„Wir sterben alle so unterschiedlich, wie wir leben“

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„Auch Ärzten soll erlaubt sein, ihren Patienten zu helfen“, so der Originalton des prominenten Bundestagsabgeordneten Peter Hintze, im Zivilberuf Pfarrer. Wie kommt es, dass eine solche Selbstverständlichkeit zur Maxime der Politik erhoben werden soll? Die Antwort darauf kann wie in einer talmudischen Diskussion durch die Gegenposition gefunden werden. Diese ruft nach einer Strafbarkeit von ärztlich assistierten Tötungen. Nicht etwa vom Justizminister, sondern vom Gesundheitsminister. Und beiden Seiten geht es –natürlich- um „Sterben in Würde“…

Dr. Eyal Arnon und Rabbiner Andrew Steiman
Zuerst erschienen in: Jüdische Allgemeine v. 13.11.2014

Bei allem Respekt: keine Partei, kein Ministerium, kein Parlament kann definieren, was „Sterben in Würde“ ist. Statt über Suizidhilfe zu debattieren, wäre es hilfreicher, sich hier Gedanken über das Leben zu machen. Schließlich sterben wir alle so unterschiedlich, wie wir leben. Und wir werden auch geboren, ohne dass ein Arzt unbedingt dabei sein muss. Es mag freilich sicherer sein, fraglos empfehlenswert. Das ist beim Sterben nicht anders. Und die Rolle des Arztes sollte dabei auch nicht anders sein: sie dient dem Leben, wie eben in der ganzen Zeit zwischen Geburt und Tod. Der Tod ist dann auch kein medizinisches Versagen, wie zuweilen unterstellt wird. Medizin hat eben ihre Grenzen. Diese drohen nun auf makabre Weise politisch verschoben zu werden.

Die jetzige Debatte hat also eine ernste Schieflage, wenn der Tod im Fokus steht, und darum, ob ein Arzt „Suizidhilfe“ leisten soll oder nicht. Zugleich wird das Thema der unnötigen ärztlichen Eingriffe in der letzten Lebensphase tabuisiert. Beides ist ineinander verfangen: die lebensverlängernden wie die lebensverkürzenden Maßnahmen. Sie sagen für sich nichts über die Lebensqualität aus.

Über lebensverlängernde Maßnahmen wird zum einen wohl deswegen nicht groß debattiert, weil wir alle lieber verdrängen (obwohl oder gerade weil es ja jeden treffen kann), aber auch aus einem anderen Grund: an diesen Maßnahmen wird viel von vielen verdient. Umso mehr wird nun über lebensverkürzende Maßnahmen debattiert.

Diese Schieflage macht auch die Palliativmedizin uninteressant. Tatsächlich aber verbessert sie nicht nur die Lebensqualität von unheilbar Kranken, sie reduziert auch die explodierenden Kosten im Gesundheitswesen. Eigentlich müsste also die Palliativmedizin ins öffentliche Bewusstsein rücken, und nicht der Suizid die Diskussion bestimmen.

Unsere Gesellschaft redet lieber über Prominente, die schwerkrank ihren eigenen Tod herbeiführen. Das ist verständlich, weil solcher Voyeurismus die eigene Zerbrechlichkeit relativiert, zugleich aber dazu führen könnte, es den Prominenten nachzutun. Wie in der Werbung. Auch sie vermittelt zusehends ein Lebensgefühl statt nur ein Produkt. Dagegen ist nichts einzuwenden; der Konsument soll das Gefühl erwerben, wie ein Prominenter zu leben, wenn er nur das entsprechende Produkt kauft. Aber warum dann auch wie ein Prominenter sterben?

„Gebt uns die Sterbenden“, ruft daher verzweifelt Kardinal Marx in die Debatte, als Sprecher der Bischofskonferenz. „Gebt uns die Lebenden“ müsste da jeder zurückrufen. Jeder! Wir müssen uns alle fragen, wie wir leben wollen – genau das macht eine Gesellschaft aus; nicht, wie wir sterben wollen.

Ein Sterbender ist in erster Linie auch ein Lebender. Selbst in einem Zustand, der als Geßißah bezeichnet wird, wenn der Tod unmittelbar bevorsteht, ist ein Mensch am Leben. Solange ein Mensch lebt, hängt seine Würde von seiner Lebensqualität ab – nicht von seinem Tod. Es gibt keine Alternative zum Leben, der Tod schon gar nicht; ejn Brejrah.  Es gilt, zu jedem Zeitpunkt im Leben, also auch in der letzten Phase, ein Höchstmaß an Lebensqualität zu sichern. Das ist in aller Kürze der Standpunkt des Judentums.

Statt Lebensverlängerung oder –verkürzung geht es also um Lebensqualität. Sie bestimmt unsere Würde, auch und gerade im Sterben.

Ein Lebender lebt durch seine Erwartungen an das Leben – selbst im Sterben, als Goßeß. Wünsche, Ängste, Hoffnungen sind am Lebensende so diffus wie das Leben selbst. Diese Erkenntnis ist keine Selbstverständlichkeit. Wäre sie es, würde sie im Fokus der Diskussion um Selbstbestimmung in der letzten Lebensphase stehen, und nicht die Strafbarkeit des „assistierten Suizid“ oder das damit verbundene Recht, den Zeitpunkt für den eigenen Tod bestimmen zu können. Davon hängt nicht unsere Autonomie als Menschen ab; im Gegenteil. Die Vorstellung, ein solches Recht erhebt die Autonomie des Menschen, ist schlicht Aberglaube und damit aus Sicht des Judentums mit Götzendienst gleichzusetzen.

Statt über die Sinnhaftigkeit oder Strafbarkeit von „ärztlich assistiertem“ Freitod (wie „frei“ ist „Freitod“?), sollte sich der Gesetzgeber lieber damit auseinandersetzen, Rahmenbedingungen zu schaffen, um den Menschen die berechtigte Angst vor Pflegebedürftigkeit zu nehmen. Diese Angst ist real, und sie geht uns alle an: wir sind irgendwann die Alten und Kranken, vor denen wir uns selbst in jüngeren Jahren gewarnt haben.

Was bedeuten uns die Alten und Kranken in unserer Gesellschaft; was bedeuten wir uns selbst? Diesen Fragen müssen wir uns stellen statt der Frage  nach einem selbstbestimmten Recht auf den eigenen Tod und wer dabei straffrei sekundieren darf. Nach jüdischer Tradition ist das ohnehin keine Frage, denn jedes Herbeiführen des Todes ist schlicht unvereinbar mit unserem Glauben. Das Judentum bejaht das Leben, und alles, was mit dem Leben einhergeht. Genau darum geht es in der Torah: die Befreiung aus ägyptischer Sklaverei war nicht zuletzt auch die Befreiung aus einer Kultur des Todes, wie sie im alten Ägypten mit seinem Totenkult eben praktiziert wurde. Als Gegenmodell zum Totenkult sollte das Judentum Ägypten hinter sich lassen und vorangehen mit dem Vorbild einer Religion des Lebens. Dafür mussten unsere Vorfahren durch die Wüste. Das Gelobte Land ist hinter dieser Wüste – auch und gerade im übertragenen Sinn. Dort wird zwar auch gestorben, aber nicht so wie in Ägypten oder in der Wüste. Das versteht jeder Jude.

Lebensqualität ist nicht vom Tod abhängig, sondern vom Leben – und zwar in jeder Phase des Lebens; auch im Alter oder in unheilbarer Krankheit, selbst als Goßeß (wenn der Tod unmittelbar bevorsteht). Dennoch wird in der Medizin auch vieles getan, was mit Leben und Lebensqualität nichts zu tun hat! Gerade in der letzten Phase des Lebens. Unterbleiben diese unnötigen Eingriffe, liegt nicht ein Herbeiführen des Todes vor – im Gegenteil, wie die Praxis oft zeigt. Der Zeitpunkt wird lediglich hinausgezögert, der Sterbende leidet unnötig, und seine Würde damit auch. Im Umkehrschluss meinen dann viele Menschen, dass ihre Würde deswegen darauf ankommt, selbstbestimmt den Zeitpunkt zu wählen, den sie für ihren Tod festlegen wollen. Tatsächlich sind beide Ansätze aus Sicht des Judentums völlig falsch, denn beide haben den Tod, und nicht das Leben im Fokus. Genauso falsch sind dann auch medizinische Interventionen, die auf Grund solcher Ansätze vorgenommen werden.

Nimmt man das Leben in den Fokus, so stellen sich ganz andere Fragen: wie hat der Todkranke gelebt? Welche Werte haben sein Leben bestimmt? Was will er hinterlassen? Wie will er Abschied nehmen? Was ist ihm wichtig? Wer ist ihm wichtig? – Fragen, die eben das Leben betreffen, die sich nur mit dem Betroffenen und seinem Umfeld klären lassen. Das nimmt eben Zeit in Anspruch. Diese Zeit sollte im Fokus stehen – statt den Fokus auf den Zeitpunkt des Todes zu lenken oder auf das Recht, diesen herbeiführen zu dürfen oder nicht. Es ist die Zeit vor dem Tod, der hier aufgewertet gehört, nicht der Todeszeitpunkt.

Wir als Arzt und Seelsorger erleben zusammen viel, wenn wir uns bei Todkranken Zeit nehmen. Wir lernen viel von ihnen. Nicht zuletzt damit stehen sie im Leben, leisten sie selbst in der letzten Lebensphase unbezahlbare Dienste für uns alle. Sie sind es, die uns überzeugt haben, in der Budge-Stiftung ein Pflegekonzept von Alters- und Palliativmedizin mit den Leitplanken des Judentums zu verknüpfen. Das Ergebnis ist eine Medizin, die hört, bevor sie interveniert: Schma Israel!

Die Autoren sind ein Palliativmediziner und ein Rabbiner, die zusammen im Alten- und Pflegeheim der Budge-Stiftung in Frankfurt ein eigenes Palliativkonzept für die letzte Lebensphase umsetzen.