Ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Wie kommt es, dass es einem jungen Mann gelingt, in nur wenigen Minuten einen drohenden Schatten über die größte und fröhlichste Stadt im Land zu werfen wie in einem Film, den nicht einmal Hitchcock hätte erfinden können? Und all das ohne den Einsatz von großen Kameras oder einer anspruchsvollen Kulisse…
Kommentar von Yoel Marcus, Haaretz, 08.01.2016
Übersetzung von Daniela Marcus
Die gesamte Szene dauerte nicht länger als ein paar Minuten. Niemand musste dem Star dieses Horrorfilms sagen, wie er sich am Set bewegen sollte. Er marschierte mit einer Tasche über der Schulter in den Laden. In seiner Hand hielt er eine Plastiktüte, in die er einige Nüsse tat. Dann leerte er die Tüte wieder aus als ob er entschieden hätte, die Nüsse nicht zu kaufen. Und schließlich, nach ein paar Schritten in Richtung Ausgang während derer er etwas in seiner Tasche richtete, sprang er blitzartig hinaus und direkt auf die Bar zu, die zu seiner Linken lag – und er mordete am hellichten Tag. All dies geschah auf der Dizengoff-Straße, mitten im Herzen der ersten hebräischen Stadt.
Zuerst wusste niemand, wer er war. Erst nachdem die Sicherheitskamera des Ladens ihn verewigt hatte, realisierten Bewohner des Stadtteils Ramat Aviv, dass sie den Mann kannten. Er arbeitete als Auslieferer in einem Obst- und Gemüseladen in der Gegend. Nicht wenige von ihnen erkannten ihn als denjenigen, der ihnen frisches Gemüse nach Hause brachte. Es ist nicht nötig zu sagen, dass einige von ihnen Panik erfasste. Er sei eigentlich freundlich und humorvoll gewesen, sagten sie mit leichtem Zittern.
Aber die Bewohner der Stadt beendeten ihre Bewunderung schnell und kehrten zu dem zurück, was sie am besten können: beunruhigt sein. Tel Aviv hat schon zuvor unter massiven und mörderischen Anschlägen gelitten. In Bussen, Cafés und Restaurants wurden Juden wahllos ermordet. Doch am meisten fürchteten sich die Tel Aviver vor den irakischen Raketenangriffen, die während des Ersten Golfkrieges 40 Tage und Nächte lang die Nerven strapazierten. Diese Raketen machten eine Menge Lärm, trafen aber selten. Und während die Palästinenser „auf den Dächern tanzten“, wie die Medien damals im Jahr 1991 berichteten, flohen Tausende von Israelis aus Tel Aviv. Das war anders als in London, das während der Blitzkriegtaktik im Zweiten Weltkrieg täglich das Ziel von deutschen Bombern war.
Und nun war ein Mann in der Lage wegen eines Anschlags solche Angst zu verbreiten. Ein Terrorist, dessen Identität den Behörden bekannt ist, nicht zu vergessen seinen Kunden vom Gemüseladen. Der neue Polizeichef, Roni Alsheich, der das Pech hatte, kurz vor seiner Einsetzung sein Bein zu brechen, verhielt sich bei seinem ersten öffentlichen Auftritt seltsam. Er rief den „Staat Tel Aviv“ dazu auf, zur Normalität zurückzukehren und sich keine Sorgen zu machen. Wie soll man sich keine Sorgen machen? Ohne es zu sagen hat er die Botschaft vermittelt: Ich bin okay, ich bin vom Inlandsgeheimdienst Shin Bet, bei mir wird es keine undichten Stellen geben. Die Minister Naftali Bennett und Gilad Erdan beruhigten die Öffentlichkeit mit den dummen Argumenten, dass man auch durch die Grippe oder bei einem Autounfall sterben kann, während sich ältere Stadtbewohner beschwerten, dass nicht einmal zu Zeiten des Britischen Mandats die Häuser der Bewohner durchsucht wurden: Sie durchsuchten unsere Schränke als ob sich der Terrorist dort im Regal versteckt hätte.
Doch wer uns wirklich Angst machte, war kein anderer als Premierminister Benjamin Netanyahu, der sein offizielles Podium mitbrachte mit den Bildern der Opfer und des Blutes im Hintergrund. Er hielt eine hetzerische Rede, die der Versuch war, von den polizeilichen Ermittlungen gegen seine Frau am Tag zuvor abzulenken, wie Beobachter beschrieben. In der Tat die Leistung eines führenden Demikolo, was umgangssprachlich auf ein großes Körperteil hinweist.
Die Araber sind nicht so dumm, wie die Befürworter von Groß-Israel denken. Sie haben uns mindestens 70 Jahre lang eingehend studiert. Es ist in unserem Interesse, Chancengleichheit anzustreben. Moshe Arens, der als Verteidigungsminister damit begann, Drusen für die Armee zu rekrutieren, verwies damit auf den Jabotinskischen Ansatz der Zusammenarbeit und der Gleichstellung mit den Arabern.
Doch Netanyahu beschäftigt sich mit Aufwiegelungen und Spieltheorien: Er findet die Zeit, das Kabinett für den möglichen Kollaps der Palästinensischen Autonomiebehörde vorzubereiten. Er schlägt vor, als Geste des guten Willens die finanzielle Unterstützung für die arabischen Gemeinden in Israel zu erhöhen, doch er rudert zurück und bindet die Unterstützung an „gutes Benehmen“ – sonst werden sie keinen Schekel sehen. Als ob er nicht wüsste, dass Drohungen und Ultimatums nicht auch Mauern errichten können. Das ist wirklich nicht lustig: Wenn wir nicht lernen, mit den Arabern zu leben, werden sie diejenigen sein, die zuletzt lachen.