„Wir wehren uns. Du an Deinem Ort – ich an meinem, aber gesamtgesellschaftlich ist nichts da“

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Kurt Holl erhält den Rheinlandtaler Foto: Csaba Peter Rakoczy

Zum Tode des radikalen Aktivisten und Menschenfreundes Kurt Holl (17.9.1938 – 10.12.2015)…

Von Uri D.

                               „Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht hier? Wer, wenn nicht wir?“
                              Kurt Holl, bei einem Spaziergang zwei Wochen vor seinem Dahingehen.

Er war immer da, mischte sich immer ein. In Köln. Eine hagere Gestalt, scharfgeschnittene Gesichtszüge, stets präsent. Ein Lebemann. Und ein Wortführer. Einigen soll er als die „rechte Kölner Hand“ von Rudi Dutschke gegolten haben. Auch im Alter wirkte Kurt noch sehr viel jünger. Kurt Holl war wortstark. Er ging keiner Auseinandersetzung aus dem Wege, weder mit „hohen“ Politikern noch mit Polizeivertretern. In den letzten Monaten, als man ihm sein Alter und seine Krankheit anmerken konnte, bin ich ihm noch ein paarmal begegnet, privat und bei öffentlichen Veranstaltungen. Kurt war immer wach, aufmerksam, hatte Ideen – und suchte weitere konkrete Möglichkeiten, Romakindern und deren Eltern konkret zu helfen. Er verstand dies als existentielle politisch-menschliche Verpflichtung. Und er appellierte an unser warmes Herz, an unser Verantwortungsgefühl für diese gesellschaftlich Ausgestossenen, diese  gesellschaftlich Marginalisierten.

Nun, am 10. Dezember, am Tag der Menschenrechte, ist Kurt Holl in Köln gestorben, er wurde 77 Jahre alt.  Kurt starb im Krankenhaus nach einer schweren Lungenentzündung. In den letzten Tagen saßen seine beiden Söhne, sein Bruder und viele Freunde an seinem Bett. Er wäre gerne noch einmal mit Claudia zu einem Abend zu einer kleinen jüdischen Gemeinde gegangen. Kurt, der Atheist. Dazu ist es nicht mehr gekommen. Nun ist er gegangen, dieser radikale und dennoch selbstironische Aktivist und privat doch so freundliche und unendlich hilfsbereite und großzügige Mensch.

Sein wohl letzter öffentlicher Auftritt war im März 2015: Günter Demnig verlegt noch einmal eine Erinnerungsspur an die Verfolgung der Sinti und Roma am Waidmarkt, dem ehemaligen Standort des Kölner Polizeipräsidiums, neu. Hier wurde im Straßenpflaster der Stadt Köln an den Deportationszug der Kölner Sinti und Roma 1938 erinnert. Für viele von ihnen endete er in den deutschen Vernichtungsstätten. Kurt hält die Ansprache.

Wenn überhaupt jemand in Köln die sehr linke Bewegung, die undogmatisch-linksradikale – und dennoch gestaltende – Kölner Bewegung verkörpert so ist es Kurt – gemeinsam mit Dieter Asselhoven, seinem langjährigen, vor knapp zwei Jahren verstorbenen Mitstreiter. Bei der privaten Trauerfeier für Dieter traf ich Kurt. Er war der einzige aus der politischen Generation der über 60-jährigen bei dieser Feier.

Kurt und mein Freund Dieter haben wirklich viel „bewegt“ – dies unterscheidet sie sehr von vielen anderen.

Frühe Politisierung

Über seine Familiengeschichte weiß ich nur wenig. Ich kannte ihn 30 Jahre. Aber wir standen uns nicht sonderlich nahe. Sein Mut, seine Entschlossenheit – die teilweise an Fanatismus grenzte – hat mir gefallen. Über „Israel“ haben wir nie gesprochen. Vielleicht ist dies auch gut so. Menschen wie ich entwickeln da eine gewisse Skepsis, insbesondere wenn es um den Austausch mit gewissen „Linken“ geht. Der ewige Antisemitismus, die verleugnete und verklärte mörderische Geschichte ist bei ihnen häufig anzutreffen. Aber nun sagt mir eine Freundin von Kurt, dass meine intuitive Skepsis unbegründet war. Kurt war in Israel und habe eine klar israelfreundliche Position gehabt.

1938 im schwäbischen Nördlingen geboren erlebt Kurt Holl noch das Ende der Nazizeit. Er wächst mit seinen zwei Brüdern weitgehend vaterlos auf, sein Vater stirbt 1942 als SS-Kavallerie-Angehöriger. Er besucht ein Internat im Schwarzwald, 1953 kommt er dann nach Köln, zum Gymnasium an der Kreuzgasse. In Köln ist er geblieben, mit Ausnahme seines Studiums.

Es war die Zeit des Algerienkrieges, 1954 bis 1962. Kurt liest den Philosophen und radikalen Aktivisten Jean Paul Sartre und Eugen Kogon, den Zeitzeugen und frühen Chronisten der Shoah – und politisiert sich. Noch in der Schulzeit gründet er eine „Aktionsgemeinschaft Algerien“, schmuggelt bei einer Klassenfahrt Informationsmaterial der algerischen FNL über die streng kontrollierte Grenze nach Paris, was durchaus nicht ungefährlich war. Hierbei nimmt er auch Kontakte zu dem Kölner SPD-Politikern Hans-Jürgen Wischnewski und Johannes Rau auf. Politische und persönliche Beziehungen herzustellen, auch mit Menschen, die seinen Standpunkt nicht teilen, dies ist ihm immer leicht gefallen. 18-jährig, 1956, erlebt er den Ungarn-Aufstand, und er empört sich. Der Kern eines politischen Bewusstseins, gepaart mit einem radikalen gesellschaftlichen Veränderungswunsch, blieb in ihm lebendig, zeitlebens.

Kurt studiert im eher provinziell-idyllischen Wuppertal anfangs Theologie, dann Französisch, Geschichte und Philosophie auf Lehramt, wird gleich im ersten Semester Astavorsitzender. Es folgen Studiensemester in Heidelberg, Nancy und Köln. Linker politischer Aktivist ist er zeitlebens geblieben. Dem Protest gegen den Vietnamkrieg und gegen die Notstandsgesetze schließt er sich „selbstverständlich“ an. Und er hat stets konkrete Forderungen, ein politisches Programm und eine Presseerklärung dabei. 1973 stürmt er mit Freunden bei einer politischen Aktion das Bonner Rathaus. Später Baumbesetzungen an den Kölner Ringen, um die altehrwürdigen Platanen zu retten. Vergeblich.

Die 70er Jahre: „Berufsverbote“…

1974: Dies war, in Folge der sogenannten 68er-Bewegung, die Zeit der sogenannten „Berufsverbote“ unter Bundeskanzler Willy Brandt. Brandt hat diese „Berufsverbote“ für unliebsame Linke später als den größten politischen Fehler seines Lebens bezeichnet. Nach seinem Referendariat in Köln ereilt den nun 36-jährigen Kurt Holl ein Berufsverbot als Lehrer: Ihm wird eine Nähe zu K-Gruppen unterstellt, eine Übernahme in den Schuldienst wird wegen „mangelnder charakterlicher Eignung“ verweigert. 40 Jahre später erinnert er sich an die Atmosphäre in seiner damaligen Schule: „Gespräche hörten plötzlich auf, Kollegen verschwanden in den Fensternischen, wenn ich den Flur entlang kam, oder auf die Toilette. Im Lehrerzimmer setzten sich viele Kollegen nicht mehr zu mir, sondern schienen plötzlich zu festen Gesprächsrunden verschweißt. Ich fühlte mich ziemlich schrecklich.“

Es war wohl das kollektive deutsche Schweigen, die mangelnde Bereitschaft insbesondere der im Nationalsozialismus aufgewachsenen, seelisch geprägten Elterngeneration, über die eigene Geschichte wirklich zu sprechen, das den vaterlos aufgewachsenen Kurt erschüttert. Er erlebt dieses Schweigen als aggressiv, als seine Seele vernichtend. Dagegen kämpft er an. Ein Leben lang. Immer wieder und bis zum Ende. Und bleibt dennoch im privaten Kreis ein warmherziger Freund und Lebemann.

Kurt bezieht nach seinem Berufsverbot Sozialhilfe. Deshalb soll er auf einem Kölner Friedhof „gemeinnützige Arbeit“ leisten – für 78 Pfenning pro Stunde. Kurt Holl mit einem Laubfeger in der Hand auf dem Friedhof: Das Foto erlangt später Kultstatus. Kurt protestiert mit Flugblättern gegen die politisch motivierte Drangsalierung. Daraufhin ereilt ihn ein Friedhofsverbot. Mal was Neues. In dieser Zeit lernt er einen betagten Zigeuner kennen, Überlebender der deutschen Shoah. Er erfährt über deren grausames Schicksal, die anhaltende Diskriminierung. Die Grundlagen für sein späteres radikales Engagement für Sinti und Roma werden früh gelegt. Nach Gerichtsprozessen wird Kurt Holl zwei Jahre später, 1981 – Kurt ist inzwischen 43 Jahre alt – doch noch Gymnasiallehrer. Später engagiert er sich auch an der Schule politisch: Sinti-Familie kampieren im Sommer 1986 auf einem Schulhof des „Arbeiterstadtteils“ Köln-Ostheim, Schulleitung und einige Lehrer lassen sie durch die Polizei vertreiben. Kurt Holl und viele Schüler hingegen solidarisieren sich mit ihnen, organisieren ein Willkommensfest. Daraufhin verteilen Kollegen Flugblätter gegen Kurt, Eltern fordern seine Entlassung. Kurt, unerschrocken wie immer, wählt den direktesten Weg und wendet sich an die Landesregierung. Und er bleibt an dieser Schule.

Seine Tätigkeit als Lehrer – verbeamtet wurde er nie, auch deshalb war seine Rente recht bescheiden – findet einen sehr symbolischen Abschluss: Ab den 90er Jahren arbeitet er in der Kölner Justizvollzugsanstalt Ossendorf – die früher einen Namen als RAF-Gefängnis hatte – als Gefängnislehrer.

…und die Liebe der Kölner Justiz zu Kurt Holl

Die Beziehung zwischen Kurt Holl und der deutschen Justiz, der Kölner Polizei, sollte äußerst problematisch bleiben. Immer wieder versuchen sie, ihn wegen seines anhaltenden politischen Engagements juristisch anzuklagen. Immer wieder. Und fast immer verlaufen diese Prozesse im Sande. Sie wollen ihn zermürben. Sie wollen ihn verurteilen. Für mich steckt das geistig-mentalitätsmäßige Erbe der Nationalsozialisten hinter dieser unerbittlichen Kraft. Diesen fürchterlichen Wunsch, einen Menschen zu vernichten. Die Kölner Grünen – zu deren Gründungsmitgliedern er gehörte – ernennen ihn in den 80er Jahren zum Mitglied des Polizeibeirates. Die Kölner Polizei dürfte nicht glücklich über diese Ernennung gewesen sein.

Noch im Juni diesen Jahres strengt die Kölner Staatsanwaltschaft erneut ein Strafverfahren gegen Kurt Holl an: Er hatte, gemeinsam mit Freunden, mehrere eindeutig rassistische Hetzplakate – mit Aufschriften wie „Bürgermut stoppt Asylantenflut“ – der seinerzeit noch in Fraktionsstärke im Kölner Stadtrat vertretenen rechtsradikalen Partei „Pro Köln“ abgehängt und der Polizei ordnungsgemäß und unbeschädigt ausgehändigt.[i]

Angeklagt wird nun nicht Pro Köln – sondern Kurt Holl. Die Anzeige gegen den 77-jährigen Ehrenvorsitzenden von Rom e.V. lautet auf „Sachbeschädigung“. Beschädigt wurden Kabelbinder, die einen Wert von einem Euro betrugen…

Anders als die anderen Angeklagten will Kurt die Einstellung des Verfahrens gegen Geldbuße nicht hinnehmen. In seiner mündlich vorgetragenen Stellungnahme vor Gericht weist er darauf hin, dass der Spruch „Bürgermut stoppt Asylantenflut“ nicht unter die freie Meinungsäußerung falle sondern offen ausländerfeindlich sei. Diese von ihm abgehängten Plakate hätten einen volksverhetzenden Charakter und forderten zu Gewalttaten gegen Flüchtlinge auf. Mit Recht machte er geltend, dass es Pflicht jeden Bürgers sei, einzuschreiten. Obwohl schon schwer krank nimmt Kurt es auf sich, offensiv für die richtige Sache zu streiten. Und die Justiz war sich nicht zu schade erneut gegen den 77-jährigen, schwer Kranken vorzugehen!

Das Kölner EL-DE Haus

Das unweit des zentral gelegenen Kölner Appelhofplatzes gelegene EL-DE Haus war in der Nazizeit der Ort des organisierten Terrors. Viele politische Häftlinge wurden dort schwer misshandelt, einige ermordet. An den Wänden des großen Kellers dieses Gefängnisses fanden sich zahllose, mehrsprachige Inschriften, in denen Verzweifelte und Misshandelte ein letztes Zeugnis ihrer Qual hinterließen.  Einige Kölner wussten gerüchteweise über die grausame Geschichte dieses Ortes – der von der Kölner Stadtverwaltung als Archiv verwendet wurde.

Sammy Maedge und Kurt Holl machen immer wieder mit spektakulären Aktionen auf diese verschwiegene Vergangenheit aufmerksam. 1979: Kurt lässt sich gemeinsam mit einem Fotografen heimlich für eine Nacht in das Verwaltungsgebäude einschließen. Er räumt die Kellerwände und die davor gestapelten Akten weg, und der befreundete  Fotograf dokumentiert die unzähligen Inschriften. Noch in der gleichen Nacht ruft Kurt das verdutzte Bundeskanzleramt an und erklärt, warum diese Aktion politisch notwendig ist. Willy Brandt wird informiert und veranlasst die SPD-dominierte konservativ-traditionalistische Kölner Stadtspitze, dass der Keller erhalten bleibt. Hieraus entsteht das heutige Kölner NS-Museum EL-DE Haus. Es hat zahlreiche Preise für sein Wirken erhalten. Tausende von Schulklassen, aber auch Touristen aus der ganzen Welt wie auch ehemalige Zwangsarbeiter und israelische „Jeckes“ haben es seitdem  besucht. Dass diese Kölner Geschichte nicht für ewig verleugnet, zerstört worden ist ist vor allem Kurt Holls und Sammy Maedges Verdienst.

Ralph Giordano

1986: Ich gehe mit einer Freundin in die Volkshochschule, der Saal ist völlig überfüllt, über 500 Menschen haben sich versammelt. Die Kölner Tagespresse veröffentlicht seit Wochen fürchterliche, hetzerische Beiträge über raubende „Zigeunerbanden“ in Köln, die Atmosphäre in der Stadt ist aufgeheizt. Die Roma und Sinti, sehr viele von ihnen Überlebende der Shoah, leben im wohlhabenden Köln in Elendssiedlungen in Köln-Butzweiler, waten täglich durch den Schlamm. Ihre Hausungen liegen ausgerechnet auf dem Grundstück früherer Zwangsarbeiterfabriken.

Auch viel politische „Prominenz“ und Polizeivertreter sind im überfüllten Saal anwesend. Der Kölner Journalist und Schriftsteller Ralph Giordano betritt das Podium.  Und legt los, in einer selbst für ihn ungewohnten Vehemenz und Deutlichkeit. Er habe sich umfassend informiert, eine Initiative um Kurt Holl habe ihm zahlreiche historische Dokumente überlassen. Es sei ein ungeheuerlicher, ihn zutiefst empörender Skandal, wie die Kölner Verantwortlichen aus Politik, Verwaltung und Justiz noch heute mit den ehemaligen Verfolgten der Nazis, mit den deutschen Sinti und Roma umgingen. Und der scharfzüngig-kämpferische Shoah-Überlebende Ralph Giordano attackiert die gesamte SPD-Stadtspitze, die Presse und die Kölner Polizei scharf für ihren unmenschlich-zynischen Umgang mit Sinti und Roma. Für ihre Geschichtsblindheit. Für ihre Unmenschlichkeit und Kaltherzigkeit. Anschließend liefert sich Kurt ein heftiges Wortduell mit dem Polizeipräsidenten. Kurt ist der Sieger, das spüren wohl die Meisten im Saal. Das Schweigen ist durchbrochen, nachdrücklich, die Kriminalisierungsstrategie hat verloren.

Amaro Kher – eine Schule für Romakinder

Das radikalste, wirkungsträchtigste Engagement hat Kurt Holl jedoch für Sinti und Roma entfaltet. Seit über 30 Jahre lang setzt er sich, anfangs im heftigen Widerstand gegen die örtliche Polizei, eine Kölner Tageszeitung und große Teile der Kölner Politik, für die Interessen von Sinti und Roma, gegen deren bis heute anhaltende Diskriminierung zur Wehr. Er organisiert Ausstellungen, Lesungen, Begegnungen, Beratungen. 1999 endlich wird, vor allem dank seines Engagements, die Amaro Kher Schule für Sinti- und Romakinder am zentral gelegenen Venloer Wall eröffnet. Bundestagspräsident Wolfgang Thierse erscheint persönlich, als Ausdruck seines Respekts für diese schwierige und von steten Rückschlägen gekennzeichnete Arbeit.[ii] Auch hierbei gelingt es Kurt, immer wieder einflussreiche Mitstreiter – häufig Frauen – zu finden, die scheinbar gar nicht zu diesem ewig jung erscheinenden Rebellen passen: Zu nennen sind insbesondere Hedwig Neven DuMont – Ehefrau des kürzlich verstorbenen Kölner Medienzars – , sowie die quirlige, engagierte Kölner SPD-Politikerin Elfi Scho-Antwerpes. Der Historiker Kurt Holl macht sich keinerlei Illusionen über die Langlebigkeit und Hartnäckigkeit von Vorurteilen und Rassismen. In einem Interview mit der linken Wochenzeitung Jungle World aus dem Jahr 2000 betont er:

„Das antiziganistische wie das antisemitische Vorurteil hat in der Geschichte eine Entwicklung durchlaufen. Früher hieß es, Zigeuner würden Kinder klauen. So etwas wird heute nicht mehr unterstellt. Aber wir sind zu interessanten Ergebnissen gekommen, als wir das Stereotyp des Ostjuden in der Weimarer Republik untersuchten. Dabei stellten wir fest, dass fast alle Eigenschaften, die man damals den Ostjuden zuschrieb, heute ausschließlich den Roma und Sinti zugeschrieben werden: Dass sie sich im Wesentlichen durch Kleinkriminalität ernähren würden, dass sie es mit der Hygiene nicht so genau nähmen, dass sie eine Seuchengefahr darstellten, dass sie Wohnviertel unbewohnbar machen würden, und dergleichen mehr. Dieses Stereotyp des Ostjuden existierte in den Köpfen der Menschen weiter und hat sich wieder materialisiert in der Erscheinung der osteuropäischen Roma-Flüchtlinge. Ich habe selbst erlebt, dass Sinti, die hinter einer Schule campierten, mit dem Argument der Seuchengefahr für deutsche Kinder vertrieben wurden.“[iii]

Der Chronist der Revolution

1988: Die Kölnische Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die Kölner Kirchen und zahlreiche Kölner Gruppierungen veranstalten den 50. Jahrestag der Gedenkfeiern zu den deutschen Nazi-Pogromen. Feierlich-staatstragende Reden städtischer und kirchlicher Honoratioren, feierliche Musik. Man fühlt sich wohl, fühlt sich unter Seinesgleichen. Und befriedigt zugleich sein Gewissen. Eine schöne Veranstaltung. Aber auch durchaus nicht wenige Roma sind gekommen, die keineswegs in die feierliche Atmosphäre zu passen scheinen. Irgendwann ergreift Kurt Holl ungefragt das Mikrophon, kümmert sich nicht um den festgefügten Ablaufplan, erinnert an das weitestgehend aus dem nationalen, dem kollektive Erinnern eliminierte Schicksal der Sinti und Roma. Kurt durchbricht bewusst das institutionalisierte, sich selbst genügende „Erinnern“. Ein „Erinnern“, das die Geschichte abschließt. Von Vielen wird diese Szene als ein „Skandal“ verstanden. Das Unbewusste, das Tabuisierte meldet sich zu Wort. Die Kette des deutschen Verschweigens wird brüchig. Von alleine stellt sich dies gewiss nicht ein.

Runde Jahrestage sind häufig Anlass für Rückblicke und Selbstheroisierungen. Die sogenannte „68er Bewegung“, der Kurt Holl altersmäßig, aber auch mentalitätsmäßig angehört, bildet da keine Ausnahme. 1988, anlässlich des 600.ten Jahrestages der Kölner Universität, erscheint ein unter anderem von Olaf Hensel herausgegebener Band, betitelt mit „Nachhilfe zur Erinnerung“, in dem sich ein Interview mit Kurt Holl sowie drei weiteren Vertretern der damaligen Kölner Studentenbewegung findet. Kurt verstand sich als Vertreter des antiautoritär-aktivistischen Flügels der „Studentenbewegung“. Seine eigene Position kennzeichnet Kurt in diesem Band im Rückblick so: „Lass uns doch darüber einigen: Wir erzählen jeder aus unserer persönlichen Perspektive, tun aber so, als hätten wir eine Theorie über die ganze Geschichte. Also, dann sollten wir ehrlich sein. (…) Ich hatte mit Arbeitern überhaupt nichts zu tun. … Wir sollten lieber über unsere eigenen Politisierungsprozesse sprechen, die ja völlig idiotisch liefen … also vom subjektiven Faktor, sagt man ja heute. Ich hatte damals ja schon mein Examen und sollte eigentlich in die Schule gehen. Und für mich stellte sich das so dar, dass ich übergangslos rein sollte in ein System, so wie das eben von mir erwartet wurde und wo ich dann die Rolle der Leute, der Lehrer, die mich erzogen oder manipuliert hatten, übernehmen sollte. Das war für mich eine derartige Horrorvorstellung, dass es für mich wie eine Erlösung war, als mir jetzt die Studentenbewegung auch die Chance gab, mich da erst mal wieder rauszuziehen und mir für Jahre Luft gab, was anderes zu machen – mich auch der Verantwortung zu entziehen, sicher.“

Kurt – der im höheren Alter noch einmal einen weiteren Sohn bekommen hat – sollte damals heiraten, alles war zwischen den Familien „besprochen“. Er empfand es als einen Alptraum – und ließ es. Eine Flucht vor dem „Grauen“. Vorerst.

1998 dann das nächste „Jubiläum“: Gemeinsam mit Claudia Glunz gibt Kurt den Band 1968 am Rhein. Satisfaction und Ruhender Verkehr[iv] heraus. Die Kölner Geschichte der APO wird hierin von zahlreichen ihrer Vertreter nacherzählt. Hieran liegt dem inzwischen 60-jährigen – der zu diesem Zeitpunkt einen 3-jährigen Sohn hat, um den er sich intensiv kümmert – viel. Eine politische und narrative Fleißarbeit. Weitere Projekte, wie etwa eine städtische Ausstellung über die Kunst der Roma, 2009, folgen.[v]

2011: Kölns alternativer Ehrenbürger

2011 ereilt Kurt Holl eine durchaus außergewöhnliche, aber gerade deshalb sehr passende Ehrung: Er, der radikale Aktivist und Rebell, dieser aufrichtige Mensch, wird –  gemeinsam mit Hedwig Neven DuMont – von einem breiten, „alternativen“ Bündnis von politisch-kultureller Prominenz (von denen sich viele bei der endlosen Diskussion zum Bau eines Jüdischen Museum in Köln abscheulich verhalten haben, mit Übergang hin zu Berührungen zum offenem Antisemitismus) für sein Engagement zum Kölner Ehrenbürger ernannt. Sechs Jahre zuvor hatte er bereits den – symbolischen – Rheinlandtaler des Landschaftsverbandes erhalten. Ausgezeichnet wurde er vor allem für sein Engagement im Rahmen des Rom e.V.

Nun ist Kurt gegangen, genau ein Jahr nach Ralph Giordano. Kurt Holl war ein außergewöhnlicher, ein mutiger Mensch mit einem nicht endenwollenden Engagement und einem warmen Herzen. Sein Leben war eine einzige, ungebrochene, nicht zeitgemäße Ermutigung.

Ein großartiger Mensch. Man möchte nicht glauben, dass es solche Menschen gibt.

Foto: privat

[i] Es sei daran erinnert, dass die Vorgängerorganisation dieser Gruppierung, die „Deutsche Liga für Volk und Heimat“, sie war ab 1991 im Kölner Stadtrat vertreten, 1993 ein Fahndungsplakat gegen eine illegal in Köln lebende Romafrau veröffentlichte und ein „Kopfgeld“ von 1000 Euro aussetzte. Die ZEIT titelte am 12.3.1993: „Neue Form der Menschenjagd: Die Deutsche Liga setzt zur Ergreifung einer Roma-Frau ein Kopfgeld aus.“ Es wurden seinerzeit 3000 dieser „Fahndungsplakat“ in Köln aufgehängt und 50.000 „Steckbriefe“ von der Vorgängerorganisation von Pro Köln verteilt. Der juristischen Karriere von zwei „prominenten“ Vertretern dieser rechtsradikalen Gruppierung stand dies nicht im Wege.

[ii] Flüchtlingskinder: Eine Schule für Romakinder, in: Die Zeit, 15.11.2010. Internet: http://www.zeit.de/gesellschaft/schule/2010-11/schule-romakinder-koeln

[iii] Interview mit Kurt Holl: „Antiziganismus findet sich rechts und links“, Jungle World Nr. 35, 23.8.2000 http://jungle-world.com/artikel/2000/34/27059.html

[iv] Claudia Glunz & Kurt Holl (Hg.) (2008): 1968 am Rhein. Satisfaction und Ruhender Verkehr, Köln: Emons Verlag http://www.emons-verlag.de/programm/1968-am-rhein

[v] Kurt Holl (Hg.) (2009): Die vergessenen Europäer. Kunst der Roma. Roma in der Kunst. Katalog zur Kölner Ausstellung, Kölnisches Stadtmuseum.