„Nach einigen Wochen bekommen ihre Gesichter Farbe“

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Das neue Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Schwerpunktthema Kinder ist erschienen…

Etwa eineinhalb Millionen jüdische Kinder wurden in der Schoa ermordet. Die Überlebende waren, mehr noch als die überlebenden Erwachsenen, entwurzelt, traumatisiert, zerbrochen. Sie zu versorgen, sowohl physisch als auch psychisch, war keine leichte Aufgabe. Von diesen Anstrengungen berichtet ein Großteil der breitgefächerten Beiträge des neuen nurinst Jahrbuchs.

Thomas Rahe, wissenschaftlicher Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, berichtet über jüdische Kinder im DP-Camp Bergen-Belsen. Unter den im KZ befreiten Häftlingen waren 137 Kinder, die von Januar bis Mitte April 1945 dort geboren wurden. Für viele der Überlebenden kam allerdings auch die Befreiung zu spät, die Sterberate in den Monaten danach war enorm hoch, Unterernährung und Krankheiten wie Tuberkulose forderten weiter Opfer. Viele der Kinder waren so sehr verängstigt, „dass sie auf jede medizinische Untersuchung mit Panikattacken reagierten“. 1946 lebten um die 880 jüdische Kinder zwischen drei und achtzehn Jahren im DP-Camp Bergen-Belsen. Sie erhielten dort Unterricht und wurden auf ihre Auswanderung vorbereitet. Rahes zeichnet auch die politischen Auseinandersetzungen um die Zukunft der Kinder zwischen den einzelnen jüdischen Organisationen und der UNRRA (United Nations Relief and Rehabilitation Administration) nach. Das Camp bestand bis Mitte 1950.

Wie schwierig Hilfe für die überlebender Kinder sein konnte, zeigt der Beitrag von Nicola Schlichting über ein Heim für jüdische Kinder in Lüneburg zwischen 1945 und 1948. Auf Vorschlag der Leiterin der britisch-jüdischen Hilfsorganisation Jewish Relief Unit, Lady Rose Henriques, wurde im Spätherbst 1945 nach einer Möglichkeit gesucht, ein Erholungsheim für jüdische Kinder, die so vieles durchgemacht haben, „das sie nie werden vergessen können“, einzurichten. Schließlich fiel die Wahl auf Lüneburg, wo es bereits eine kleine jüdische Gemeinde gab, die bei der Versorgung und Unterbringung der Kinder half. Ende November 1945 wurde eine Gruppe von jüdischen Kinder aus Berlin dorthin geschickt. Die Aktion scheint übereilt und schlecht organisiert gewesen zu sein und als ein dreizehnjähriges Mädchen an Scharlach starb, brach der Konflikt offen hervor. Zu schwierig scheint die Trennung von den Eltern gewesen zu sein, eine erneute Trennung nachdem die Kinder so vieles überlebt hatten. Schlichting urteilt: „Wie häufig im Umgang mit den Überlebenden der Shoa wurden ihnen die Fähigkeit zur eigenen Entscheidung abgesprochen, die Menschen bevormundet und Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg getroffen.“ In diesem Fall wurde die Erholung in Lüneburg über das Bedürfnis der überlebenden Familien gestellt, zusammen zu bleiben. Im Juni 1946 wurden die Kinder schließlich zurückgeschickt, der Druck der Eltern wurde zu groß und die Kinder drohten auszureißen. Auch über die weitere Nutzung des als Heim eingerichteten Hauses in Lüneburg gab es Streitigkeiten, die Gemeinde in Lüneburg entschied am Ende eigenmächtig, das Heim für orthodoxe Kinder zu nutzen. Seit dem Sommer 1946 wurde das Haus strikt koscher betrieben und nahm Kinder aus dem DP-Camp Bergen-Belsen für mindestens sechs Wochen auf, mit dem Ziel „so viele bedürftige Kinder wie möglich in diese glückliche und gesunde Atmosphäre“ zu bringen. Die Verantwortung lag schließlich in Händen der Hausmutter Lola Weintraub, die aus Lodz stammte und selbst Überlebende war. Bis zum 1. September 1948 war das Heim in Betrieb, die meisten Kinder waren dann bereits emigriert und auch Lola Weintraub wanderte nach Israel aus. Das Haus hatte bis dahin einen wichtigen Dienst geleistet, wie Nicola Schlichting durch die Zeitzeugin Janet Beasley, die als Zehnjährige in Lüneburg war, belegt: „Es war Erholung für uns, wir waren frei und brauchten keine Angst mehr vor irgendjemand zu haben und das war schon viel wert.“

Auch Jim G. Tobias berichtet über zwei jüdische Kinderheime im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland, das hessische Lindenfels und Schwebda Castle bei Eschwege. Es bestanden zwar spezielle DP-Kinderlager, wie etwa in Indersdorf oder Strüth, doch durch den anwachsenden Zustrom Überlebender aus Osteuropa, die vor den antisemitischen Ausschreitungen flüchteten, die dort auch nach Ende des Krieges jüdische Opfer forderten, wurden dringend weitere Unterkünfte benötigt. Mitte Juni bis Ende Oktober 1946 wurden in der US-Zone 13.878 unbegleitete Kinder registriert.

Eingang zum Children's Center Lindenfels; die Kinder waren in mehreren beschlagnahmten Hotels untergebracht. Foto: Nurinst Jahrbuch 2016
Eingang zum Children’s Center Lindenfels; die Kinder waren in mehreren beschlagnahmten Hotels untergebracht. Foto: nurinst Jahrbuch 2016

In Lindenfels wurden zunächst Kinder untergebracht, die drei verschiedenen Jugendgruppen angehörten und somit unterschiedlichen zionistischen Strömungen. Es waren die zionistische Verbände, die sich von jüdischer Seite intensiv um die Kinder kümmerten, um sie auf die Auswanderung nach Palästina vorzubereiten. Trotz des gemeinsamen Ziels konnten die Gruppen nicht unterschiedlicher sein und es kam zu Reibereien, insbesondere zwischen den säkularen und den dem religiösen Misrachi angehörenden Kindern. Am Ende blieben in Lindenfels die Gruppen des linkszionistischen Haschomer haZair. Ab Herbst 1946 fand geregelter Schulunterricht mit Lehrkräften, die teilweise aus Palästina gebracht wurden, statt. Der Alltag in Gesellschaft derer, die dasselbe durchgemacht hatten, half den Kindern, wieder Stabilität und Vertrauen zu finden. In einem Bericht der UNRRA Mitarbeiterin Mathilde Oftedal heißt es: „Nach einigen Wochen bekommen ihre Gesichter Farbe, ihre Stimmen verändern sich, man hört den Gesang und die Gespräche freier Kinder. Und sieht, sowohl bei den Kindern als auch in den Arztberichten, wie sie an Gewicht zunehmen und wachsen.“ Nach und nach wanderten die Heimbewohner nach Palästina aus. Kinder aus Lindenfels waren auch auf dem berühmt gewordenen Schiff Exodus. Im Oktober 1948 waren nur noch 22 Kinder dort, ein Monat später wurde das Heim dann endgültig geschlossen.

Jael Geis widmet ihren Beitrag der Kinder- und Jugendfürsorge der unmittelbaren Nachkriegsjahre unter dem Aspekt der Trennungsängste, die die überlebenden Kinder und Eltern plagten. „Trennung und Verlassen(werden) gehörten, so wie Sicherheit, zu den vorherrschenden Themen bei allen Überlebenden“, was oft in Konflikt stand mit der Erziehung der Kinder, die wiederum eine Trennung bedeuten konnte. Den Verantwortlichen war die besondere Lage der Kinder und Jugendlichen durchaus bewusst, eine Jugend, für die nichts mehr selbstverständlich sein könne, auch nicht die Bindung an die jüdische Gemeinschaft. Im Besonderen war aber das Verhältnis zur nichtjüdischen Umwelt schwierig, wobei nebeneinander paradox erscheinende Einstellungen bestanden, wie Geis anhand der Ergebnisse einer großen bundesweiten Jugenduntersuchung von Anfang der 1950er Jahre zeigt. Danach waren jüdische Kinder und Jugendliche einerseits negativ gegenüber Deutschland und den Deutschen eingestellt und 80% wollten auswandern, gleichzeitig fühlten sie sich aber sehr ihren deutschen Klassenkameraden verbunden.

Verena Buser widmet sich dem „Child Search and Registration Teams“ der UNRRA, Imme Klages dem Film „The Search“, der 1948 unter der Regie von Fred Zinnemann entstand und jüdische Kinder aus DP-Camps als Laiendarsteller einsetzte. Janine Doerry greift das Schicksal einer jüdischen Familie in Frankreich auf, das im Wesentlichen durch den Tod der dreijährigen Josette nur wenige Tage nach der Befreiung geprägt ist. Josette hatte in ihrem kurzen Leben neunzehn Monate Internierung in Frankreich, elf Monate Haft im Austauschlager des KZ Bergen-Belsen und einen zweiwöchigen Räumungstransport durchgestanden. Sie starb tragischerweise an einer zu reichhaltigen Mahlzeit nach der Befreiung, eine Mahlzeit, die ihre Mutter zubereitet hatte.

Über „Die Suche nach Dieter“ berichtet Carola S. Rudnik. Dieter Lorenz ist eines von vier Kindern, deren Gräber heute noch existieren, und die in der Lüneburger Psychiatrie Opfer der Euthanasie wurden. In der „Kinderfachabteilung“ Lüneburg wurden allein zwischen 1941-45 etwa 300-350 Kinder und Jugendliche ermordet, Kinder mit körperlichen oder geistigen Behinderungen. Lüneburg gehörte damit „zu den größeren Kinder-Tötungsstätten“. Rudnik beschreibt die Wege, mit der die Kinder mit überdosierten Medikamenten getötet wurden und das Vorgehen in den Akten vertuscht wurde, sollte sich jemand erkundigen, wie etwa im Fall von Dieter Lorenz. Die Eltern von Dieter lebten in den Niederlanden. Nachdem der Vater zur Wehrmacht eingezogen wurde, musste sich die Mutter alleine um das Werkzeuggeschäft der Familie und die drei Kinder kümmern. Daher gab sie vermutlich den zweijährigen Dieter vorübergehend in ein Kinderheim. Das Heim wurde evakuiert, Dieter mit anderen Kindern über Solingen und Hannover nach Lüneburg gebracht. Aufgrund einer geistigen Behinderung wurde er im Gegensatz zu den anderen Kindern, die mit ihm gekommen waren, in die „Kinderfachabteilung“ Lüneburg gebracht. Am 28. November 1944 wurde er dort kerngesund eingewiesen, am 3. Dezember erkrankte er, am 14. Dezember starb Dieter Lorenz. Seine Eltern wussten davon nichts. Erst eine langwierige Suche und ein ausgiebiger Briefwechsel, der das Unverständnis der Mutter belegt, wie es so kommen konnte, brachten den Eltern die schreckliche Nachricht. Die Familie wanderte 1952 in die USA aus, die Zweifel an den Aussagen in Lüneburg blieben. Dennoch hielten die Eltern Dieters Schicksal vor den Brüder geheim. Erst 2014 durch die Recherche am Familienstammbaum im Internet und einige glückliche Umstände konnte Dieters Bruder Helmut, der heute Hank heißt, die Wahrheit erfahren und das Grab seines Bruders besuchen

Nicole Groms Beitrag über das „unschuldige Kind“ in der Ritualmordlegende und Birgit Seemanns Forschungsbericht über das in Vergessenheit geratene Rothschild’sche Kinderhospital in Frankfurt am Main, das zwischen 1886 und 1941 bestand, runden den Themenschwerpunkt ab. Wie immer wird abschließend im Jahrbuch eine wissenschaftliche Einrichtung in Deutschland vorgestellt, diesmal das Jüdische Kulturmuseum Augsburg-Schwaben, das älteste selbstständige jüdische Museum im Nachkriegsdeutschland, eröffnet wurde 1985, durch seine langjährige Leiterin Beninga Schönhagen.

nurinst2016Das Jahrbuch zu diesem besonders sensiblen Thema enthält wertvolle und gut lesbare Beiträge, die auch dem breiten Publikum sehr zu empfehlen sind. Erneut positioniert sich das Nürnberger Institut mit dieser Publikation als eine der führenden Institutionen im Bereich der Forschung zu Schoa-Überlebenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Deutschland. – al

Jim G. Tobias / Nicola Schlichting (Hg.): nurinst 2016. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Kinder. Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts, Antogo Verlag 2016, 186 S., 17 Abb., ISBN 978-3-938286-49-4, 14,00 EUR [D], Bestellen?

Leseprobe und Inhaltsverzeichnis