Die Satirezeitschrift Charlie Hebdo erscheint wieder im Wochenrhythmus. Aber die Neubesetzung der Redaktionsstellen erweist sich als schwierig…
Von Bernhard Schmid
Jungle World v. 05.03.2015
Alle sitzen nicht in einem Boot, es gibt noch innenpolitische Gegner und Feinde. Diese Aussage illustrieren die Titelseiten der jüngsten beiden Ausgaben der französischen Wochenzeitung Charlie Hebdo, die am Mittwoch vergangener und am Mittwoch dieser Woche erschienen.
Nach mehrwöchiger Pause, während der die »Ausgabe der Überlebenden« – erschienen eine Woche nach dem mörderischen Attentat auf die Redaktion vom 7. Januar – in über sieben Millionen Exemplaren verkauft wurde, erschien die Satirezeitung erstmals wieder am 25. Februar. Seitdem liegen bis zur Stunde zwei Ausgaben vor. Die erste wurde in einer Auflage von zweieinhalb Millionen, die bisher jüngste in einer Auflage von anderthalb Millionen Exemplaren gedruckt. Vor dem zwölffachen Mord an zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Zeitung sowie zwei zum Personenschutz bei ihr abgestellten Polizisten hatte Charlie Hebdo zuletzt rund 25 000 Exemplare wöchentlich verkauft.
Doch deswegen will sich die Zeitung nicht mit allen und jedem lieb Kind machen, wie manche es erhofft und viele befürchtet hatten. Zwar rief die französische Regierung unter Staatspräsident François Hollande und Premierminister Manuel Valls in den Tagen nach dem Attentat und dem zwei Tage später erfolgten Angriff auf den koscheren Supermarkt Hyper Cacher mit fünf Toten ein Klima der »nationalen Einheit« aus. Charlie Hebdo hat allerdings nicht vor, zum Bettvorleger der Mächtigen und zum Ausdruck eines breiten Konsenses zu werden. Das belegt bereits das Titelbild ihrer ersten Ausgabe nach der mehrwöchigen Erscheinungspause: Ein kleiner Hund mit einer Charlie-Hebdo-Ausgabe im Maul wird von einer Hundemeute gehetzt, die unter anderem die Konterfeis von Marine Le Pen, Nicolas Sarkozy und einem islamistischen Terroristen mit Kalaschnikow trägt.
Im Blattinneren findet man Artikel zum islamistischen Terrorismus, etwa einen Beitrag von Jean-Yves Camus über das jihadistische Milieu in Dänemark nach den Anschlägen von Kopenhagen vom 14. Februar und ein Interview mit den Psychoanalytikern Gérard Bonnet und Malek Chebel über Jihadisten. Sich diesem Thema zu widmen war unvermeidlich, nachdem Charlie zum Angriffsziel für Jihadisten geworden war. Diese gingen besser organisiert vor, als zunächst bekannt geworden war: Wie die Ermittler inzwischen herausfanden, gab es am Morgen vor dem mörderischen Angriff auf die Zeitung einen SMS-Kontakt zwischen den beiden Brüdern Chérif und Saïd Kouachi, die den Anschlag ausführten, und Amedy Coulibaly, der zwei Tage darauf den koscheren Supermarkt angreifen sollte. Dies belegt, dass alle drei im Rahmen einer Gruppenstruktur handelten, einer salafistischen und jihadistischen Gruppe, und nicht autonom als »einsame Wölfe«.
In dieser Ausgabe von Charlie Hebdo findet man zudem diverse Beiträge zur extremen Rechten, sei es als Comic oder in Form von kürzeren Artikeln. Einer von ihnen weist das Unterstützungsangebot des neofaschistischen Parlamentsmitglieds Jacques Bompard aus Orange, der Charlie Hebdo nach den Attentaten geschrieben hatte, zurück. In mehreren Beiträgen wird zudem für eine Änderung der Wirtschaftspolitik in ganz Europa plädiert, einer davon ist ein Interview mit dem griechischen Wirtschaftsminister Yanis Varoufakis von Syriza. Nicht zuletzt befragt die Zeitung sich selbst in einem Comic über den »Ich bin Charlie«-Hype, der nach den Pariser Attentaten entstanden war. Man sieht Menschen in einem Supermarkt vor Konservendosen mit der Aufschrift »Ich bin Charlie«, eine Kirche mit »Ich bin Charlie«-Schriftzügen auf der Kanzel und der Christusfigur, »Ich bin Charlie« auf Hundebekleidung … Ein Mann mit einem Gebläse, der ebenfalls »Ich bin Charlie« bekundet, reinigt eine Straße von zahllosen, dort zurückgelassenen »Ich bin Charlie«-Flugblättern. Am Ende sieht man eine Redaktion, die von Charlie, unter Polizeischutz tagen. Die Sprechblase dazu, die zu mehreren Köpfen gleichzeitig führt, besagt: »Wer bin ich?«
Die Frage nach der eigenen Position inmitten einer aufgewühlten Landschaft, in der sich plötzlich alle möglichen Leute dazu bekennen, angeblich den »Geist von Charlie« zu unterstützen, ist tatsächlich aufgeworfen. Denn auch wenn Charlie Hebdo in diesen Tagen urplötzlich und unerwartet förmlich mit Geld überschüttet wurde, ist der Wiederaufbau der Redaktion nach der Ermordung von zehn Menschen schwierig.
Die Besetzung der Redaktionsstellen wird eine schwierige Aufgabe sein, auch weil die Angst vor neuen Anschlägen eine Rolle spielt. Und insbesondere an guten Zeichnern fehlt es heutzutage, anders als vor 20 oder 30 Jahren. Durch den Niedergang der Printmedien können nur noch wenige mit Arbeiten für Zeitungen ihren Lebensunterhalt verdienen, eine deutliche Mehrheit der guten Zeichner wandte sich eher der Comic-Branche zu. Mit dem Algerier Ali Dilem, der in seinem Land seit anderthalb Jahrzehnten Präsidenten, Generäle und Islamisten mit derselben Respektlosigkeit zeichnet und beim Publikum beliebt, im Land aber bedroht ist – er lebt deswegen die überwiegende Zeit des Jahres in Frankreich –, konnte jedoch eine Edelfeder gewonnen werden.
Doch die Angst, die durch die Anschläge hervorgerufen wurde, herrscht mancherorts noch immer. So wurde vergangene Woche das geplante Festival der Pressezeichner im Memorial von Caen – einer Gedenkstätte für die Résistance in der Normandie – zunächst aus Sicherheitsgründen abgesagt. Nunmehr soll es doch stattfinden, wurde aber auf Oktober verschoben. Dass Charlie Hebdo auch keine Hetze gegen Muslime betreibt, wie der Zeitung bislang aus manchen linksradikalen und antirassistischen Kreisen vorgeworfen wird, hat nun die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde belegt; nachdem sie alle Titel der Satirezeitung über ein Jahrzehnt hinweg ausgewertet hatte, kam sie vorige Woche zu dem Schluss: »Nein, Charlie Hebdo ist nicht vom Islam besessen.« Satire über Muslime oder Islamisten mache eindeutig einen geringeren Teil aus als die über politische Figuren oder auch über Katholiken.
Das gleiche lässt sich aber nicht über die öffentliche Meinung generell behaupten.
Die Stimmung nach den Anschlägen war günstig für die Rassisten, und das Geschäft wurde ihnen durch mystifizierende Umfragen auch großer Meinungsforschungsinstitute erleichtert. Eines von ihnen befragte Ende Januar Französinnen und Franzosen unter Verweis auf die Attentate, ob aus ihrer Sicht »die muslimische Gemeinschaft eine Bedrohung für die französische Identität« darstelle. Eine Frage, die bereits zwei rein ideologische Unterstellungen enthielt: Es gebe eine homogene »muslimische Gemeinschaft« und eine ebensolche »nationale Identität«. Wer dumme Fragen stellt, erhält auch dumme Antworten: 40 Prozent antworteten auf die Frage mit Ja, in der Wählerschaft des Front National (FN) waren es 86 Prozent. Letzterer befindet sich derzeit im Aufwind, nachdem er in den ersten Tagen nach dem Anschlag auf Charlie Hebdo noch Schwierigkeiten hatte. Umfragen zu den Ende März anstehenden Bezirksparlamentswahlen in ganz Frankreich prognostizieren ihm derzeit zwischen 29 und 33 Prozent der Stimmen und einen Platz als stärkste Partei.
Charlie Hebdo lässt keinen Zweifel am bedenklichen Charakter der neuerlichen innenpolitischen Entwicklung nach rechts. Ihr neuestes Titelblatt vom Mittwoch dieser Woche steht unter der Überschrift: »Der Front National macht keine Angst mehr.« Man sieht kahlköpfige Faschisten mit einem Knüppel in der einen Hand, denen Engelsflügel gewachsen sind und von denen einer in der linken Hand eine Harfe hält. Ein Ausdruck der Befürchtung, dass einige Franzosen einmal mehr den Harfentönen folgen könnten.