Martin Buber und der Chassidismus

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Zu Martin Bubers Verständnis des Chassidismus und seiner Kontroverse mit Gershom Scholem…

Von Andrea Livnat

Martin Buber wurde am 8. Februar 1878 in Wien geboren, wuchs aber bei seinem Großvater Salomon Buber, einem berühmten Midrasch-Forscher, in Lemberg auf. Buber studierte in Wien, Leipzig, Zürich und schließlich in Berlin, wo er unter anderem Schüler Georg Simmels war. Seit 1898 engagierte er sich in zionistischen Vereinigungen und nahm am 3. Zionistischen Weltkongreß teil. Schon damals tendierte er jedoch eher zur kulturellen Ausrichtung des Zionismus und zur Denkensweise Ahad haAms. Am 5. Zionistischen Weltkongreß gehörte er daher der demokratischen Fraktion an, die in scharfer Opposition zu Herzl stand.

Vor allem für die jungen Juden in Mitteleuropa wurde Buber zur wichtigen Inspiration, was unter anderem durch seine „Drei Reden über das Judentum“ vor der zionistischen Jugend in Prag begründet wurde. Buber gründete mit Freunden den Jüdischen Verlag und gab ab 1916 die Zeitschrift „Der Jude“ heraus. Nach dem ersten Weltkrieg wurde er ein Sprecher des „hebräischen Humanismus“, wie er es selbst nannte. 1925 erschien der erste Band der Bibelübersetzung von Buber und Franz Rosenzweig. Nach Rosenzweigs Tod im Jahre 1929 führte Buber diese Arbeit alleine fort und vollendete sie 1961. 1930 wurde er Professor für Religionswissenschaften an der Universität Frankfurt, mußte den Posten jedoch 1933 aufgeben. 1938 kam Buber schließlich nach Palästina und wurde Professor für Sozial-Psychologie an der Hebräischen Universität von Jerusalem.

Zu Bubers Verständnis von Judentum

Buber sah im Streben nach Einheit das Wesen des Judentums, was es zu einem Phänomen der Menschheit machte. Der Jude ist trotz Assimilation in seiner Grundeinstellung Jude geblieben, denn das Judentum bedeutete für Buber weit mehr als eine Ansammlung von Glaubensartikeln, das Judentum war für Buber eine geistige Ausrichtung.

Das Fundament für die Erneuerung des Judentums konnte nur die Seele des Juden selbst sein; Buber hielt es daher für nötig, daß sich die jüdische Seele von den Fesseln der Assimilation befreit. Der Zionismus war für Buber der geeignete Katalysator zur inneren Erneuerung „Ich kann hier nur andeuten, was er für mich bedeutete: die Wiederherstellung des Zusammenhangs, die erneuerte Einwurzelung in die Gemeinschaft.“ Der Zionismus konnte für ihn die Utopie einer lebendigen Zukunft und Wiedergeburt des jüdischen Volkes darstellen.

Mit einem Aufsatz von 1903 prägte Buber den Begriff „jüdische Renaissance“. Wie bereits Berdyczewski, Horodezky und andere sah auch er einen Zusammenhang zwischen der Erneuerung des Judentums und dem Chassidismus. „Um das Phänomen der jüdischen Renaissance zu begreifen, muß man es als Ganzes erfassen, es bis in seinen Ursprung zurückverfolgen, in jene Zeit in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, da in das erstarrte Dasein des Judentums von innen und von außen zugleich in zwei mächtigen Strömen – Chassidismus und Haskala – ein neues, unerhörtes und ungeahntes Leben eindrang.“ Dabei sei der Chassidismus für die Entwicklung des Gefühls, die Haskalah dagegen für die Entwicklung der Selbstbestimmung verantwortlich. „Beide führten zu geistigen und leiblichen Kämpfen, die oft von einer ergreifenden Tragik erfüllt waren, zuweilen ins Groteske ausarteten. Beide führten, ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, die jüdische Renaissance herbei.“ Die Renaissance habe jedoch erst im Osten Fuß fassen können, denn dort habe sich das ursprüngliche Judentum bewahrt. „Und das Tragische geschah: die innere Befreiung in Chassidismus und Haskalah ergriff nur das östliche, das Judentum der Gemeinschaft, die äußere Befreiung, die Emanzipation, wurde nur dem westlichen, dem Judentum der Versprengtheit zuteil.“ Dadurch sei eine Hemmung des neuen Judentypus entstanden und erst die Bewußtwerdung dieser Hemmung erzeuge die nationale Bewegung, „der neue Wille, die Hemmung zu beseitigen, wird Zionismus genannt.“ Der Zionismus manifestierte für Buber den bewußten Willen zur Renaissance, der den Westen mit dem Osten verbinden und durch gegenseitige Durchdringung neue Fruchtbarkeit erzeugen könne.

Seine Gedanken und Ansätze machten Buber zunächst zu einer Leitfigur der zionistischen Jugend. Wenn sich auch später viele enttäuscht von ihm abwandten, darunter beispielsweise auch Gershom Scholem, seine Ideen waren eine große Inspiration.

Zugang und Bewertung Bubers zum Chassidismus

Mit 30 Jahren war Buber bereits zu einem der führenden Vertretern der Neuromantik geworden. Er bemühte sich zunächst um die Wiederentdeckung von allgemeinen Texten mystischen und mythischen Inhalts und veröffentlichte Übersetzungen von deutschen, chinesischen, finnischen, keltischen und anderen Volkssagen. Im Zuge dieser Arbeit wurde Buber bewußt, daß die Quelle zur Erneuerung der jüdischen Religiösität nur in der Mystik zu finden sei. Er betrachtete Mystik und Mythos als die wahren schöpferischen Momente im Judentum, im Gegensatz zu Halachah und rabbinischer Gelehrsamkeit. „Buber war der erste jüdische Denker, der in der Mystik einen Grundzug und eine kontinuierlich wirkende Tendenz des Judentums sah“, urteilte Gershom Scholem später.

Die eigentliche Aufbereitung des Chassidismus hatte zunächst in Osteuropa stattgefunden. Berdyczewski, Horodezky und andere prägten das Bild, das Martin Buber schließlich aufgriff, filterte und dem westeuropäischen Publikum anpaßte. Die ersten jüdischen Mythen veröffentlichte Buber 1906, „Die Geschichte des Rabbi Nachman“, und 1908, „Die Legende des Baalschem“, eine aufwühlende Botschaft vor allem für junge Menschen, die sich zwar nach spirituellem Leben sehnten, die herkömmliche Form von Religiösität aber ablehnten. Die Erzählungen trafen genau den Nerv der Zeit. Buber revidierte damit auch das Bild des Ostjudentums, und es kam in der zionistischen Jugend zu einer regelrechten Verehrung alles Ostjüdischen. Gershom Scholem erinnerte sich in seiner Autobiographie: „Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, daß es damals, besonders in den Jahren des Ersten Weltkrieges und kurz nachher, bei den Zionisten geradezu so etwas wie einen Kult alles Ostjüdischen gab. Wir alle hatten die ersten beiden Bücher Martin Bubers über den Chassidismus gelesen, Die Erzählungen des Rabbi Nachman und Die Legenden des Baalschem, die wenige Jahre vorher erschienen waren und Buber sehr berühmt gemacht hatten. In jedem Juden aus Rußland, Polen, Galizien, der uns begegnete, sahen wir etwas wie eine Inkarnation des Baalschem und jedenfalls des unverstellten und uns faszinierenden jüdischen Wesens.“

Für Buber konnte die Wiedergeburt des Judentums nur die Rückkehr zu den alten, volkstümlichen Traditionen bedeuten. Vom Kulturzionismus ausgehend sah er den Chassidismus als den entscheidenden Punkt in dieser Wiedergeburt. Die Lehre des Chassidismus ließ sich für Buber in einem Satz zusammenfassen: „Gott ist in jedem Ding zu schauen und durch jede reine Tat zu erreichen.“ Doch die Bedeutung des Chassidismus für das Judentum lag nicht in seiner Lehre, die keine neuen geistigen Elemente enthielt, die Eigentümlichkeit und auch die Größe des Chassidismus sah Buber vielmehr in der chassidischen Lebenshaltung.

Buber wollte das chassidische System von Werten als Model auf die zionistische soziale und ideologische Erziehung übertragen. Dazu entnahm er den Chassidismus seinem historischen Kontext und behandelte ihn als Phänomen mit eigenen Gesetzen, wodurch er ein eigenes Wertesystem entwickelte, wenn auch auf Kosten der Historizität, wie ihm Kritiker später vorwerfen sollten. Aus dieser romantisch-emphatischen „Mythopoetik“ wurde eine eigenständige Lehre. Die Botschaft seiner chassidischen Geschichten sollte den abendländischen Menschen, der sich Religion und Ritualen entfremdet hatte, eine Anleitung für sein Menschsein geben. Buber sah sich selbst dazu berufen, die chassidische Lehre zu verkünden, auch wenn er eingestand, die Botschaft nicht im Sinne des Chassidismus zu verbreiten: „Ich spreche sie als solche gegen seinen Willen aus, weil die Welt ihrer heute sehr bedarf.“

Buber selbst war nicht von Beginn an offen für diese Botschaft. In seiner Kindheit verbrachte er jeden Sommer auf dem Gut seines Vaters in der Bukowina, manchmal nahm ihn dann der Vater mit in das Städtchen Sadagora, das der Sitz einer großen chassidischen Dynastie war. Hier kam der junge Buber erstmals in Kontakt mit Chassidim. Später erinnerte er sich an diese ersten Begegnungen: „Dies habe ich damals, als Kind, in dem schmutzigen Städtchen Sadagora von der „finsteren“ chassidischen Masse, der ich zusah, erfahren – wie ein Kind solche Dinge erfährt, nicht als Gedanken, sondern als Bild und Gefühl: daß es der Welt um den vollkommenen Menschen zu tun ist und daß der vollkommene Mensch kein anderer ist als der wahrhafte Helfer. (…) Der Palast des Rebbe, in seiner effektvollen Pracht, stieß mich ab. Das Bethaus der Chassidim mit seinen verzückten Betern befremdete mich. Aber als ich den Rebben durch die Reihen der Harrenden schreiten sah, empfand ich: „Führer“, und als ich die Chassidim mit der Thora tanzen sah, empfand ich: „Gemeinde“. Damals ging mir eine Ahnung davon auf, daß gemeinsame Ehrfurcht und gemeinsame Seelenfreude die Grundlage der echten Menschengemeinschaft sind.“ Anfangs sah Buber auf die Chassidim herab, wie auch Heinrich Graetz, „von der Höhe des vernunftbegabten Menschen aus. Ich sah nun nichts mehr von ihrem Leben, auch wenn ich dicht daran vorbeiging: weil ich nicht sehen wollte.“ Doch anders als Graetz, sei er nicht nur den Chassidim, sondern dem ganzen Judentum entfremdet gewesen, erst der Zionismus gab den ersten Anstoß zur Befreiung.

Buber bemerkte selbst zu seinen ersten chassidischen Erzählungen, daß er zu dieser Zeit die Nachdichtung noch nicht richtig verstand. Er habe noch nicht aufmerksam genug auf den volkstümlichen, lebendigen Ton gehorcht. Vielmehr seien die frühen Werke eine natürliche Reaktion auf die Haltung der Historiker des 19. Jahrhunderts gewesen, deren Position er widerlegen wollte. Buber konnte diese frühen Werke zwar bejahen, allerdings nicht die volle Erfüllung darin sehen. Erst im Jahrzehnt nach dem Erscheinen der ersten Erzählungen sei seine Autorenschaft entsprechend herangereift.

Buber hatte jedoch das Gefühl, daß die Erzählungen in der deutschen Fassung viel verloren hatten, „durch Übertragung ließ sich da Reinheit nicht wahren, geschweige denn gewinnen – ich mußte die Geschichten, die ich in mich aufgenommen hatte, aus mir heraus erzählen, wie ein rechter Maler die Linien des Modells in sich aufnimmt und aus dem formenden Gedächtnis das echte Bild zustande bringt.“ Buber erzählte die Geschichten also nicht nur nach, die Vermittlerrolle, die ihm bei dem Versuch, den Chassidismus dem westlichen Publikum näher zu bringen, zufiel, veranlaßte ihn, die Geschichten teilweise neu zu interpretieren. Buber war der Ansicht, daß man die tatsächlichen Merkmale der chassidischen Lehre nur in den Legenden finden könne. Keine wissenschaftliche Analyse könne finden, was der Chassidismus wirklich meint, dies sei eine sehr subjektive Sache des Lesers.

Den großen Teil theoretischer Literatur sparte Buber daher aus, diese wollte er gesondert zu einem Corpus Hasidicum zusammentragen. 1923 unterzeichneten Buber, Agnon und Bialik ein Memorandum, worin sie festlegten, daß ein solches Corpus Hasidicum gesammelt werden sollte; das Vorhaben wurde jedoch niemals beendet, die Pläne wurden vor allem durch einen Brand in Agnons Wohnung zerstört, der die bereits begonnene Sammlung vernichtete.

Der tiefe Eindruck, den Buber mit seinen ersten chassidischen Erzählungen hinterließ, entstand nicht zuletzt daraus, daß ein „studierter“ Mann wie er, der in enger Verbundenheit mit der deutschen Kultur und Literatur stand, ein Thema aufgriff, das bisher von der Wissenschaft ignoriert worden war. Martin Buber war ohne Zweifel derjenige, der am meisten dazu beigetragen hat, den Chassidismus auch dem breiten Publikum näherzubringen. Ein gewisse Tragik steckt dabei wohl in der Tatsache, daß Buber gerade bei dem nicht-jüdischen Publikum sehr bekannt wurde, das ihn als großen Repräsentanten des Judentums sah, obwohl er sich schließlich sein ganzes Leben gerade nicht dem „offiziellen“, sondern vielmehr dem „unterirdischen“ Judentum zugehörig fühlte.

Die Buber-Scholem-Kontroverse

Zwischen Gershom Scholem, dem großen Religionsgelehrten, der in Berlin geboren ab 1933 einen Lehrstuhl für jüdische Mystik an der Hebräischen Universität Jerusalem innehatte, und Buber brach in den 1960er Jahren eine Kontroverse aus, die auch nach deren Tod weitergeführt wurde und bis heute nicht gelöst scheint. Buber glaubte, wer den Chassidismus verstehen will, kann das nur durch die Legenden, weil nur darin die chassidische Lebensweise erlebbar wird. Da dies das einzig Entscheidende für Buber war, sah er die theoretischen Texte nur als Kommentar. Scholem vertrat die genaue Gegenposition. Die Kontroverse, die sich in Bubers letzten Lebensjahren zwischen ihm und Scholem, sowie dessen Schülerin Rivka Schatz-Uffenheimer, entfachte, drehte sich also vor allem um die Verwertbarkeit der chassidischen Geschichten und Legenden als geeignete Quellen und deren Relevanz für das Verständnis des chassidischen Denkens und somit um die Zulässigkeit von Bubers Methode im Allgemeinen.

In Scholems Aufsätzen zu Bubers Auffassung von Judentum und Chassidismus kristallisieren sich zwei Hauptkritikpunkte heraus, die auch Schatz-Uffenheimer vertrat. Einerseits schrieb Buber nicht als Historiker, das heißt, er führt keine Belege an. Er kombiniert Zitate, löst sie aus ihrem Kontext und erwähnt gewisse Elemente, wie beispielsweise die Magie im Chassidismus, überhaupt nicht. Gerade diese Selektion lastete Scholem, und später auch Schatz-Uffenheimer, Buber besonders schwer an. Bubers Auslegung stimme nicht mit den Quellen überein, er zeige nicht die chassidische Lehre, sondern vielmehr seine eigene Interpretation dieser Lehre. Dabei glätte er Widersprüche und Differenzen und trete nicht als bloßer Vermittler auf. „Um es kurz zu sagen: Indem Buber seine Wahl traf und ausließ, was mit deren Anforderungen in Konflikt geriet, beansprucht er eine Autorität, die wir ihm nicht einräumen können“, so Scholem. Außerdem befaßte sich Buber fast ausschließlich mit den chassidischen Legenden. Scholem merkte dazu sarkastisch an, die Absicht, den Chassidismus mit den Legenden zu erklären, wäre vergleichbar einem Versuch, den Katholizismus durch die schönsten Aussprüche der Heiligen zu erklären.

Buber bekannte sich zwar zu einer selektiven Arbeitsweise, betonte aber, sie sei objektiv, er würde auswählen, was gelebtes Leben und damit echter Chassidismus sei. Außerdem sei es nicht seine Absicht, eine historische Abhandlung über den Chassidismus zu schreiben. Buber stimmte der Ansicht zu, daß es sich bei seinen Werken nicht um historische Arbeiten handelte, jedoch nicht der Folgerung, die Scholem und Schatz-Uffenheimer aus dieser Erkenntnis zogen. Seine Bemühungen um den Chassidismus waren „nicht auf seine historische Darstellung oder seine analytische Untersuchung, sondern auf die Deutung seines Glaubensgehaltes und mehr noch seiner Glaubenshaltung aus.“ Buber war sich durchaus bewußt, daß er eine eigene Wertung anlegte, seiner Meinung nach jedoch „eine Wertung, die – daran hat mich in all der Zeit kein Zweifel angerührt – ihren Ursprung in dem unerschütterlichen Kernbestand der Werte hat. Seit ich zur Reife der Einsicht, des Einblicks gelangt bin, habe ich kein Sieb gehandhabt; ich war ein Sieb geworden.“ Buber wies auch den Vorwurf zurück, daß er seine Leser über die veränderte Interpretation der Erzählungen nicht in Kenntnis setzte: „Ich habe das Mal um Mal mit einer, wie mir scheint, hinreichenden Deutlichkeit ausgesprochen, wann immer ich in diesem Zusammenhang von mir zu reden hatte.“

Für Scholem war das allerdings nicht ausreichend, er versuchte auf Buber einzuwirken, damit dieser seinen Erzählungen detaillierte Quellenangaben zufüge: „Nur einmal, 1921, gelang es mir, als ich noch sehr jung war, Buber unter großem Drängen dazu zu bringen, seinem Buch „Der große Maggid und seine Nachfolge“ ein Quellenverzeichnis mitzugeben. Ich stellte ihm den Anreiz vor Augen, den es für ernste Leser seines Buches, die sich im Hebräischen auskennen, haben müßte, seine Geschichte mit den Orginalen zu vergleichen, ja daß sie doch eigentlich ein Anrecht auf solchen Vergleich hätten. Er versprach, es zu erwägen, und gab schließlich als Kompromiß der Erstausgabe des Buches ein Quellenverzeichnis mit, das, wie er mir schrieb, „separat in kleiner Auflage gedruckt und jedem Interessenten gratis übersandt“ werden würde. (…) Auch diese Konzession, die ihm so offensichtlich gegen den Strich ging, verschwand aus seinen späteren chassidischen Büchern und Auflagen, und erst 1957 ließ er sich wieder überreden, in der hebräischen Ausgabe seiner „Erzählungen der Chassidim“ wenigstens die Titel seiner Quellen anzugeben.“

Zusammenfassend urteilte Scholem: „Die Verdienste Bubers in seiner Präsentation chassidischer Legenden und Worte sind in der Tat sehr groß. (…)Die geistige Botschaft aber, die er in diesen Schriften in sie hineingelesen hat, ist allzu tief an Annahmen gebunden, die aus seiner eigenen Philosophie des religiösen Anarchismus und Existentialismus stammen und keine Wurzeln in den Texten selber haben. Zu viel ist in dieser Darstellung des Chassidismus ausgelassen, und was aufgenommen ist, ist mit sehr persönlichen Spekulationen überladen. Deren Charakter mag erhaben sein und das moderne Bewußtsein tief ansprechen. Wenn wir aber das wirkliche Phänomen des Chassidismus verstehen wollen, sowohl in seiner Größe wie in seinem Verfall (die in vieler Weise zusammenhängen), so werden wir wohl noch einmal von vorne beginnen müssen.“

Als Scholem sein „Major Trends in Jewish Mysticism“ publizierte, zeichnete sich diese Kontroverse noch nicht ab, Scholem stand noch unter starkem Einfluß Bubers. Erst einige Jahre später, nachdem er mehr zur kabbalistischen Begriffsgeschichte publiziert hatte, wandte er sich von Buber vollends ab und kam schließlich zu einer wesentlich differenzierteren Aussage als in „Major Trends in Jewish Mysticism“. Scholem befand, daß der Chassidismus durchaus eine neue mystische Doktrin enthält, trotz der Verwendung von kabbalistischen Begriffen. Der Vergleich von chassidischen theoretischen Texten mit älteren Texten der Kabbalah brachte Scholem zu dem Schluß, daß der Chassidismus eine späte, aber innovative Abzweigung der Kabbalah ist und daß die einzig brauchbaren Texte für den Historiker daher die theoretischen Texte und eben nicht die Legenden sind. Es bleibt jedoch die Tatsache, daß im Judentum niemals zuvor eine solche Menge von Legenden in einer relativ kurzen Zeitspanne geschrieben wurde. Nach entsprechenden Erklärungsversuchen wurde bisher fast nicht geforscht. Joseph Dan machte sich auf die Suche nach einer Antwort und stellte fest, daß tatsächlich keine chassidische Doktrin in den Legenden zu finden sei, was die Basis für eine vollkommene erzählerische Freiheit schuf, wie sie im Judentum bisher nicht möglich war. Bisher mußte für die Akzeptanz jeglicher Literatur immer ein doktrinaler Wert vorhanden sein, zum ersten Mal konnte jetzt eine Legende einfach nur des Erzählens halber bestehen.

Da Buber derjenige war, der dem breiten Publikum den Chassidismus näherbrachte, kam es zu einem Dilemma, das bis heute anhält. Der Chassidismus wird, auch in akademischen Kreisen, oft in „Buberschen Begriffen“ verstanden. Dabei ist wohl den allermeisten gar nicht bewußt, daß es sich dabei nicht um die historische Gestalt des Chassidismus handelt, sondern um eine sehr eigenwillige Interpretation. Scholem regte sich schrecklich über diese sog. Buberianer auf, die ohne eigenes Quellenstudium Vorträge hielten und Schriften zum Chassidismus veröffentlichten. In seinen Tagebucheinträgen findet sich folgender Bericht zu einem Vortrag: „Also: aus dem Zimmer erschollen Laute, der Mann redete offenbar über Chassidismus. Man vernahm Zitate über Zitate aus Buber in verdünntem Aufguß, und es wurde „gedeutet“. Die Bubersche Deutung des Chassidismus wurde gedeutet. (…) Man liest Buber, frißt ihn auf, eignet sich Buberdeutsch an und hält einen Vortrag über Chassidismus. Was man sonst nirgends wagen würde: ohne Quellenstudium zu reden vor einer Versammlung, beim Chassidismus tut man es. (…) Quellenstudium oder auch nur Studium der anderen Werke über Chassidismus und Mystik ist Unsinn, man redet ohne eine Ahnung von der Totalität der Dinge, die man beredet. (…) Ein Zionist hat Ehrfurcht zu haben, aber diese Menschen haben in ihrer Schamlosigkeit sogar die Ehrfurcht selber prostituiert, sich aus ihr ein bequemes Spiel der „Religiösität“ und Ausfüllung leerer Abende gemacht. (…) Eine solche ekelhafte Empfindung wie an diesem Abend habe ich noch nie gehabt.“

Trotz aller Kritik Scholems, war er sich durchaus bewußt, daß sein eigenes Werk nur durch die große Inspiration Bubers entstehen konnte und drückte daher auch seinen Dank immer wieder aus . Buber hatte den Anstoß für eine ganze Generation gegeben: „Wir alle sind in irgend einem Sinne seine Schüler.“ Die Kontroverse um den Chassidismus belastete die Beziehung der beiden Wissenschaftler jedoch nachhaltig und traf beide auch sehr persönlich. In einem Brief an Grete Schaeder, eine Literaturwissenschaftlerin und Herausgeberin von Buber-Briefen, schrieb Scholem: „Aber natürlich hat er mir nie verziehen, dass ich die Substanz seines Lebenswerkes in Frage zu stellen gedrängt wurde. Wie könnte es anders sein? Schließlich war ja der Schock, den Buber mir versetzt hat, durchaus nicht kleiner als der, den ich ihm zugefügt habe, und in diesem Zusammenhang muss ich sagen, daß die von Ihnen beklagte Schärfe meiner Kritik an seiner chassidischen Botschaft das Mildeste war was ich mir habe abringen können.“ Schaeder schrieb an Scholem, daß sie ihn zuerst nicht persönlich treffen wollte, „unter dem Eindruck Ihrer Chassidismus-Polemik gegen Buber, die mir in Ihrer Schärfe gegenüber dem uralten Mann unbegreiflich war, und ich erlebte überdies Bubers Trauer darüber, der mich einmal in großer Erregung fragte: ‚wie ist es möglich, daß er mich nicht versteht!‘ – er hat wohl gespürt, daß Ihre Zweifel nicht nur ein bestimmtes Problem betrafen, sondern im Grunde gegen das Zentrum seiner Persönlichkeit und seines Wirkens gerichtet waren.“

Buber und Scholem traten beide mit ihrem Lebenswerk für die Erneuerung des Judentums ein, nur benutzten sie unterschiedliche Wege, Buber war mit der Gegenwart, Scholem aber mit der Vergangenheit beschäftigt. Durch die Kontroverse wurde zwar die Gelehrtenwelt nachhaltig erschüttert, an Bubers Breitenwirkung sollte sich jedoch nichts ändern.

Jubiläumsausgabe von Martin Bubers „Erzählungen der Chassidim“
Grundlagentexte zum Zionismus: Martin Buber