Gedanken zum bürgerlichen Neujahr…
Von Rabbiner Tom Kučera
Ein bekanntes Thema in der Tora und im Tanach sind Träume, besonders bei Ja´akow, Lawan, Jossef, Secharaja, Daniel und anderen. Viele menschliche Errungenschaften hingen anscheinend mit den Träumen zusammen, zum Beispiel die Entdeckung des Periodensystems der Elemente von Dmitri Iwanowitsch Mendelejew oder die Erfindung der Nähmaschine. Trotzdem hören wir oft: „Träume sind Schäume“. Marie von Ebner-Eschenbach schreibt jedoch: „Nenne dich nicht arm, weil deine Träume nicht in Erfüllung gegangen sind. Wirklich arm ist nur, der nie geträumt hat.“ Welche Position nehmen wir ein? Die Tora hilft nicht unbedingt weiter. Wegen seiner Träume und weil er sie erzählt hat, wurde Jospeh von seinen Brüdern gehasst und in eine Grube geworfen. Später wurde er wegen seiner Träume und ihrer Erzählung aus dem Gefängnis herausgeholt und zum mächtigsten Mann Mizrajims. Helfen also Träume?
Machloket, ein Meinungsunterschied (auf Jiddisch ein Machlojkes), war immer ein wesentlicher Teil des talmudischen Denkens (Ber 56-57). Der eine Rabbiner hält für möglich, dass Träume den Willen Gottes vermitteln können. Ein anderer Rabbiner erklärt nur kleine Kinder und Verrückte für Traum-Weissagungen zuständig. Die Ambivalenz der Träume bleibt, auch wenn wir modernere Zeiten anschauen. Die Tiefenpsychologie misst den Träumen große Bedeutung bei. Nach Sigmund Freud ist jeder Traum eine Wunscherfüllung, um die Es-Impulse zu kontrollieren („Königsweg zum Unbewussten“). Nach Carl Gustav Jung ist ein Traum eine „Kompensation von Einseitigkeiten, um Ganzwerdung zu erreichen“. Dagegen behauptet die Evolutionsbiologie, dass es sich bei Träumen lediglich um ein funktionsloses Überbleibsel handelt. Die unterschiedlichen Positionen überdauern, auch wenn wir nur auf einem Gebiet (bei der Hirnforschung) bleiben und nur eine Bedeutung (die psychische Funktion) betrachten. Eine Forschergruppe behauptet, Träume haben eine kathartische Funktion: Wir schlafen, um zu vergessen. Der Schlaf bewirke eine Linderung, Dagegen warnt eine andere Forschergruppe vor Schlaf direkt nach negativen Erfahrungen, weil diese dann im Gedächtnis vertieft werden könnten.
Noch ein anderer Machlojkes. Oft hören wir, Träume bewirken die Konsolidierung (Festigung und Sicherung) des Gedächtnisses. Interessanterweise ist die Schlafforschung in Israel ziemlich entwickelt. Im Weizmann-Institut in Rechowot wurde 2012 gezeigt, dass wir im Tiefschlaf (tiefe Delta-Wellen) sogar neue Inhalte lernen können (mit dem Schnüffelreflex belegt: Als unter die Nase und mit einem Ton ein Geruch gereicht wurde, atmete ein Schlafender tiefer ein. Dies wiederholte sich später beim Ton ohne einen Geruchsimpuls). Dagegen wurde in Amerika in genauso präzisen Versuchen gezeigt, Träume seien eher eine Art Müllabfuhr oder eine Art Rückstelltaste (reset). Die Anzahl der Synapsen werde kleiner, d. h. die neuronalen Verbindungen werden abgebaut, und das Unnötige oder Unbenutzbare ließe sich loswerden. Stichwort: „Back to baseline“, man kehre zur unbeladenen Basis zurück, auf die man am nächsten Tag zurückgreifen kann.
Vieles liegt im Ungewissen, sogar im Geheimnisvollen. Das besagt schon die erste Tefilla, die unsere Tradition vorschreibt, gleich wenn wir unsere Augen öffnen: „Mode ani lefanecha, ich danke dir, Gott …, schehechesarta bi nischmati, dass du mir meine Seele zurückgegeben hast, raba emunatecha, groß ist deine Vertrauenswürdigkeit.“ Dahinter steht die rabbinische Vorstellung, dass uns im Schlaf unsere Seele verlässt (neschama jozet). Was auch immer damit gemeint ist, es passt gut zur Vorstellung, dass die Anzahl der Synapsen im Schlaf zurückgeht. Wenn wir unsere „Seele“, unser Bewusstsein, wiederbekommen, können wir sie frisch und erholt für den neuen Tag einsetzen.
Schlaf ist in der Tat geheimnisvoll. Auch wenn keiner weiß, wie er genau funktioniert oder wozu der REM-Schlaf gut ist (die Träume finden nicht nur im REM-Schlaf statt), stimmen alle überein, dass zu wenig Schlaf krank, dick und dumm macht (die physiologische Erklärung dafür sind der Reihe nach: das beeinträchtigte Immunsystem, eine Steigerung des „Hungerhormons“ Ghrelin und die fehlende Gehirnerholung, sei es durch die Absenz der erwähnten Konsolidierung oder des erwähnten Synapsenrückgangs). Darüber hinaus steht auch fest, dass Schlaf ein Drittel unseres Lebens ausmacht. Von daher der hebräische Spruch: „metuka schenat ha´owed, süß ist der Schlaf eines arbeitenden Menschen.“ Dies stellt unseren Wunsch dar, dass wir während des neuen säkularen Jahres 2016 eine Arbeit haben und sie genießen und danach noch gut schlafen. Ein richtiger „Traum-Wunsch 2016“ mag auch der folgende Aphorismus sein: „Wenn einer alleine träumt, bleibt es ein Traum. Wenn wir alle gemeinsam träumen, dann wird es Wirklichkeit.“
Dr. Tom Kučera ist Rabbiner der Liberalen Gemeinde Beth Shalom in München.
Der Traum
als Spiegel unserer Seele
der stets präsente Kelch des Lebens
Mit seiner knöchrig fahlen Hand der Schlaf in
mondlichtleeren Nächten greifend tief der Seele
Tiefe schauen lässt. Ergründend träumend suchen
lassend vor das zitternd wachend Auge zerrend mit
vor Bitterkeit und Angst erdorrter Kehle langgestreckt
dich fingern lässt nach hellem Licht, ins Dunkle jedoch
eingesunken verharrend Böses grauenhaft erlebend
ängstlich deinem Ich entschüpfend – Ordnung
suchend an so wesensfremd hell künstlich
warm beschie’nen Plätzen – einsam
und allein und schwach und
bebend Lieblosleere
entsetzlich tief
hervorgeholt
das soglatt
kalte
Fremde
ekelend und
tastend voll der
Ahnung fröstelnd tief
sich in dir niemalsendend
windendfindend Dich, wenn
mit knochenbleicher Hand, der
Schlaf in mondlichtleeren Nächten
tiefgreifend Seelentiefen schauen lässt.
Ergründend träumend suchen lassend, vor
zitternd wache Augen zerrend mit Bitterkeit und
Angst erdorrter Kehle langgestreckt dich fingern lässt
nach hellem Licht – ins Dunkle jedoch eingesunken und
so verharrend Böses grauenhaft erlebend ängstlich endlich
deinem Ich entschüpfend Ordnung suchend an solch wesens
fremd und hell und künstlichwarm beschie’nen Plätzen einsam
und allein und schwach und bebend Lieblosleere entsetzlich
da hervor geholt das soglattkalte Fremde ekelnd tastend
voll der Ahnung fröstelnd tief in dir sich niemals endend
windend findend – wenn mit knöchrig fahler Hand
der Schlaf in deinen mondlichtleeren Nächten
tiefgreifend Seelentiefen schauen lässt.
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