„Das Exil war meine Universität“

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In einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen des nationalsozialistischen Vernichtungs- und Vertreibungsterrors aus Österreich von uns gehen, wie kürzlich Vilma Neuwirth oder Ari Rath, ist es von besonderer Bedeutung, das Vermächtnis dieser Personen für die Nachwelt festzuhalten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Der ebenfalls bereits im September des vergangenen Kalenderjahres verstorbenen Hannah Fischer hat die Zeithistorikerin Sandra Wiesinger-Stock einen schmalen Porträtband gewidmet, der im mandelbaum verlag erschienen ist und zu einem großen Teil auf Selbstaussagen Fischers basiert…

Von Monika Halbinger

Hannah Fischer, 1925 in Wien in eine mittelständische Familie geboren, gilt als Pionierin der psychoanalytischen Pädagogik und konnte auf ein bewegtes, ereignisreiches Leben zurückblicken, in dem die Verfolgung durch die Nationalsozialisten prägende Spuren hinterließ. Als Jüdin konnte sie mit Hilfe eines Kindertransportes 1938 gerade noch rechtzeitig, gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder Rafael, dem Terror nach Großbritannien entfliehen. Verantwortungsbewusstsein und Solidarität wurden ihr schon im Elternhaus vorgelebt. Ihre journalistisch sowie politisch aktive, kommunistische Mutter war bereits während des Austrofaschismus inhaftiert und wurde vom konservativen Vater, der bei der Israelitischen Kultusgemeinde in Wien als Rabbiner angestellt war, in dieser schwierigen Situation vorbehaltlos unterstützt. Durch den Besuch des jüdischen Chajes-Gymnasium, dessen SchülerInnen aus ökonomisch unterschiedlichen Milieus stammten, verinnerlichte sie zudem ein tief in der jüdischen Vorstellung verankertes Ideal, nämlich dass das Recht auf Bildung unabhängig von der sozialen Herkunft gegeben ist.

In Großbritannien besuchte Hannah Fischer zunächst als Stipendiatin die Badminton Schule in Bristol und arbeitete  ab 1941 als trainee in Kinderbetreuungsreinrichtungen, die von Anna Freud geleitet wurden. Die Arbeit machte ihr viel Freude und in den Hampstead War Nurseries unterstützte sie Anna Freud bei der wissenschaftlichen Forschung. Später war sie auch als Kindergärtnerin im Austrian Center, einer kommunistisch geprägten, österreichischen Exilorganisation, tätig, wo sie unter anderem für die Töchter der ebenfalls aus Wien geflohenen Familie Spira, von denen eine die heute bekannte österreichische Fernsehjournalistin Elizabeth T. Spira ist, sorgte.

1946 ist Hannah Fischer eine der ersten und wenigen Rückkehrerinnen nach Wien. Der österreichische Staat hat sich bekanntermaßen nicht darum bemüht, die Geflüchteten in die Heimat zurückzuholen.  Und viele Emigranten, darunter auch Hannah Fischers Eltern und ihr Bruder, konnten sich verständlicherweise angesichts des offenen Fortbestehens von antisemitischen Haltungen und auch der personellen Kontinuitäten von Nazis in führenden Positionen, einen Neubeginn in Österreich nicht vorstellen. Hannah Fischer sah ihre persönliche Aufgabe als Schülerin Anna Freuds aber darin, die Erkenntnisse der in der Emigration weiterentwickelten psychoanalytischen Pädagogik nach Österreich zu bringen, und mit diesem Wissenstransfer auch am Aufbau eines neuen, demokratischen Österreichs mitzuwirken.  Den Kampf für das „andere, freie Österreich“ hatte sich während des Zweiten Weltkrieges schon die bedeutendste österreichische Exiljugendorganisation in England, Young Austria, in der Hannah Fischer engagiert war, auf die Fahnen geschrieben; im Übrigen ganz im Gegensatz zu den Sozialisten, die ein sozialistisches Großdeutschland propagierten. Hannah Fischer trat dann auch zunächst der Kommunistischen Partei bei, die ihr angesichts ihrer Exilerfahrung am nächsten im Spektrum der politischen Organisationen stand, später wurde sie Sozialdemokratin.

Die Rückkehr in die alte Heimat erwies sich erwartungsgemäß als schwierig. Neben antisemitischen Anfeindungen kämpfte sie auch im Beruf mit Hindernissen, da ja nicht nur Forscher, sondern auch die progressiven Wissenschaften an sich vertrieben worden waren. Reformpädagogische Ansätze, die im „Roten Wien“ der 1920er und 1930er Jahre eine Blütezeit erlebt hatten, waren im österreichischen Erziehungssystem durch den Nationalsozialismus vorerst ausgelöscht. Neben dem Studium der Pädagogik und Kinderpsychologie bemühte sich Hannah Fischer unermüdlich in ihrer Arbeit als Kindergärtnerin, die Pädagogik in Wien grundlegend zu erneuern und integrative, kindzentrierte Ansätze dauerhaft zu verankern. Ihr Einsatz fand schließlich in der Eröffnung des Anna-Freud-Kindergartens im Jahre 1980 einen vorläufigen Höhepunkt.

Hannah Fischers durch Brüche geprägtes Leben bietet mit seinen Erfahrungen von Verfolgung und Flucht reichlich Bezüge zum Heute, gerade was den Umgang mit den aktuell nach Österreich geflüchteten Menschen betrifft. Wie schon im Titel des Buches zutage tritt, bezeichnete Hannah Fischer das Exil als ihre „Universität“. Die Möglichkeit der Ausbildung und intellektuellen Weiterentwicklung war aber – das wird bei der Lektüre des Buches deutlich – von bestimmten Faktoren und auch Zufällen abhängig.  Glückliche Fügungen führten zur Bekanntschaft mit Anna Freud, die Fischers Talent erkannte und förderte. Ihr Leben hätte aber auch anders verlaufen können, war ihr doch vom Hilfskomitee als Flüchtlingskind nur eine „Karriere“ als Haushälterin zugestanden worden. Fischers Mutter, der ebenfalls die Flucht nach England gelang, litt als Intellektuelle sehr unter dem völlig unbefriedigenden Job als Köchin, den sie nur angenommen hatte, um die Einreisebewilligung zu erhalten.  

Im Kontext der Emigration kann die Bekanntschaft mit den „richtigen“ Leuten in einem Land, in dem man über keine sozialen Netzwerke verfügt, entscheidend für die Wahrung von Lebenschancen sein. Sie habe „immer wieder großes Glück gehabt“ (S. 121), urteilt Hannah Fischer selbst im Rückblick. Sie berichtet aber auch von Situationen, die sie als Heranwachsende als zutiefst demütigend empfand, wenn z.B. den refugee girls in der unter Leitung der Quäker stehenden Badminton School in Bristol eine veraltete Schuluniform zur Verfügung gestellt wurde, während die englischen Mädchen eine modische Variante trugen. Es sei nur ein „kleines Detail“ gewesen, das aber „sehr getroffen“ (S. 41) hat. Es sei gewissermaßen eine Markierung gewesen.  Auch die Einstufung in eine Klasse mit weitaus jüngeren Schülerinnen stellte für das junge Mädchen eine Ungerechtigkeit dar. Solche subjektiven Erfahrungen sollte man sich vor Augen führen, wenn man die Gefühlslagen heutiger Flüchtlingskinder verstehen will. Ihren Vater sah Hannah Fischer im Übrigen nicht mehr wieder. Er wurde am Ende einer strapaziösen Überfahrt nach Palästina 1940 von den Briten unter gefängnisähnlichen Bedingungen auf Mauritius interniert, bevor er schließlich nach Ende des 2. Weltkrieges nach Eretz Israel einwandern konnte, wo er in den 1950er Jahren verstarb.

Beeindruckend ist auch  Hannah Fischers unabhängiges Leben als Frau. In einer Zeit, in der es noch keine genaue gesellschaftliche Vorstellung von weiblicher Emanzipation gab, war ihr Leben weitaus selbstbestimmter als das vieler Frauen heute. Unbeirrt ging sie ihren Weg, adoptierte Anfang der 1960er Jahre als alleinstehende Frau ihren Sohn.  Weiterhin war sie im sozialen und humanitären Bereich engagiert. Von 1986 bis 2002 übernahm sie beispielsweise ehrenamtlich die pädagogische Leitung eines Hilfsprojektes, in dem Frauen in der Westsahara zu Kindergärtnerinnen ausgebildet wurden.

Die vorliegende, empfehlenswerte Biographie liefert bemerkenswerte Einblicke in das in vielerlei Hinsicht vorbildhafte und inspirierende Leben der Hannah Fischer,  die sich stets der Gerechtigkeit verpflichtet sah und am Ende ihres Lebens resümierte: „So denke ich, wenn man eine Linie findet im Leben, dann kann man, auch wenn man entwurzelt wurde, dennoch ein erfülltes Leben haben.“ (S. 122)

Sandra Wiesinger-Stock: Hannah Fischer – „Das Exil war meine Universität“. Schülerin Anna Freuds, Kinderpsychologin und psychoanalytisch orientierte Pädagogin, mandelbaum verlag, Wien 2016, 144 S., Euro 16,90, Bestellen?