Opfer unserer „Wohltäter“ und ihrer Beamten geschaffen.

* * *

Von de Haas aus London ein entmutigter Brief. Col. Goldsmid habe ihn kommen lassen, ihn beschworen, vom Kongreß abzustehen, damit keine „Spaltung“ unter den Chovevi Zion entstehe. Ich möge lieber am Delegiertentag aller Zionisten in Paris im nächsten Herbst teilnehmen.

Ich schreibe Haas, er solle unverzüglich, unbekümmert, mit seinem Anhang darauflos marschieren.

Spaltung — tant pis!

Von all diesen Pickwickier-Clubs und headquarters will ich nichts mehr wissen.

* * *

Heute auch ein Brief von Col. Goldsmid, der mir schreibt, was er Haas sagte, mich beschwört, meine Kräfte mit den ihrigen zu vereinigen, mich seiner aufrichtigen Freundschaft versichert.

Ich antworte ihm:

Mein lieber Oberst!

Dank für den herzlichen Ton Ihres Briefes. Auch ich bin Ihnen aufrichtig zugetan und bedauere nur, daß Sie mich nicht verstehen.

Der Münchener Kongreß ist eine beschlossene Sache, von der ich nicht mehr abgehen kann. Aber er ist auch eine Notwendigkeit. Lassen Sie sich von Rev. Gaster den Brief zeigen, worin ich der J.C.A. empfahl, einen jetzt möglichen Landkauf mit Einwanderungsbefugnis vorzunehmen. Mein Vorschlag wurde, wie mir Zadok Kahn schreibt, ad acta gelegt. Diese Herren wollen und werden nichts tun.

Ich habe lange genug gewartet. Im August werden es zwei Jahre, daß ich die ersten praktischen Schritte in der Judensache unternahm. Ich wollte es ohne Aufregung der Massen, von oben herab machen, mit den Männern, die sich bisher im Zionismus hervorgetan hatten. Man hat mich nicht verstanden, nicht unterstützt. Ich mußte allein weitergehen. Auf dem Kongreß in München werde ich die Massen aufrufen, zur Selbsthilfe zu schreiten, da man ihnen nicht helfen will.

Ihren Vorschlag, die Teilnahme der Chovevi Zion vom Pariser Zentralkomitee abhängig zu machen, halte ich für aussichtslos. Die Pariser Antwort kenne ich im voraus. Es ist die Ablehnung. Es arbeitet da hinter den Kulissen jemand, mit dem ich mich weder auf eine Konkurrenz, noch auf einen Streit einlasse. Wer das ist, sagt Ihnen der beiliegende Brief. Ich vertraue den Brief Ihrer Diskretion als Gentleman an. Schicken Sie mir ihn zurück.

Dieser Mann hat seit Jahr und Tag gegen mich intrigiert. Ich glaubte anfangs, er fürchte für seine Stellung, und hatte darum nur Mitleid mit ihm. Seit einiger Zeit kommen mir aber solche Beschwerden von den verschiedensten Seiten über ihn zu. Jetzt verstehe ich alles.

Jedenfalls wird er alles aufbieten, um den Kongreß zu vereiteln. Er wird die nobelsten Gründe erfinden, um das Pariser Komitee von München fernzuhalten. Er wird als „Kenner des Orients“ Befürchtungen erregen usw. usw. Er wird sagen, die Öffentlichkeit schädige unsere Bestrebungen. Alles unwahr. Der Sultan und seine Räte kennen den Judenplan. Ich habe mit den türkischen Staatsmännern ganz offen gesprochen, und die haben es nicht übelgenommen. Als unabhängigen Staat wollen sie uns Palästina um keinen Preis geben; als Vasallenstaat (vielleicht wie Ägypten) könnten wir das Land unserer Väter in kürzester Zeit bekommen. Wir hätten es heute schon, wenn man im vorigen Juli auf meine Londoner und Pariser Vorschläge eingegangen wäre. Begreifen Sie meinen Zorn und meine Ungeduld?

Sie, Oberst, sollten ähnlich wie Woods, Kamphövener, v. d. Goltz und andere fremde Offiziere als General in türkische Dienste treten, und als solcher hätten Sie in Palästina unter der Suzeränität des Sultans kommandiert. Bei dem Zerfall der Türkei würde uns oder unseren Söhnen dann Palästina unabhängig zufallen. War der Plan so unsinnig? Das finanzielle Arrangement war noch einfacher, wenn die Geldmagnaten, wie ich es vorschlug, mitgegangen wären. Montagu hat mein Anlehensprojekt gebilligt.

Da es nicht so ging, muß es anders gehen. Sie irren sich, glaube ich, wenn Sie von den Massen keine Geldkraft erwarten. Jeder hat nur ein kleines Opfer zu bringen, und die Leistung wird schon enorm. Das wird Sache der Weltpropaganda sein, die vom Münchner Kongreß ihren Ausgang nehmen soll. Darum, als um eine Geldsache, habe ich mich nicht zu kümmern. In München werden auch Geldfachleute sein, die diesen Teil der Aufgabe besorgen werden.

In München wird nach langer Zeit wieder eine jüdische Nationalversammlung stattfinden !

Ist das nicht etwas so Großes, daß jedes jüdische Herz bei diesem Gedanken höher schlagen muß? Heute noch in der Fremde, leschonoh haboh vielleicht in der alten Heimat?

Sie, Oberst Goldsmid, der Sie mich an jenem Abend in Cardiff so tief bewegten, als Sie mir Ihre Geschichte erzählten, und mit den Worten begannen: ,,I am Daniel Deronda“ — Sie sollten an dieser jüdischen Nationalversammlung nicht teilnehmen wollen? Ich könnte es begreifen, wenn Sie Rücksichten auf Ihre dienstliche Stellung für Ihre Person nehmen müßten. Aber vom zionistischen Standpunkt aus können Sie doch nichts dagegen haben.

Daß ich keine selfish aims habe, müssen Sie glauben. Eben jetzt in den Parlamentswahlen wurden mir drei Mandate von Bezirken angeboten, wo Juden die Majorität haben. Ich lehnte ab. Ich habe keinerlei persönlichen Ehrgeiz in der Judensache.

Man stelle mich auf die Probe. Noch einmal proponiere ich folgendes: Stellen Sie sich mit Edm. Rothschild, Montagu, und mit wem Sie sonst noch wollen, zusammen. Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß Sie das ausführen wollen, was ich in Konstantinopel eingeleitet habe — und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich von der Leitung der Judensache für immer zurücktrete.

Ist Ihnen das nicht möglich, so vereinigen Sie Ihre Kraft mit meiner. Arbeiten wir zusammen!

Käme es aber zu einer Spaltung zwischen den „großen“ Geldjuden und uns, so werden nicht wir übel daran sein, sondern jene. Drüben werden ein paar Geldsäcke mit ihren Schnorrern und Lakaien stehen — hüben wir mit allen edlen, mutigen, intelligenten und gebildeten Kräften unseres Volkes.

Mit Zionsgruß

Ihr aufrichtiger Freund

Th. Hcrzl.

Beilage: Brief der Frau Papiermeister aus Schaulen.

(…)

24. März

Der ägyptische Emissär Mustafa Kamil, der schon einmal hier war, hat mich wieder besucht. Er macht wieder eine Tournee, um Stimmung zu erregen für die Sache des ägyptischen Volkes, das die englische Herrschaft los werden möchte. Dieser junge Orientale macht einen vorzüglichen Eindruck; er ist gebildet, elegant, intelligent, beredsam. Ich notiere seine Gestalt, weil er wohl noch eine Rolle in der Politik des Orients spielen wird — wo wir uns möglicherweise begegnen werden.

Der Nachkomme unserer einstigen Bedrücker in Mizraim seufzt jetzt selbst über Leiden der Unterjochung, und sein Weg führt ihn bei mir, dem Juden, vorüber,
dessen publizistische Hilfe er sucht. Ich habe ihn, da ich für ihn jetzt nicht mehr tun kann, meiner Sympathien versichert.

Ich glaube, ohne es ihm zu sagen, daß es für unsere Sache gut wäre, wenn die Engländer gezwungen würden, Ägypten zu verlassen. Denn dann müßten sie für den verlorenen oder mindestens unsicher gewordenen Suezkanal einen anderen Weg nach Indien suchen. Da wäre das moderne jüdische Palästina für sie ein Auskunftsmittel — die Bahn von Jaffa nach dem Persischen Golf.

24. März

Gestern mit dem türkischen Botschafter bei Newlinski gespeist. Mahmud Nedim schmollte anfangs mit mir, offenbar wegen der türkenfeindlichen Haltung der N. Fr. Pr. [Neuen Freien Presse]. Ich benutzte einen Gesprächszwischenfall, um hinzuwerfen, die Blätter könnten nie eine andere auswärtige Politik machen als die Regierung ihres Landes. Dann pries ich die Lebensfähigkeit der Türkei, die noch große Tage sehen würde, wenn sie die jüdische Einwanderung begünstigen wollte.

Der arme Botschafter sagt ganz offenherzig: „Schlechter, als es uns jetzt geht, kann es bald nicht mehr werden“.

Das Milieu, in dem ich mich da befand, war kurios. Es ist diplomatische Halbwelt. Neben dem Botschafter saß Direktor Hahn von der Länderbank, finanzielle Halbwelt. An der anderen Seite der Hausfrau Fürth, derzeit Sekretär des Fürsten von Bulgarien. Fürth war in Paris nach seinem Abschied von Hirsch eben im Beriffe, Remissier an der Börse zu werden — ich erinnere mich, daß er mir im Wagen auf der Rückfahrt aus dem Bois erzählte, er vermittle jetzt Börsenaufträge in Goldminenaktien für Aristokraten — da bekam er die Anstellung beim Fürsten Ferdinand, ich glaube durch Vermittlung der Jesuiten, als Lohn für seine Taufe.

Newlinski selbst ist eine große Gestalt — ich weiß nicht, ob ich ihn in meinen Aufzeichnungen schon fixiert habe. In Konstantinopel waren meine Eintragungen beengt durch die Möglichkeit, daß er bei unserer intimen Reise irgendeinmal mein Tagebuch in die Hand bekommen könnte. Er ist ein grand seigneur déchu. Er hat eines Tages den äußeren Halt seines angestammten Lebenskreises verloren und ist in eine tiefere Schicht geraten, deren Tugenden und Fehler er nicht hat, wo er mißverstanden und geringgeschätzt wird.

Es gibt bei ihm kuriose Wahrnehmungen. Er hat die Technik der Diplomatie, alle feinsten und tiefsten Eigenschaften der „Karriere“ — aber diese sind im bürgerlichen Leben absolut nicht am Platz. Dadurch ist er eine halbbrüchige Existenz und macht einen verdächtigen Eindruck.

Dabei hat er die große slawische Liebenswürdigkeit, und ich stehe nach wie vor unter dem Bann seiner großen geistigen Qualitäten.

Darum sehe ich aber doch deutlich, daß es diplomatische Halbwelt ist — der kümmerliche Botschafter des verkrankten Kaisers der Türkei obenan. Aber auch dieser arme Botschafter und sein armer Herr sind mir herzlich sympathische Gestalten.

24. März.

Heute mit Benedikt von der Redaktion nach Hause gegangen. Wieder wie immer das Gespräch auf die Judensache gebracht. Ich befolge jetzt die Taktik, ihn zu ängstigen, da ich bemerkte, daß er zum Erschrecken inkliniert. Ich kann natürlich nur durch die Blume — drohen.

Allerdings habe ich jetzt auch wirklich schon die Besorgnis, daß die Juden in Wien zu spät auf meinen Plan eingehen werden. Sie werden nicht mehr die politische Bewegungsfreiheit haben, vielleicht auch nicht mehr die Freizügigkeit — sowohl von Personen wie auch von Sachen — um nach Zion schauen und gehen zu können.

Ich sagte Benedikt: „Die nächste Folge des Antisemitismus, noch vor den gesetzlichen und administrativen Schikanen, wird ein Krieg der Juden gegen die Juden sein. Die schon jetzt gedrückten und bedrohten Schichten der Juden werden sich gegen die Großjuden wenden, welche sich von Regierung und Hetzern mit Geld und Diensten loskaufen.“

Das begriff er und sagte: „Es soll daraus nur nicht ein Kampf gegen die Reichen überhaupt werden.“

Ich erwiderte: „Wenn der Kampf begonnen hat, läßt er sich nicht mehr begrenzen. Wer die Zeichen nicht verstanden, die Notschreie überhört hat, wird es sich selbst zuschreiben müssen.“

Und dann erzählte ich ihm, was mir eben einfiel, weil ich die Listen für die Kongreßeinladungen von Schnirer hatte holen lassen, daß wir die Namen und Adressen absolvierter Hochschüler, die unsere Anhänger sind, auf einer zionistischen Kundgebung gesammelt haben. (Das ist die Adresse, die für mich aus Anlaß der Publikation des „Judenstaates“ vorbereitet wurde.)

Da sah ich den Ausdruck des Schreckens in seinem Gesicht.

Ich hatte einen Schlag auf seine Einbildungskraft geführt. Ich erriet, was er in seinem Schrecken plötzlich dachte: das sind die Adressen der Abonnenten für das Konkurrenzblatt der N. Fr. Pr.

* * *

Vorgestern, Montag, nach der Wahl in der Leopoldstadt, als der Antisemit gegen den „Liberalen“ unterlag, gab es einen Rummel in diesem Judenviertel.

Einige Pöbelbanden zogen umher, schlugen Fensterscheiben von Kaffeehäusern ein, plünderten etliche kleine Läden. Auch wurden Juden auf der Gasse beschimpft und geprügelt. Als man das in den Morgenblättern las, gab es, glaube ich, der Judenschaft einen Schock — der aber schnell verwunden war. Es muß ärger kommen, es wird ärger kommen. Freilich, die Millionäre werden sich dem Übel leicht entziehen; und die Wiener Juden sind wie die meisten unseres Volkes Ghettonaturen, die froh sind, wenn sie nur mit einem blauen Auge davonkommen.

„Fasse ich den Baseler Kongreß in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde, öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universales Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in fünfzig wird es jeder einsehen.“

Auf dem Kongress wurde die Zionistische Organisation gegründet und das so genannte Baseler Programm verabschiedete, das „für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina“ forderte. Der Kongress, der zunächst jährlich, später alle zwei Jahre stattfand, steht am Beginn des Prozesses, der den Zionismus zu einer politischen Bewegung formte und muss daher als wichtigster Antrieb für die Gründung des Judenstaates gesehen werden. Tatsächlich sollte es nur wenig mehr als 50 Jahre dauern, bis aus Herzls Vision Wirklichkeit und der Staat Israel ausgerufen wurde.

Seit dem Erscheinen von Herzls programmatischer Schrift „Der Judenstaat“ arbeitete er unermüdlich an der praktischen Umsetzung seiner Idee. Er begann seine zahllosen Reisen durch Europa, um für Unterstützung für die zionistische Sache zu werben. Im Juni 1897 gründete er die Wochenzeitung „Die Welt“ als zionistisches Organ, für die er über die Jahre hinweg sein gesamtes Privatvermögen opfern sollte.

Der Judenstaat
Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage
[Deutsches Original]
Vorrede
Einleitung Allgemeiner Teil Die Jewish CompanyOrtsgruppen Society of Jews und Judenstaat Schlußwort
[Hebräische Übersetzung]

Altneuland
[Erstes Buch – Ein gebildeter und verzweifelter junger Mann] [Zweites Buch
Haifa 1923] [Drittes Buch – Das blühende Land] [Viertes Buch – Pesach] [Fünftes Buch – Jerusalem]
Im Jahre 1902, zwei Jahre vor seinem viel zu frühen Tod, sorgte Theodor (Binjamin S’ew) Herzl mit dem Erscheinen eines „utopischen Romans“ für eine Überraschung. In der Einleitung schrieb er „Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen„. Schon wenige Monate später erschien das Buch auch auf hebräisch. Der Titel: „Tel-Awiw„.

Weitere Texte
[Selbstbiographie]
[Eröffnungsrede zum ersten Kongreß]
[Protestrabbiner]
[Mauschel]
[Die Menorah]
[Letzte Briefe an David Wolffsohn]

[Ben-Ami: Erinnerungen an Theodor Herzl]