Gedichte von Getrud Seehaus…
SPÄTE VERWANDTSCHAFT
Heute hab‘ ich meine Zwillingsschwester gefunden
Anna Toczynski
geboren am 2. Dezember 1934 wie ich
Am 14. September 1942
als ich mit meiner Puppe spielte, die Katja hieß
ist sie im Konvoi Nummer 32
vom Bahnhof Le Bourget/Drancy
nach Auschwitz gefahren.
Und so hat das Herr H. mit Telex
signiert von Herrn R.
an Herrn E. gemeldet
der ordentlich war:
447 UNBESTIMMTER HERKUNFT, 220 POLEN,
85 TÜRKEN, 73 UNGARN, 55 RUSSEN, 40 RUMÄNEN,
37 FRANZOSEN, 19 DEUTSCHE, 14 HOLLÄNDER,
8 JUGOSLAVEN, 7 ÖSTERREICHER, 7 STAATENLOSE,
6 TSCHECHEN, 5 LITAUER, 4 BELGIER, 2 SLOWAKEN,
1 SAARLÄNDER, 1 LETTE,
ZUSAMMEN 1.031.
Bei Anna waren Simon, Raijza und Mendel ihre Geschwister
und Chana ihre Mutter
Anna Toczynski meine Zwillingsschwester
ist sofort in die Gaskammer gekommen
vom Zug aus
am 16. September 1942
58 Männer und Frauen kamen nicht gleich ins Gas
Sie wurden mit einer Nummer bedacht:
von 63898 bis 63953 dieMänner
von 19772 bis 19820 die Frauen
Im September 1942
das weiß ich von Fotos
war manchmal schönes Wetter
Vielleicht auch am Sechzehnten
Im September 1942 hab‘ ich auf der Schaukel gesessen
und mit meiner Puppe gespielt, die Katja hieß
am 16. September 1942
Anna Toczynskis Puppe
so denk‘ ich es mir
hieß Malka
Auf der Liste nach Auschwitz ist keine Puppe verzeichnet.
METAMORPHOSE
Plötzlich, ich schreibe gerade,
sitzt auf dem Teppich zu meinen Füßen
Anna, meine Zwillingsschwester,
schneeglöckchenbleich.
„Wie du gewachsen bist,“ sagt sie zu mir,
und ich greif‘ ihre Hand.
So sitzen wir auf dem Teppich,
herausgelöst aus der Zeit
wie ein Scherenschnitt aus dem Papier
und wollen unsere Umrandung nicht mehr finden.
Schwankend in der Umarmung
hält sie mich – halt‘ ich sie,
und ich schrumpfe und schrunpfe,
bis ich Anna erreichen kann,
und wir weinen.
VORSCHLAG
Anna, meine Kleine, meine Schwester,
wollen wir zusammen Kirschen essen?
Wollen wir unser Kleider tauschen,
deins gegen meins?
Wollen wir aus dem Land
der Ledermäntel und Stiefel
auf einer Feder davonfliegen
ins Land der kleinen Mädchen
und uns in Zuckerwatte hüllen?
Anna, meine Zwillingsschwester,
wollen wir unsere Namen tauschen,
Gertrud gegen Anna,
Anna gegen Gertrud?
Anna, meine Süße, meine Stumme,
wollen wir einander Küsse geben
gegen die Grausamkeit?
Wollen wir uns unterhaken
und uns davonschleichen
in die Ritzen der Zeit?
BRIEF AN ANNA
Liebe Anna, ich habe so Heimweh nach dir,
ich backe dir oft einen Apfelkuchen,
und dann geh‘ ich dich überall suchen,
um dir zu sagen:
der Tisch ist gedeckt.
Liebe Anna, ich träume so oft von dir,
und ich möchte dir vieles schenken.
Ich erlaube niemandem, dich zukränken,
ich bin jetzt alt genug,
dich zu schützen.
Liebe Anna, kannst du nicht einmal kommen?
Wir werden dann unseren Eltern sagen:
man darf uns nicht auseinanderjagen,
denn Schwestern
gehören zusammen.
Liebe Anna, du weißt es vielleicht noch nicht:
wir beide machen den Tag wieder heil,
du bist von mir, ich bin von dir ein Teil,
und wir bleiben
für immer zusammen.
Aus: Opa und Oma hatten kein Fahrrad, © Gertrud Seehaus