Von Bramsche nach Buenos Aires

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„Auf den Spuren der jüdischen Familie Voss“, heißt ein neues Buch aus dem Berliner Verlag Hentrich & Hentrich, das im Dezember 2015 veröffentlicht wurde. „Alles fing mit einem Zeitungsartikel […] anlässlich des Jahrestags der Reichspogromnacht an: „Die Züge nach Auschwitz fuhren überall ab“ lautete der Titel“, so der Autor im Vorwort. „Diese Überschrift war der Auslöser für die Frage: wie war das eigentlich in Bramsche? Gab es hier Juden? Wenn ja, was ist aus ihnen geworden?“…

Die Familie des Viehhändlers Ernst Voss aus der norddeutschen Kleinstadt Bramsche emigriert 1937 nach Argentinien. Sie sind Juden und fliehen vor den Nazis. In Basavilbaso, einer kleinen Stadt in der Provinz Entre Ríos mitten in der argentinischen Pampa, wo schon viele Juden aus Europa leben, finden sie schließlich vorübergehend Unterschlupf.

Am nächsten Morgen brachen die Familien Voss und Meyer – das Gepäck an der Hand – schon früh auf Richtung Estación Lacroze, der Bahnstation an der Kreuzung der Straßen Avenida Corrientes und Avenida Federico Lacroze. Der Zug, der sie über 300 Kilometer in Richtung Norden bringen sollte, war voll. Mit ihrem Gepäck zwängten sie sich in ein freies Abteil. Die Pampa zog an ihnen vorbei. Mal blickten sie in den riesigen Rio Paraná, der sich durch die Tiefebene zog. Erinnerungen an den Rhein, an ihre Heimat wurden wach, die sie – nicht freiwillig – verlassen hatten. Estación Bobernador Basavilbaso stand nach mehreren Stunden Fahrt auf dem Schild, als der Zug in einen Bahnhof einfuhr.“

Später zieht die Familie in die Hauptstadt Buenos Aires. Dort lebt heute auch der Sohn , Dr. Erwin Hermann Voss. Dieter Przygode gelingt es, zu ihm einen Kontakt herzustellen, aus dem sich ein reger Gedankenaustausch entwickelt. Bei einem Besuch in Argentinien im Jahre 2011 sucht der Autor mit ihm die Stationen auf, an denen seine Familie nach ihrer Flucht aus Bramsche gelebt hat.

Wir gehen weiter und gelangen zu einer Schule. Erwin erklärt uns, dass wir vor der Schule stehen, zu der er nach etwa einem halben Jahr in Basavilbaso gegangen oder vielmehr geritten ist. Wie ein Schulkind drückt er sich seine Nase platt an der gläsernen, aber verschlossenen Eingangstür. Immerhin kann man von hier den dahinter liegenden alten Eingangsbereich sehen. Ich merke, dass Erwin von einer leichten Aufregung erfasst wird, seine Gedanken scheinen etliche Jahrzehnte zurückzuwandern.“

Der Weg dieser deutschen jüdischen Familie, die gezwungen war, sich eine neue Heimat zu suchen, um zu überleben, wird ebenso nachgezeichnet wie das Schicksal jener Familienangehörigen, denen die Flucht nicht mehr gelang und an die kein Grabstein erinnert, weil ihre Asche in einem der Vernichtungslager verstreut ist.

Männer in Uniformen mit lauten Stimmen und Lederstiefeln gaben allerhand Befehle. Nein, Sonja und ihre Mutter waren nicht die einzigen, die auf eine Reise gingen, erinnerte sich Jan Reudink. […] Ihre Mutter war nicht glücklich, ebenso wie meine Mutter, die sie am Arm hielt. Sonjas Mutter weinte. Und nicht nur sie allein. Auch meine Mutter wischte sich eine Träne weg. Die beiden Frauen machten auch mich traurig. Als 3-jähriges Kind konnte Jan Reudink noch nicht alles richtig verstehen, was dort geschah. Es sei kein gewöhnlicher Zug gewesen, denn er habe keine Abteile mit Bänken zum Sitzen und Fenster zum nach draußen gucken gehabt. Es seien geschlossene Güterwaggons gewesen von der Art, mit denen sonst Kisten und Fässer transportiert wurden.“

Es ist aber auch die Geschichte einer Freundschaft zwischen zwei Jungen: einem Christen und einem Juden. 1937 in Deutschland werden die Freunde getrennt und begegnen sich 20 Jahre später wieder an ihrem Heimatort, um sich dann aus den Augen zu verlieren. Fast am Endes ihres Lebensweges sehen sie sich wieder: bei der Präsentation des Buches in Bramsche im Dezember 2015 schließen sie Frieden mit ihrer Vergangenheit.

Anhand von Dokumenten, Fotos und Zeitzeugenaussagen und ergänzt durch die Tagebuchaufzeichnungen von seinem Besuch in Buenos Aires erzeugt Dieter Przygode das Gesamtbild eines exemplarischen Familienschicksals, wie es sich vielfach von Deutschland ausgehend abgespielt hat.

Über den Autor

Dieter Przygode wurde 1957 in Bramsche geboren. Übrigens genau an jenem Wochenende als der Jude Erwin Voss seinen Freund aus Kindertagen „Büb“ Wermeyer wiedertrifft. Przygode betreibt seit Beginn der 1990er Jahre Nachforschungen zur Geschichte Bramsches, vorwiegend im Nationalsozialismus und im Zweiten Weltkrieg sowie zum Schicksal der Bramscher Juden und verfasst darüber Presseartikel und heimatgeschichtliche Abhandlungen. 2007 konzipiert er eine Ausstellung zur Geschichte der Bramscher Juden.

Dieter Przygode, Von Bramsche nach Buenos Aires. Auf den Spuren der jüdischen Familie Voss, Hentrich & Hentrich 2015, 194 S., 57 Abb., Euro 19,90, Bestellen?