In der jüdischen Gemeinde im Pariser Vorort Creteil, die von einem Überfall auf ein junges Paar erschüttert wurde, versuchen die Menschen ihre Ängste auf unterschiedliche Weise zu bannen…
Von Danny Leder, Paris
„Manchmal ist es schon wichtig, über Vorfälle schlicht zu reden“, sagt der jüdische Jugendbetreuer und Pädagogik-Experte Bernard Zanzouri: „Kürzlich hatte ich eine Runde mit einem Dutzend Kinder vor mir. Als ich fragte, wer schon mal, weil Jude, Stress hatte, haben alle aufgezeigt und erzählt. Einer sagte, er habe, als er mit einer Kippa auf dem Kopf unterwegs war, einen Faustschlag kassiert. Ein anderer berichtete, er sei als dreckiger Jude („Sale Juif“) beschimpft worden und so weiter. Das war nicht lustig, aber sich darüber in einer Gruppe auszutauschen, ist schon erleichternd.“
An diesem Abend diskutiert Zanzouri mit Eltern und Lehrern zum Thema „Die Probleme der jüdischen Halbwüchsigen“ in einem Nebenraum der Haupt-Synagoge von Creteil. Dieser Vorort im südlichen Pariser Einzugsgebiet beherbergt eine der größten jüdischen Gemeinden Frankreichs. Mit einem Anteil von etwa 50 Prozent gemeinnützigen Wohnungen gilt die Stadt für französische Verhältnisse als beispielhaft für ihre „soziale Durchmischung“. Ab den 1960er Jahren siedelten sich Juden aus Nordafrika, vornehmlich Tunesien und Algerien, dort an: Jedes neu errichtete Viertel bekam auch gleich seine Synagoge, von denen es inzwischen immerhin 17 in Creteil gibt.
Obwohl auch in Creteil Vandalismus, Jugendkriminalität und Drogendeal in den letzten Jahren zunahmen, blieb der Alltag im Vergleich mit anderen Vororten eher angenehm. Dafür sorgten die vielfach gut instand gehaltenen Neubausiedlungen mit ihren vier- bis sechsstöckigen Häusern, zahlreiche Nahversorger, ein künstlich angelegter Erholungs-See und die bequeme Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel Richtung Paris. Im „Quartier du Port“ (Hafenviertel), entlang des Seeufers, hatten sich unter Arkaden und auf kleinen, verkehrsfreien Rundplätzen koschere Schnell-Imbisse, Restaurants und Bäckereien etabliert – in trauter Eintracht mit allgemeinen Supermärkten, wobei Juden und Nichtjuden abwechselnd in beiderlei Lokalen und Geschäften einkehren und einkaufen.
Konfessionsübergreifend agieren auch jüdische Bettlerinnen im „Quartier du Port“, die sowohl vor der koscheren Bäckerei und als auch vor dem allgemeinen Supermarkt alle Kunden, darunter Kopftuch-tragende Musliminnen, ansprechen. Die soziale Krise ist natürlich auch hier spürbar, und sei es durch die Reim-Aufschrift in einem koscheren Fastfood-Lokal: „Pas de Credit, restons bons Amis“ (Sinngemäß: Kein Essen auf Kredit, bleiben wir gute Freunde).
Alles in Allem fühlten sich die Juden in Creteil bisher besser aufgehoben als in den unruhigeren und ärmeren Trabantenstädten des nördlichen Pariser Vororte-Gürtels. Die Ereignisse des vergangenen Sommers in Sarcelles (*), der Trabantenstadt nördlich von Paris mit den meisten Juden, wurden selbstverständlich auch in Creteil mit Besorgnis registriert (nicht zuletzt weil etliche jüdische Familien aus Creteil Verwandte und Freunde in Sarcelles haben). In Sarcelles hatten im Juli, im Anschluss an eine pro-palästinensische Demonstration in Zusammenhang mit dem Krieg in Gaza, hunderte Jugendliche versucht die örtliche Haupt-Synagoge anzugreifen. Nachdem die mit Eisenstangen und Baumaterial ausgerüstete Menge an einem Polizeikordon gescheitert war, hatte sie sich in die Straßen, in denen zahlreiche Juden wohnen, ergossen. Ein koscherer Supermarkt, eine Apotheke und andere Geschäfte, die im Besitz von Juden vermutet wurden, ein Stammkaffe irakischer Christen (Chaldo-Assyrer), Amtsfassaden und kommunale Einrichtungen wurden verwüstet. In Creteil freilich wurden diese Vorfälle als ein eher entferntes Unglück wahrgenommen.
„Juden bringen ihr Geld nicht auf die Bank“
Aber Anfang Dezember wurde in Creteil eine Wohnung, in einem schlichten Neubau des „Quartier du Port“, zum Schauplatz einer antijüdischen Gewalttat sondergleichen. Der Überfall, bei dem eine junge Frau vergewaltigt wurde, rüttelte Frankreichs Öffentlichkeit auf, die Staatsführung reagierte heftig. Drei vermummte Männer waren mit Schusswaffen im Anschlag in eine Wohnung eingedrungen und hatten den anwesenden 21 jährigen Jonathan und seine 19 jährige Freundin, Marie, gefesselt und misshandelt, damit sie verraten, wo Geld versteckt sei. „Ich habe ihnen gesagt, wir haben unser Geld auf der Bank, aber sie antworteten: Juden bringen ihr Geld nicht auf die Bank, “ erzählte später Jonathan. Marie wurde in das Schlafzimmer gezerrt und sexuell genötigt. Bevor sie die Wohnung verließen, zerstörten die Täter jüdische Kultgegenstände.
Der Vater von Jonathan war in den Tagen davor ausgespäht worden. Er war den Tätern aufgefallen, weil er, wie sie sich ausdrückten, „das Zeug auf dem Kopf“ (gemeint war eine Kippa) ständig trug. Jonathan, der vormals als Berufsgendarm in einer Kleinstadt in der Normandie stationiert war (dort hatte er auch Marie kennengelernt), arbeitete zuletzt im Textilgeschäft, das sein Vater im Shopingcenter von Creteil führte.
Schon wenige Stunden nach dem Überfall wurden zwei Täter festgenommen. Alle drei direkt Beteiligten wurden identifiziert, zwei sofort festgenommen (der dritte konnte flüchten, wurde aber Ende Dezember doch noch verhaftet). Einer der Beteiligten stammte aus einer nordafrikanischen Familie, zwei aus Familien aus Schwarzafrika. Alle wohnten nicht weit von ihren Opfern entfernt und waren bereits wegen diverser Delikte, darunter Gewalttaten, polizeibekannt.
Die Kripo konnte sie so schnell ausfindig machen, weil einer ihrer Freunde am selben Tag eben erst im örtlichen Kommissariat wegen einer vorhergehenden antijüdischen Gewalttat einvernommen worden war. Anfang November hatte dieser junge Mann ebenfalls in Creteil an einem Überfall auf einen 70 jährigen Juden teilgenommen. Später war er bei der Auskundschaftung der Wohnung von Jonathan und Marie aufgefallen (er hatte in den Tagen vor dem Überfall in der Wohnung angeläutet, sich als neuer Nachbar ausgegeben und um Salz gebeten).
Auch dem jüdischen Rentner wurde die Wohnungstür eingedrückt, dann wurde er verprügelt. Gestohlen wurde bei dem alten Mann nichts, in der bescheidenen Mietwohnung gab es auch nicht viel zum Mitnehmen. In TV-Reportagen erzählte der 70 Jährige in einem, mit arabischem Akzent gefärbten Französisch, wie ihn die jungen Eindringlinge geschlagen hatten. Dabei zeigte er auf die an seiner Eingangstür angebrachte „Mesusah“ (den jüdischen Haussegen). Diese Mesusah dürfte auch die Aufmerksamkeit der Aggressoren auf ihr erstes Opfer gelenkt haben.
Diese Mischung aus Einfalt und Gewalttätigkeit ist bei den allermeisten Übergriffen gegen Juden am Werk. Wobei es sich bei den Tätern, wie in Creteil, fast ausschließlich um muslimische Jugendliche handelt, die sich an der Schnittstelle zwischen Kriminalität und radikalem Islam bewegen. Was als „wachsender Antisemitismus in Frankreich“ heute registriert wird, kommt nicht aus dem rechten Eck oder der Anhängerschaft der Nationalistin Marine Le Pen, die sich ihrerseits für den Schutz der Juden gegen die Islamisten gelegentlich stark macht.
Nach dem Überfall von Creteil erklärte Präsident Francois Hollande den „Kampf gegen den Antisemitismus“ zur „nationalen Angelegenheit“. Hollande und Premierminister Manuel Valls hatten sich schon vorher mehrfach und mit besonderem Engagement gegen die antijüdische Welle erhoben. Das gilt auch für die Spitzen der bürgerlichen Opposition.
Die französischen Medien schenken der Bedrohung der Juden erhöhte Aufmerksamkeit. Polizei und Justiz reagieren prompt und scharf.
Oberrabbiner, Bischof, Imam „gegen Krebsgeschwür Antisemitismus“
Eine Woche nach dem Überfall auf Marie und Jonathan unterzeichneten der Oberrabbiner, der katholische Bischof und der Imam der Großmoschee von Creteil einen gemeinsamen Aufruf zu einer Kundgebung vor Ort, im „Quartier du Port“, gegen „das Krebsgeschwür des Antisemitismus“. Rund 1500 Personen folgten dem Aufruf, überwiegend Juden aus Creteil. An der Kundgebung beteiligten sich aber auch kleinere Abordnungen lokaler Kultur- und Sozialzentren und der übrigen Religionsgemeinschaften: Muslime, Katholiken, Protestanten und evangelikale Christen (deren Anhängerschaft vermehrt aus schwarzen Franzosen aus der Antillen und Franko-Afrikanern besteht.)
Neben jüdischen Persönlichkeiten ergriffen Innenminister Bernard Cazeneuve, der Bürgermeister von Creteil, eine Sprecherin einer nordafrikanischen Berber-Bewegung und der 21 jährige Schauspieler Ahmed Dramé das Wort. Dramé, der aus einer muslimisch-afrikanischen Familie stammt, ist Darsteller und Mitautor des soeben in Frankreichs Kinos angelaufenen Films „Les Héritiers“. Der Streifen, der auf der realen Geschichte der Darsteller beruht, schildert, wie eine Gymnasialklasse in Creteil, Schritt für Schritt, die Deportation der Juden unter der Nazi-Besatzung im Unterricht aufarbeitet.
Allerdings gab es am Kundgebungstag in Creteil, einem kalten Sonntag-Morgen, kaum unbeteiligte Zuschauer – sieht man einmal von den Polizisten ab, die in Booten auf dem See in Sichtweite der Versammelten patrouillierten. Mir fielen nur zwei – gegensätzliche – Reaktionen außenstehender Personen in den Wohnbauten, die den Platz im Halbkreis säumten, auf. Auf einem Balkon sah man ein junges europäisch-stämmiges Paar. Die junge Frau grölte ein paar Mal „Halleluja“ sowie die Wortfolge: „Und die Katholiken“. Mit ihrem Geschrei, das aber im Lärm unterging und von den Kundgebungsteilnehmern kaum wahrgenommen wurde, reagierte sie auf die ersten Reden, in denen die wachsende Zahl der Übergriffe gegen Juden beklagt wurde. Ihr Gefährte wurde ausfällig, sie zog ihn dann vorsichtshalber ins Innere der Wohnung und schlug die Fenster zu. Auf der gegenüberliegenden Seite verharrte eine vierköpfige Gruppe junger Schwarzer auf einem Balkon, in Anoraks gehüllt, während der gesamten, fast dreistündigen Kundgebungsdauer und spendete den Reden Applaus.
Neid auf Anteilnahme für Juden
Das Gegröle des jungen weißen Paares, war ebenso dummdreist wie symptomatisch: es gibt Personen, die den Juden auch noch die öffentliche Anteilnahme neiden, die sie im Fall von Übergriffen erhalten. Teile der französischen Mehrheitsbevölkerung sehen in jeder empörten Stellungnahme eines Regierungspolitikers, in der der Begriff „Antisemitismus“ vorkommt, und in jedem ausführlichen Medienbericht über eine Gewalttat, in der Judenhass eine Rolle spielt, eine Bevorzugung der Juden. Ihr Vorwurf lautet: Den nicht-jüdischen Leidtragenden von Gewalttaten würde keine vergleichbare Aufmerksamkeit geschenkt – dabei beleuchten Medien kriminelle Übergriffen unentwegt, Politiker sind immer öfter zur Stelle. Unsicherheit durch Jugendgewalt und Kriminalität im Migrantenmilieu sind seit Jahren ein zentrales politisches Thema.
So verquer dieser Vorwurf auch sein mag, hat er doch dafür gesorgt, dass ein Teil der jüdischen Opfer von Übergriffen Schweigen bewahren, um Aufsehen zu vermeiden. Gleichzeitig müssen sich die Juden auch gegen neidvolle Vorwürfe wehren, die wiederum in den muslimischen Teilen der Bevölkerung und bei einigen Anti-Rassismus-Aktivisten geläufig sind: nämlich wiederum dass Staatsführung und Medien auf antijüdische Taten zu heftig reagieren würden, während sie anti-muslimische, anti-arabische und anti-schwarze Übergriffe vernachlässigten – ja schlimmer: da sich die Juden über Gewalttaten seitens muslimischer Jugendlicher in den Vorstädten beschweren, würden sie der Stigmatisierung der Muslime und der Vorstadtjugend Vorschub leisten.
Tatsächlich aber ist es so, dass in den urbanen Zonen Frankreichs, da wo die meisten Juden und Muslime in greifbarer Nähe leben, die Gewalttaten gegen Juden ausschließlich von jungen Muslimen ausgehen. Die Juden sind da bei weitem nicht die einzigen, aber besonders exponierte Opfer junger Gewalttäter. Allein die statistischen Daten der Behörden über die Gesamtzahl der als „rassistisch“ eingestuften Vorfälle diverser Art zeigen, dass über die Hälfte dieser Taten gegen Juden gerichtet sind, also eine Bevölkerungssegment, das weniger als ein Prozent französischen Gesamteinwohnerzahl darstellt. Für dieses Opfer-Täter-Verhältnis ist schon das zahlenmäßige Kräfteverhältnis unter den jüngeren Generationen in etlichen volkstümlichen Vierteln ausschlaggebend, also eine örtliche muslimische Mehrheit und vergleichsweise verschwindenden Minderheit an jüdischen Jugendlichen. Jeder in diesen Vierteln halbwegs orientierte Zeitgenosse weiß das, aber viele tun so, als hätte das keine Implikationen. Allerdings ist es ein legitimes Anliegen, hervor zu streichen, dass die antijüdischen Gewalttäter, so wie die Dschihadisten, nicht repräsentativ für die Mehrheit der Muslime sind.
Diese jungen Täter bewegen sich in einer brachialen Subkultur, die jeglicher Kontrolle entgleitet. So kann der Alltag für Juden in Migrantenvierteln zum Spießrutenlauf werden: mal werden Passanten, die als jüdische Gläubige erkenntlich sind, bedroht, mal wird ein Rabbiner vor seiner Synagoge abgepasst und bespuckt, mal prasseln schwere Gegenstände auf den Hof eines jüdischen Kindergartens, der sich am Fuß von mehrstöckigen Wohnanlagen befindet – die Kinder können nicht mehr im Freien spielen.
Spätestens seit der franko-algerische Al-Kaida-Anhänger Mohammed Merah im März 2012 in einer jüdischen Schule in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer aus nächster Nähe erschoss, ist den Juden klar geworden, dass ihre Gelegenheitspeiniger aus der Nachbarschaft zu Attentätern mutieren können.
„Früher galten Israel-Auswanderer als Spinner“
Bernard Zanzouri, der als Jugendbetreuer immer wieder jüdische Gemeinden abklapperte, erinnert sich: „Drei der Opfer von Toulouse kannte ich persönlich. Noch ein Jahr vor ihrem Tod saß ich mit Jonathan Sandler (dem erschossenen Lehrer) zusammen und spielte mit seinen zwei kleinen Kindern (dem drei jährigen Gabriel und dem sechs jährigen Aryeh). Es kann jeden von uns treffen“. Zanzouri beschreibt auch die Klima-Veränderung in den jüdischen Gemeinden: „Es gibt einen unglaublichen Andrang bei Informationsveranstaltungen über die Auswanderung nach Israel. Früher galten Israel-Auswanderer oft als Spinner.“
Zanzouri weiß wovon er spricht. Der heute 51 jährige Pädagoge, der in Tunesien geboren wurde und in Frankreich aufwuchs, wanderte vor 30 Jahren nach Israel aus. Dort wurde er inzwischen zum mehrfachen Großvater. In Frankreich hält er sich nur mehr gelegentlich auf: „Es ist schon seltsam“, sinniert Zanzouri: „Jetzt wenden sich in Frankreich jüdische Eltern an Organisationen (die bei der Auswanderung nach Israel behilflich sind) und sagen, nehmt unsere Kinder und schafft sie im Voraus nach Israel, damit wenigstens sie sich in einer ruhigen Situation befinden. Eine Menge Leute übersiedelten sogar während des Kriegs in Gaza, als Raketen auf Israel niedergingen.“
7000 Juden sollen 2014 nach Israel übersiedelt sein – doppelt so viel als in den Jahren zuvor. Israelische Stellen rechnen für 2015 sogar mit 10.000 französischen Einwanderern in Israel. Allerdings dürfte die Dunkelziffer der Rückkehrer bei etwa einem Drittel liegen. Etliche Juden migrieren auch in die USA, Kanada oder Großbritannien, so wie viele weitere Franzosen, und namentlich junge Muslime, die vor der anhaltenden Wirtschaftsflaute und Jobkrise in Frankreich fliehen. Außerdem muss die Zahl der Auswanderer mit der Gesamtzahl der französischen Juden, rund eine halbe Million, verglichen werden.
Demnach ist Frankreich das europäische Land mit der größten jüdischen, aber auch muslimischen Bevölkerung (rund fünf Millionen). Die Mehrheit beider Bevölkerungsgruppen stammt familiengeschichtlich aus Nordafrika (bei den Muslimen kommt ein bedeutender Anteil aber auch aus Schwarzafrika). Die Juden tragen auch vielfach arabische oder berberische Familiennamen. In ihrer Selbstwahrnehmung fällt das für die Juden allerdings selten ins Gewicht, weil sich ihre Familien-Geschichte in den letzten hundert Jahren meistens als Emanzipation aus ihrer Randstellung in der islamischen Gesellschaft und Aufbruch in die europäische – französische oder zionistisch-jüdische – Moderne vollzog. Aber auch in der Außenwahrnehmung der Juden, vor allem durch die jüngeren Generationen aus nordafrikanischen muslimischen Familien, spielen die orientalischen Familiennamen (und die entsprechende Familiengeschichte im Maghreb) der Juden nur ganz selten eine Rolle. Viele junge Muslime oder Frisch-Einwanderer aus arabischen Ländern haben von der zwei Jahrtausende alten Präsenz der Juden im Maghreb keine Ahnung, und ihr Kenntnisstand über die Juden beschränkt sich auf ein neo-religiös gefärbtes, zeitloses Feindbild.
Jugendbetreuer Zanzouri: „Ängste kanalisieren“
Die ganze Bandbreite jüdischer Reaktionen auf die zunehmende Bedrohung wird in dem eingangs erwähnten Gespräch in der Synagoge in Creitel sichtbar. Eine der anwesenden Lehrerinnen einer jüdischen Schule unterbricht Zanzouri, weil ihr sein weitausholenden Vortrag über pubertierende Jugendliche zu wenig Handlungsanweisungen zu bieten scheint: „Wir haben nicht ein, zwei Kinder, mit denen wir uns beschäftigen müssen, sondern 380 in unserer Schule, die verwirrt und unruhig sind.“ Zanzouri beschwichtigt. Er meint, man sollte die jeweiligen Klassen veranlassen, einen Brief an den Innenminister aufzusetzen oder gemeinsam eine jüdische Familie zu besuchen, die zu Schaden kam. „Gemeinsam aktiv werden ist die beste Therapie. Das wissen wir aus der Zeit der Schoah. Diejenigen, die irgendetwas unternahmen, konnten manchmal die Dinge persönlich besser bewältigen.“ Es käme auch auf die Erwachsenen an, diese müssten sich entscheiden – sinngemäß zwischen Frankreich und Israel: „ Die Kinder suchen Halt bei den Erwachsenen, sie beobachten sie genau, auch wenn es nicht den Anschein hat, und wenn sie deren Unentschlossenheit und Unsicherheit spüren, dann wollen sie selber das Heft übernehmen und neigen zu radikalen Lösungen.“
Wie zur Bestätigung, erzählt eine Mutter von ihrer 15 jährigen Tochter, die sofort auswandern möchte und davon nicht mehr abzubringen ist. Das Mädchen setze ihre gesamte Familie, die übrigen Geschwister und die Eltern, unter Dauerdruck: „Sie frägt uns ständig, worauf wir noch warten, um nach Israel zu gehen. Sie ist bedroht worden und hat seither Angst“. Zanzouri rät: „Was auch immer sie entscheiden, ihre Tochter muss erst lernen, ihre Angst zu relativieren und zu kanalisieren“. Einem Familienvater ist diese Antwort zu vage: „Wir haben keine Zukunft in Europa. Jetzt gibt es Familien, die mitten im Schuljahr ihrer Kinder, die Zelte hier abbrechen, um nach Israel zu übersiedeln.“
Die Repräsentantin einer Kette jüdischer Privatschulen wirbt dafür, Kinder aus öffentlichen Schulen abzuziehen, um sie vor Mobbing zu schützen. Aber die stellvertretende Vorsitzende der jüdischen Gemeinde von Creteil, Sandra Guez, widerspricht: „Mein Sohn war ursprünglich in einer jüdischen Schule, besucht aber jetzt auf eigenen Wunsch eine öffentliche Schule. Lehrer und Schulfreunde zeigen großes Interesse für unsere Traditionen. Wir haben seine Klasse in die Synagoge eingeladen und alle sind gekommen, Muslime, Christen, Atheisten. Die öffentliche Schule ist besser als ihr Ruf“. Und als Anwesende beklagen, an der Kundgebung in Creteil gegen den Antisemitismus hätten sich nur Juden beteiligt, hält Sandra Guez wiederum dagegen: „Das stimmt nicht. Es waren Muslime und Christen da, befreundete Protestanten sind mit einem eigenen Bus gekommen“.
(*) Zu den Ereignissen von Sarcelles und der antijüdischen Welle vom Sommer 2014 in Frankreich siehe: Durcheinander an der Seine, Dem brachialen Judenhass eines Teils der muslimischen Jugend und der Normalisierungsstrategie von Marine Le Pen hält die französische Zivilgesellschaft nur schwer stand.
Ich kann nur hoffen, dass Sandra Guez und ihr Sohn keine böse Überraschung erleben.
Die französische Zivilgesellschaft scheint nicht besorgt zu sein, wenn Juden sich gezwungen sehen Frankreich zu verlassen.
Und diejenigen französischen Linken, die nicht müde wurden zu erklären, dass man doch nichts gegen Juden habe, nur gegen die Politik des Staates Israel, bleiben auch still, denn niemand will beschuldigt werden „islamophob“ zu sein. Und weil sie vielleicht denken, diese Menschen mit muslimisch-migrantischen Hintergrund sind so frustriert, dass man sie verstehen muss?
Kommentarfunktion ist geschlossen.